Serdar Sen, Cumhuriyet Kültürünün Olusum Sürecinde Bir Ideolojik Aygit Olarak Silahli Kuvvetler ve Modernizm (Modernismus und die Streitkräfte als ein ideologischer Apparat im Entstehungsprozess der Kultur der Republik), Sarmal Verlag, Istanbul, 1996
Es lässt sich nicht wirklich behaupten, dass in der Türkei der Militarismus im allgemeinen und die Armee im besonderen wirkliche Forschungsthemen der sozialen Wissenschaften sind. Es gibt nur sehr wenige Studien zu Armee und Militarismus und bei diesen wenigen fällt auf, dass sie meist einer kritischen Perspektive entbehren. Entweder werden historische Daten einfach nur zusammengefügt oder die offizielle Meinung wird reproduziert. Dabei sind zwei Phänomene unübersehbar: Die bedeutende Rolle, die die Armee in der osmanisch-türkischen Modernisierung (ge)spielt (hat) und die Anfälligkeit der türkischen Politik gegenüber militaristischen Einflussnahmen und Interventionen. Vor diesem Hintergrund ist das geringe Interesse der sozialen Wissenschaften erklärungsbedürftig.
Da die sozialen Wissenschaften vom Nationalstaat selbst eingeführt wurden, besteht bis heute eine ideologische Verbindung zwischen den Sozialwissenschaften und dem Staat. Die zentrale Achse dieser Verbindung ist das Verständnis, dass es das wichtigste Ziel für die türkische Gesellschaft ist, sich zu verwestlichen und zu modernisieren. Diese prowestlich/modernistische Ideologie ist nach der Republiksgründung die gemeinsame ideologische Basis zwischen den intellektuellen Eliten und den meist aus dem Militär stammenden Gründern und Führern geworden.
Auf Grundlage der ideologischen Gemeinsamkeit halten viele Intellektuelle die bestimmende Rolle der Armee und die autoritären staatlichen Massnahmen für legitim. Langsam entrückten so alle Probleme, die mit der Armee zusammenhängen, in einen Raum, der jenseits des kritisch erfassbaren Spielraums der sozialen Wissenschaften liegt. Es setzte eine Unfähigkeit ein, sich mit dem Militarismus auseinander zu setzen.
Wenn wir uns erlauben, noch einen Schritt weiter zu gehen, dann können wir behaupten, dass die türkischen Intellektuellen und die Gesellschaft besonders in diesem Punkt im Einklang stehen. Zwischen der Unfähigkeit sich mit Militarismus auseinander zu setzen und der ideologischen Rechtfertigung der Armee innerhalb der Gesellschaft, besteht eine reale Parallelität.
Serdar Sens Buch „Die Streitkräfte und der Modernismus“ gebührt m.E. eine herausragende Stellung unter den wenigen Studien zur Armee. Mit der Thematisierung der tieferen Wurzeln der gesellschaftlichen Legitimation der Armee stellt dieses Buch eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Sens kritische Frage lässt sich wie folgt formulieren: Wie kommt es, dass in der Türkei, obwohl es drei Militärputsche gab, die jedes mal die Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit verschlechterten, die Legitimation der Türkischen Streitkräfte nach diesen Putschen stets angestiegen ist?
Die Frage auf diese Weise zu stellen, ist m.E. aus zwei Gründen wichtig: Erstens entsteht die Möglichkeit, die Armee nicht nur als einen Verteidigungs- oder Repressionsapparat zu thematisieren, sondern auch als den Träger einer bestimmten Ideologie, die innerhalb der Gesellschaft legitimiert wird. Zweitens eröffnet diese Frage den Blick auf die Beziehungen zwischen Armee und Gesellschaft, die damit analysiert werden können. Wir erlangen die Möglichkeit sowohl ein besseres Verständnis davon zu entwickeln, was es mit der Armee auf sich hat, als auch mit einer Gesellschaft, welche die Armee als die ‚vertrauenswürdigste Institution‘ ansieht. Sen schreibt zum Militärputsch vom 12. September 1980, dass die Unterstützung der Massen nicht nur mit dem „Erfolg der Bemühungen die Bevölkerung zu täuschen“ erklärt werden kann. „Wenn die Täuschung auch erfolgreich ist, muss das kulturelle Potential, dass diese Täuschung ermöglicht, wahrgenommen werden.“ (S. 27)
„Die Streitkräfte und der Modernismus“ ist primär der Versuch zu durchleuchten, in welchen Prozessen und unter welchen Bedingungen ein kulturelles Potential in der Gesellschaft entsteht, das es zulässt, getäuscht und daher einfacher regiert zu werden. Sen betont die Rolle der Armee – zunächst in ihrer Eigenschaft als Repressionsorgan – die sie als ideologischer Apparat in der Formung des neuen Regimes, des neuen Menschenbildes, des neuen Gesellschaftsmodels, kurz der modernen republikanischen Kultur spielte.
Legen wir dies etwas genauer dar. Das Modernisierungsprojekt der Republik ruht auf drei Säulen. Auf der politischen Ebene ist das ‚der unteilbare Nationalstaat‘, auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene ist das ‚die laizistische und nationale Identität‘ und auf ökonomischer Ebene ist das ‚die Industrialisierung und der Aufbau‘. Um dieses Projekt verwirklichen zu können, war es nötig, einen neuen Menschentypus zu schaffen, der sich als Teil der türkischen Nation begreift, der sich mit dem Staat der Nation identifiziert und der sich nicht zuletzt für kapitalistische Produktionsstrukturen und städtische Beziehungsformen eignet. Allerdings waren die Mechanismen die Gesellschaft in einen Modernisierungsprozess einzubinden sehr schwach. Die ländliche Bevölkerung stellte die erdrückende Mehrheit dar, die osmanisch-islamische Tradition bestimmte die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Industrie und die für sie erforderlichen Strukturen waren unterentwickelt und die Zahl der Alphabeten war verschwindend gering. Diese Ausgangssituation hat die Armee als eine relativ moderne Institution, die unter der Kontrolle der Kemalisten stand, zu der zentralen Figur im Aufbau der modernen Kultur werden lassen.
Um die Aufbau- und Erziehungsfunktion der Armee zu erfüllen war die effektivste Massnahme, die Wehrpflicht einzuführen. Insbesondere bei den jungen Männern vom Land, die zum ersten Mal aus dem Dorf heraus in die Städte kamen, führte das zu einer Erschütterung ihrer Lebenswelt. Mit Schreib- und Leseunterricht und beruflicher Fortbildung wurden die jungen Männer zu ‚qualifizierten Arbeitskräften‘ ausgebildet, die für den ‚ökonomischen Aufbau‘ unentbehrlich waren. Die im Militäralltag erlernte Disziplin bereitete die jungen Männer auf die kapitalistischen Produktionsweisen vor. Mit Sens Worten:
„Während der Kampf der Armee einerseits die Lebenswelten erschütterte, erschaffte er andererseits den für den kapitalistischen Produktionsprozess geeigneten Menschen. Im kapitalistischen System wurden Menschen benötigt, die in Werkstätten und Fabriken zu Maschinen werden, nicht rebellieren und sich dem langweiligen Produktionsprozessen fügen. In ihrer eigenen hierarchisch-autoritären Struktur erschafft die Armee genau diesen Menschen. In der Produktion wird die Position des Vorgesetzten vom Chef, Vorarbeiter u.a. eingenommen. Es lässt sich ohne weiteres sagen, dass der ideologische Kampf, der über die Armee geführt wurde, wichtige Auswirkungen auf die Formung der Kultur hatte. Die türkische Arbeiterklasse wurde entsprechend geformt und weist ernsthafte Schwierigkeiten auf, einen organisierten Kampf zu führen.“ (S. 106)
Die Armee als einen ideologischen Apparat zu nutzen, die Gesellschaft zu modernisieren, hat zwei dauerhafte Auswirkungen entfaltet. Ahmet Insel (1) beschreibt eine Auswirkung als den Aufbau eines „etatistischen Sozialen“. Die Armee hat dazu beigetragen, das Regime und den Staat zu legitimieren. Sie hat die Staatsideologie mittels Wehrpflicht an den männlichen Teil der Bevölkerung direkt vermittelt und damit die Formung einer etatistisch-nationalistischen Kultur vorangetrieben. Zweitens „wurden Eigenschaften der Streitkräfte, wie Hierarchie und Autoritätshörigkeit in die neu geschaffene Kultur integriert“ (S. 52) Denn Eigenschaften von Apparaten, die die Ordnung reproduzieren, haben dauerhafte Auswirkungen auf die hegemoniale Kultur. „Die Auswirkungen des repressiven und hierarchischen Charakters der militärischen Organisationsstrukturen lassen sich in der neuen Kultur und ihren Beziehungsformen deutlich wiedererkennen. Dies ist ein wichtiger Grund für die Akzeptanz, die die Bevölkerung der Armee entgegen bringt.“ (S. 29)
Sens Buch erklärt anhand einer soliden Perspektive und mit einer Fülle von überzeugenden Daten, worauf die gesellschaftliche Legitimation der Armee beruht und welche Rolle sie in der Entwicklung der Kultur der modernen (türkischen) Republik gespielt hat. Das Buch lässt aber die wichtige Frage unbeantwortet‘ wie die Armee dazu in die Lage versetzt wurde und warum sie gewillt war, diese Rolle zu übernehmen. Zweifellos hat der Autor, in Hinblick auf die Ära, auf die er seine Studie begrenzt hat, diese Frage nicht zu beantworten. Ich denke aber, dass diese Frage wichtig ist, um die Geschichte des Militarismus in der Türkei und seine Verbindung zur Entwicklung des modernen Staates in aller Komplexität offenzulegen.
Falls wir die Entwicklung der Armee im Kontext der Modernisierungsbewegung des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich betrachten, werden wir m.E. nicht nur auf die – so oft beschworene – ‚technisch und ideologisch modernste Institution‘ des Reiches stossen. Wir werden auch bemerken, dass der Modernisierungsprozess die Armee seit Anfang des 19. Jahrhunderts mit der praktischen Erfahrung ausgestattet hat, wie das gesellschaftliche Gewebe zu zersetzen und an die Anforderungen eines modernen Staates anzupassen ist. Eine entsprechende Studie würde unseren Horizont über die erforderlichen Ausgangsbedingungen des modernen Staates in der Türkei und der Entwicklung des raison d‘etat im Modernisierungsprozess erweitern.
(1) Kolumnist der Tageszeitung Radikal