Im Dezember 1999 war es einer großen außerparlamentarischen Protestbewegung gelungen, erfolgreich die Tagung der Welthandelsorganisation (WTO) im US-amerikanischen Seattle zu blockieren und somit den Millionen Opfern von Neoliberalismus und Imperialismus eine Stimme zu geben (s. GWR 245).
Anderthalb Jahre später: Die Protestaktionen gegen die „Herren der Welt“ im Sommer 2001 in Barcelona, in Göteborg und in Genua werden mit einer Entfesselung staatlicher Gewalt beantwortet.
Barcelona
Neun Monate nach den heftigen Demonstrationen und Aktionen gegen die Tagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Prag (s. GWR 253), feierten Tausende am 22. Juni 2001 in Barcelona, weil die ursprünglich dort geplante Tagung von IWF und Weltbank aus Angst vor Protesten abgesagt worden war (s. GWR 260). Am Ende des friedlichen Demonstrationszuges begannen „einige Polizeibeamte in Zivil zu randalieren, um ihren uniformierten Kollegen einen Vorwand zum Dreinschlagen zu liefern.“ (Susan George, Vizepräsidentin von Attac France, in: Le Monde Diplomatique, 10.8.2001)
Göteborg
Wenige Tage zuvor, beim Gipfeltreffen der 15 Staatschefs der Europäischen Union (EU) am 16. Juni im schwedischen Göteborg hatten Polizisten scharf auf DemonstrantInnen geschossen. Ein durch eine Kugel schwer verletzter 19jähriger Abiturient aus Bayern wurde anschließend zu einer Gefängnisstrafe ohne Bewährung verurteilt, während der Polizeibeamte, der auf ihn geschossen hatte, bisher nicht belangt wird.
Genua
Die Konsequenz, die nun offenbar die Polizei beim Gipfel der acht mächtigsten Staaten (G 8) in Genua aus den Ereignissen in Göteborg gezogen hat, lautet: Auf die „Chaoten“ darf geschossen werden. Ein 20jähriger Carabinieri tötete am 21. Juli in Genua den 23jährigen Studenten Carlo Giuliani durch zwei gezielte Schüsse in Kopf und Brust, 600 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, hunderte willkürlich verhaftet. GegnerInnen des globalisierten Kapitalismus wurden von Polizisten und paramilitärischen Carabinieri misshandelt, gefoltert und gedemütigt. Mit bis dahin für viele Menschen in einem demokratischen Land wie Italien unvorstellbarer Brutalität ging die Staatsgewalt gegen die überwiegend gewaltfreien 200.000 bis 300.000 DemonstrantInnen vor.
Dass dies zum Teil in aller Öffentlichkeit geschehen konnte, deutet darauf hin, dass die Täter nicht erwarten, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es lässt den Schluss zu, dass diese Aktionen von ganz oben, vom italienischen Ministerpräsidenten und Medienmogul Berlusconi, seinem Vize Fini von der „post“-faschistischen Alleanza Nazionale und dem Innenminister Scajola (Forza Italia) unterstützt wurden. Darauf deutet auch ein in der La Repubblica veröffentlichter Bericht eines beteiligten Polizisten hin. Als einige seiner Kollegen sich darüber besorgt zeigten, dass bei ihrem gewalttätigen Vorgehen die Verfassung verletzt wurde, sei ihnen gesagt worden, sie müssten sich keine Sorgen machen: „Wir sind geschützt.“
Nach Einschätzung von Susan George bestand „das machiavellistische Kalkül der Regierung Berlusconi“ darin, die Verwüstung ganzer Stadtviertel der ligurischen Hauptstadt billigend in Kauf zu nehmen, „um dann die Verantwortung den hunderten gewaltfreien Organisationen zuzuschieben, die sich zum Genua Social Forum versammelt hatten.“ Der Versuch sei gescheitert, weil sich „genügend Belege für die Komplizenschaft der Polizei mit den Gruppen des ‚Schwarzen Blocks‘ fanden.“ (s. Artikel, S. 6).
Starhawk, eine feministisch-pazifistische Vertreterin der unabhängigen US-amerikanischen Umweltbewegung, beschreibt ihre Schwierigkeiten, sich einen Überblick über die Ereignisse in Genua zu verschaffen:
„Wer mittendrin war, konnte kaum verstehen, was vor sich ging. So erschien plötzlich der ‚Schwarze Block‘ der Radikalen und Gewaltbereiten mitten auf einem Platz, auf dem eigentlich eine friedliche Demonstration stattfinden sollte. Die Polizei schlug auf demonstrierende Frauen und Pazifisten ein und sprühte Tränengas, während der ‚Schwarze Block‘ unbehelligt verschwand. Als wir gerade im Versammlungszentrum zu Mittag aßen, flogen plötzlich Tränengasbehälter in den Speiseraum und draußen, keine 150 Meter weiter, begann eine offene Schlacht. Gefangene berichteten, so lange misshandelt worden zu sein, bis sie einwilligten ‚Viva il Duce!‘ zu rufen. Die Polizei gab als Grund für den Angriff auf die Schule die vermutete Anwesenheit von Gewalttätern des ‚Schwarzen Blocks‘ an – sie hat deren wirkliches Camp jedoch nicht gestürmt, in der Nacht des Angriffs hatten die meisten die Stadt ohnehin schon verlassen.“ (Der Rabe Ralf, Aug./Sept. 2001)
Evil Empire
Die Machtansprüche der Herrschenden werden nicht erst seit Genua mit Gewalt durchgesetzt. Täglich verhungern zahllose Opfer der globalen Gewaltherrschaft des Kapitalismus.
Täglich werden Kriege geführt, täglich gehen die Herrschenden über Leichen, wenn es darum geht die eigene Macht und den Profit der multinationalen Konzerne zu steigern.
„Springer hat mitgeschossen“, hieß es 1968 nach dem Attentat eines verhetzten Bild-Lesers auf den linksradikalen Studenten Rudi Dutschke. Und auch beim „Gipfel der Gewalt“ (stern) in Genua 2001 haben die Medien mitgeschossen. Schon im Vorfeld des G-8-Gipfels wurde gebetsmühlenartig Anarchismus mit Chaos und Terror gleichgesetzt, etwa im „seriösen“ US-amerikanischen Nachrichtenmagazin TIME: „GLOBAL ANARCHY: Organized Chaos. As anti-globalization protests become more militant, TIME investigates who`s behind the violence in Europe.” (TIME, Ausgabe vom 23. Juli 2001)
GlobalisierungsgegnerInnen wurden und werden von Presse und Politikern als „reisende Chaoten“ diffamiert. Bundeskanzler Schröder stand nicht allein, als er – kurz vor der Erschießung Giulianos – sagte, den „Gewalttätern“ müsse „mit aller Deutlichkeit, auch mit aller Härte von Justiz und Polizei begegnet werden.“ Für Schröder, Bush, Berlusconi, Putin und Co. zählt ein Menschenleben nicht viel, wenn es gilt die „wichtigen“ Gipfelgeschäfte abzuwickeln und gegen Protest durchzusetzen. Kein G-8-Politiker war bereit das Treffen wegen des „Vorfalls“ abzubrechen. Die Bild-Zeitung jubelte: „Der erste Tote“, ein „Chaot“.
Täglich werden wir durch die Massenmedien eingelullt und belogen. Etwa wenn es heißt, der G-8-Gipfel diene dem Kampf gegen Hunger und Weltarmut. Tatsächlich werden die ärmsten Länder dieser Welt immer ärmer. Sie werden erdrückt durch ein ungerechtes Welthandelssystem, durch einen Schuldenberg, durch die Auflagen von IWF und Weltbank, durch die weitere Aushöhlung der ohnehin schon maroden Gesundheits- und Bildungssysteme. Die Länder der sogenannten 3. Welt müssen mehr Geld für die Schuldentilgung aufbringen, als sie an „Entwicklungshilfe“ von den Industriestaaten erhalten. Letztere sind durch Ausbeutung des Trikont, durch Kolonialismus, den Raubbau an Mensch und Natur so reich geworden. Trotzdem bezeichnen sich absurderweise gerade die schlimmsten Ausbeuterstaaten als „Geberländer“. Eine Verhöhnung der Opfer und zugleich eine Verdrehung der Realität.
Die gewalttätigen Aktionen der italienischen Staatsorgane verdeutlichen, dass die Herrschenden nicht zwischen gewalttätigem und gewaltfreiem Widerstand differenzieren, wenn er erfolgreich ist. Der Staat beantwortet effektiven Widerstand meist mit Gewalt.
„Die Demonstranten, die im kolonialen Indien friedlich gegen die Salzsteuer protestierten, wurden niedergeprügelt, weil sie das Gewaltverhältnis zwischen Briten und Indern antasteten. Martin Luther King wurde ermordet, weil er das Gewaltverhältnis zwischen Weißen und Schwarzen in den USA antastete. Gewaltfreiheit schützt nicht vor der Gewalttätigkeit des Staates. Aus dieser Tatsache die Schlussfolgerung zu ziehen, dass Gewalt ‚das einzig Wahre‘ ist, ist politisch und moralisch falsch. Politisch, weil es die Tatsache übersieht, dass jede Situation konkret ist und nach ihren eigenen Bewertungen und Lösungen verlangt; moralisch, weil der religiöse Glaube an und die rücksichtslose Ausübung von Gewalt das Kennzeichen des Gegners ist“, so M. Hammerschmitt in seinem Beitrag zur indymedia-„Gewaltdebatte“ im Internet.
Wie weiter?
ver.di und andere Gewerkschaften, Pax Christi, BUND, KommunistInnen, Eine Weltgruppen, antirassistische Initiativen, Anti-Atom-AktivistInnen, AntimilitaristInnen, Feministinnen, Autonome… Das Spektrum der neuen sozialen Bewegung die sich in Genua artikulierte, reicht von Gruppen wie Attac, die u.a. eine weltweite Umsatzsteuer auf Spekulationen (Tobin-Steuer) fordern – eine reformistische Forderung, die „auch das grüne Programm schmücken sollte“ (Claudia Roth/Die Grünen) – bis hin zu GraswurzelrevolutionärInnen, AnarchosyndikalistInnen u.a. SozialrevolutionärInnen. Die Heterogenität ist eine Stärke dieser außerparlamentarischen Kraft, ohne diese Vielfalt wäre eine solche Massenmobilisierung gegen den Kapitalismus nicht denkbar. Eine Spaltung wäre der von den Regierenden erhoffte Anfang vom Ende dieser Bewegung. Auch angesichts der unterschiedslos gegen alle GlobalisierungsgegnerInnen gerichteten Staatsgewalt, ist es wichtig, den Blick auf die Gemeinsamkeiten zu richten, die alle linken Gruppen vereinen.
Starhawk betont:
„Jetzt sollten wir unsere Differenzen beiseite lassen und solidarisch zusammenarbeiten.
Wenn dieser Grad der Repression unbeantwortet bleibt, kann in Zukunft niemand mehr sicher sein – nicht der friedlichste Demonstrant und nicht die mildeste Reformgruppe. Wenn wir jetzt nicht reagieren, wo der politische Raum noch da ist, um aktiv zu werden, wird dieser Raum bald verschwunden sein.
Machen wir weiter mit der Organisation und Mobilisierung für das nächste Mal. Unsere Angst ist ihre mächtigste Waffe. Die Tatsache, dass sie Zuflucht zu faschistischer Gewalt nehmen mussten, zeigt, dass wir eine ernstzunehmende Bedrohung für sie sind.
Wir brauchen bessere Vorbereitung und bessere Netzwerke.“
Gewaltfreie, direkte, phantasievolle Aktionen können politisieren und etwas bewirken. Dafür finden sich in Geschichte und Gegenwart zahllose Beispiele, von Gandhi über Seattle bis X-tausendmal quer.
Wenn, wie in Genua, Demonstranten (?) Brandsätze in Banken werfen, über denen Menschen wohnen, dann ist das nicht sozialrevolutionär, sondern eine Spiegelung der staatlichen Gewalt, die den Tod von Menschen in Kauf nimmt. Ob es sich hierbei um die Taten von verkleideten Nazis oder staatlichen agent provocateurs oder eben doch von sich selbst als „links“ einschätzenden Leuten handelt, bleibt ungeklärt. Ist es richtig, solche Aktionen zu tolerieren, um nicht wieder die vom Staat gewünschte, Spaltpilz fördernde Diskussion „Gewaltfreie gegen Gewalttäter“ zu entfachen?
Die Antwort auf die Geschehnisse in Genua ist nicht unbedeutend, wenn es darum geht, eine erneute Eskalation der Gewalt bei künftigen Großereignissen zu verhindern. Unser Ziel, eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, sollte sich auch in unseren Widerstandsformen widerspiegeln.
Anmerkungen
Infos und Diskussionen (im Internet) zu Genua und Globalisierung:
de.indymedia.org
Anarchist Black Cross (ABC)
Poste Restante
3401 Dudelange
Luxembourg
abcluxembourg@hushmail.com
www.freespeech.org/abcluxembourg
http://groups.yahoo.com/group/abc-d
Attac
Artilleriestr. 6
27283 Verden
Tel.: 04231/957-591
Fax: 04231/957-594
info@attac-netzwerk.de
www.attac-netzwerk.de
Termine
12. - 14.10.
Kongress BUKO 24 in München.
Thema: Von Köln über Nizza und Göteborg nach München gehen. Podien und AGs zu den Themen: EU, Globalisierung, Widerstand und staatliche Gewalt nach Genua.
Infos: www.buko24.de
BUKO - Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen
Nernstweg 32-34
22765 Hamburg
Tel.: 040-39-3156
Fax: 040-39-07520
www.epo.de/buko
29./30.9.
IWF-/WB-Gipfel in Washington
9.-13.11.
WTO-Ministerkonferenz in Doha/Katar
26. - 27.11.
Protestaktionen gegen den geplanten NATO-Gipfel in Neapel
14.12.
EU-Gipfel in Brüssel
Januar 2002
Porto Alegre (Brasilien): Weltsozialforum zur Formulierung von Alternativen zur neoliberalen Globalisierung