(GWR-MS) Anlässlich des zweiten Todestages von Paul Wulf (s. GWR 243 u. 245) fand an seinem Grab auf dem Münsteraner Zentralfriedhof am 3. Juli 2001 eine Gedächtnisveranstaltung statt. Ca. 40 FreundInnen, Angehörige und GenossInnen hörten dort die folgende Rede von Robert Krieg:
Vor einigen Wochen las ich während einer Reise in der FAZ einen Artikel von Hubert Markl. Hubert Markl ist Präsident der Max-Planck- Gesellschaft. Die Max-Planck-Gesellschaft ist die historische Nachfolgerin jener Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die der rassistischen Erbgesundheitspolitik der Nationalsozialisten einen „wissenschaftlichen Anstrich“ gab. Anläßlich eines Symposions zur Rolle der deutschen Wissenschaft im Nationalsozialismus entschuldigte sich der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft bei den wenigen überlebenden Opfern der sogenannten Zwillingsforschung für die Verbrechen seiner Vorgänger. Unter anderem nannte er den Leiter der Zwillingsforschung, Prof. Dr. Otmar von Verschuer. Einer seiner Schüler war der KZ-Arzt Josef Mengele, dessen Rolle ich hier nicht vorzustellen brauche. Nach Auffassung von Hubert Markl kann heute als gesichert gelten, daß von Verschuer nicht nur von den Menschenversuchen in Auschwitz wußte, sondern auch aktiv darauf Einfluß genommen hat. Weder er noch sein Schüler sind jemals für ihre Untaten bestraft worden. Mengele konnte mit Hilfe der katholischen Kirche, über die sogenannte Rattenlinie, nach Südamerika entkommen. Von Verschuer wurde nach dem Krieg Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Münster. Ein wohlangesehener und hochgeehrter Bürger dieser Stadt, der seine wissenschaftliche Arbeit darin begründet sah, „unser angestammtes Rassenerbgut, das die biologische Voraussetzung für deutsche Kultur war, vor Entartung zu bewahren.“
Was hat das alles mit Paul Wulf zu tun? Sicherlich wäre er einer der Ersten gewesen, die sich über das neudeutsche Unwort „Deutsche Leitkultur“ empört hätten. Allzu deutlich ist die ideengeschichtliche Anleihe an den biologischen Determinismus der Nationalsozialisten, die sich nicht mehr mit der Unbedarftheit der neuen Politikergeneration der CDU entschuldigen läßt. Was mich während der Lektüre des FAZ-Artikels so betroffen gemacht hat, war meine Erinnerung an Gespräche mit Paul über Otmar von Verschuer. Schon bei einer unserer ersten Begegnungen 1973 erzählte er mir über diesen Mann, der damals noch lebte und zu den angesehenen Bürgern der Stadt zählte. Paul bebte vor Wut. Für ihn war es unerträglich, diesen Mann nicht vor Gericht zu sehen. Meine Reaktion war erst einmal Fassungslosigkeit, und dann auch – ich erinnere mich genau – ein gewisser Zweifel. Konnte das wirklich wahr sein, was Paul schon damals behauptete? Und einige Jahre später, 1979, in einer Publikation belegte? Sie war das Ergebnis seiner mühsamen Archivrecherchen, die uns die Schriften von Prof. von Verschuer aus der Nazizeit zugänglich machten. Warum zweifelte ich daran? Ich glaube heute, daß ich damals genau auf das hereingefallen bin, was ich selber zu bekämpfen vorgab: Die Glaubwürdigkeit eines Menschen von seinem äußeren Erscheinungsbild, seinem Auftreten in der Öffentlichkeit abhängig zu machen. Paul war ein Stigmatisierter. Die Zwangsterilisation hat ihn gesellschaftlich diskriminiert. Ein Leben lang mußte er gegen das Verdikt, „rassisch minderwertig zu sein“, ankämpfen. Nicht nur andere zweifelten, häufig genug geriet auch er selbst über sich in Zweifel. In der Behördensprache wurde er als Querulant bezeichnet. Einer, der auffällig ist, sich nicht in die gesellschaftlichen Normen einfügen will.
Paul war ein schwieriger Mensch, einer, der es mir anfangs nicht einfach machte, seinen verschlungenen Pfaden der Rede und Argumentation zu folgen. Seine Gehetztheit, seine manchmal unzusammenhängende Rede und sein penetrantes Betteln um Aufmerksamkeit erschreckten mich und machten mich hilflos. Ich fühlte mich überfordert und versuchte manches Mal, die Begegnung mit ihm zu vermeiden. Erst im Lauf der Zeit gelang es uns beiden, eine gemeinsame Sprache, eine Ebene der Verständigung zu finden. Heute bin ich betroffen darüber, wie häufig ich kein Verständnis für Paul hatte und seine Recherchen anzweifelte.
60 Jahre müssen vergehen, bis deutsche Wissenschaftler willens und in der Lage sind, die Verbrechen, die die deutsche Wissenschaft beging, als solche zu bezeichnen und sich dafür bei den noch wenigen lebenden Opfern zu entschuldigen. Und es braucht mehr als 30 Jahre, bis die Wahrheit, die Paul schon Anfang der 70er ans Tageslicht brachte, auch in der FAZ benannt werden darf.
Paul Wulf hat uns durch seine ganze Persönlichkeit dafür sensibilisiert, nachzufragen und uns nicht mit einfachen Antworten zufriedenzugeben. Seine Präsenz gab uns kaum eine Chance, ihm auszuweichen. Sein Leben glich einer offenen Wunde, die nicht vernarben wollte. Seine Andersartigkeit, seine Verrücktheit haben uns den Blick frei gemacht auf die Normiertheit des Lebens, dessen ganze brüchige Sicherheit darin offenbar wird, wie sehr es sich vor abweichendem Verhalten, der Devianz, zu schützen versucht.
Paul hat sich als einer der ganz wenigen nicht gescheut, das an ihm begangene Unrecht öffentlich zu machen. Er hat sich als Zwangs-sterilisierter in der Öffentlichkeit bloßgestellt und dadurch noch einmal stigmatisieren lassen. Er hat es geschafft, die Scham, das Gebot des Schweigens, zu überwinden und ist dadurch zu einem der bedeutendsten Sprecher der ca. 400.000 Menschen geworden, die im Sinne der Reinhaltung der Rasse, der Aussonderung des Andersartigen im Deutschen Reich unfruchtbar gemacht wurden. Mehr als 100 000 von ihnen wurden später im Rahmen des Euthanasie-Programms ermordet.
Die Eugenik, die Sozialpolitik der Ausschließung und schließlich Ausmerzung der gesellschaftlich Schwachen ist keine deutsche Besonderheit. Der Brite Francis Galton propagierte 1907 die Idee, die Menschheit durch Steuerung der Gebärfähigkeit rein zu halten. Seine Vorstellungen fanden auf der ganzen Welt Bundesgenossen. Zum Beispiel in der Schweiz, dem Mutterland der Demokratie. Fast ein halbes Jahrhundert lang führten die Schweizer Behörden einen regelrechten Krieg gegen die Jenischen, eine fahrende Volksgruppe aus der Schweiz. Mit Hilfe des sogenannten Hilfswerks „Kinder der Landstraße“ wurden die Kinder den Eltern entrissen, um sie zum seßhaften Leben zu zwingen. „Wer die Landfahrerei wirksam bekämpfen will, muß der familiären Gemeinschaft ein Ende setzen“ befand Dr. Alfred Siegfried, der Leiter des „Hilfswerks“. Die Jenischen wurden zwangsweise sterilisiert, wenn auch nicht systematisch. „Das Landfahrertum wird, wie auch bestimmte gefährliche Krankheiten , von Frauen übertragen“ schrieb Siegfried 1964 in seinem Tätigkeitsbericht. Erst 1972 wurde dem Treiben des Hilfswerks ein Ende gesetzt, und 1987 übernahm die Schweizerische Eidgenossenschaft die moralische und politische Verantwortung.
Schwedens Institut für Rassenbiologie stellte sein Rassenhygieneprogramm erst 1976 ein. Ca. 63.000 Menschen fielen der Zwangssterilisation zum Opfer, darunter 90% Frauen.
In einigen Bundesstaaten der USA wird unter bestimmten Umständen die Zwangssterilisation bis heute angewandt. In Ländern der sogenannten 3. Welt wird sie als Instrument gegen die Überbevölkerung propagiert. Die Liste läßt sich noch weiter fortsetzen.
Paul hat die aktuelle Gentechnik-Debatte nicht mehr miterlebt. Aber ich bin sicher, daß er an ihr aktiven Anteil genommen hätte. Er hätte uns vor der Hybris der falschen Heilserwartungen gewarnt. Die Eugenik als Wissenschaft zur Bewahrung des Rasseerbgutes vor Entartung feiert in den Allmachtsphantasien der genetischen Manipulation eine Art Renaissance. Die Frage, ob die zweckgebundene Tötung eines Embryos erlaubt ist, stellt die Kernfrage nach dem ethischen und juristischen Status von Leben überhaupt. Die Befürworter der verbrauchenden Embryonenforschung möchten das Leben in seinen verschiedenen Stadien unterschiedlichen Rechtshierarchien unterwerfen. Das heißt in der Konsequenz nichts anderes, als daß der Anspruch des Menschen auf Schutzwürdigkeit wandel- und manipulierbar ist: Embryonen dürfen für einen hochwertig definierten wissenschaftlichen Zweck getötet werden. Alte Menschen können aktiv getötet, Hirntote als Tote behandelt und Wachkoma-Patienten von der Versorgung ausgeschlossen werden. Rückendeckung erhalten sie dabei vom „Humanistischen Verband Deutschlands“. Die von diesem Verband herausgegebenen „Medizinethischen Schriften“ propagieren eine Medizinethik als Kosten-Nutzen-Rechnung, die das Sterben- bzw. Unbehandeltlassen und die aktive Tötung unbrauchbarer Embryonen, behinderter Säuglinge, Schwerkranker und alter Menschen rechtfertigt. Im Vorstand des Verbandes sitzen – man kann es kaum fassen – SPD-, PDS- und Grünenpolitiker, darunter Gregor Gysi und Frieder Otto Wolf.
Die Befürworter der verbrauchenden Embryonenforschung weisen gern auf den Schwangerschaftsabbruch als Inkonsistenz bei der Bewertung von Leben hin. Ich erinnere mich an die Debatten der 70er Jahre, in der das Recht auf den eigenen Körper und die freiwillige Sterilisation eine große Rolle spielten. Paul beteiligte sich daran. Er konnte nicht begreifen, warum sich junge Menschen freiwillig sterilisieren ließen. Ihn schmerzte ein Leben lang, daß er nie eine feste Bindung mit einer Frau eingehen konnte und nicht wie andere Menschen die Möglichkeit hatte, Kinder zu zeugen. Er unterstützte aber die Frauen bei ihrem Kampf um den Paragraphen 218. Das Leben ist nicht absolut unantastbar. Etwa in einer Situation der Verteidigung von Menschenleben, – aber auch bei der Abtreibung. Das sind extreme Konfliktsituationen, und es bedarf äußerst tragfähiger Begründungen, hier vom unbedingten Schutz des Lebens abzuweichen.
Ganz anders sieht es bei der verbrauchenden Embryonenforschung aus. Hier ist die Zerstörung von Embryonen immer schon Bestandteil der Methode. Es geht um die Gewinnung von embryonalen Stammzellen, für die Embryos getötet werden müssen. Wo beginnt menschliches Leben? Mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle? Das ist eine Setzung, eine Konvention, – es gibt keine plausiblen Erklärungen, da sich Leben prozesshaft entwickelt. Um so einfacher und klarer ist diese Setzung, ohne die man überhaupt keine Position hat, kritisch im Sinne von Lebensschutz zu argumentieren.
Es ist eine ehrenwerte Absicht, mithilfe der Gentechnik Fortschritte bei der Bekämpfung bestimmter Krankheiten zu erzielen. Die therapeutische Absicht würde um einiges glaubwürdiger werden, wenn die Naturwissenschaftler und die sie finanzierende Industrie ihre medizinische Forschung auch dafür einsetzen würden, weltweit verbreitete Krankheiten wie z. B. Malaria oder Tuberkulose, die jedes Jahr Millionen Opfer fordern, zu bekämpfen. Die Genmedizin zeigt sich unverantwortlich gegenüber den realen Gesundheitsbedingungen der Mehrheit der Menschen: Millionen Menschen haben kein sauberes Wasser, haben Hunger, leiden an Aids, sterben frühzeitig, da sie notwendige Impfungen nicht erhalten haben bzw. sie nicht bezahlen konnten.
Der medizinischen Forschung gehen die ethischen Maßstäbe verloren, an ihre Stelle treten die Gesetze des Marktes. Geforscht wird dort, wo die Investition eine hohe Rendite verspricht. Die Arbeit der Wissenschaftler und ihre ökonomische Auswertung verschmelzen immer mehr miteinander und werden Teil eines einzigen Prozesses. Die Biologie ist die neue Leitwissenschaft in unserer Gesellschaft: „Sie hat nicht nur die Scheidung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung aufgehoben, sie ist auch die zugleich kapitalistische wie revolutionäre Wissenschaft par excellence.“ (Claus Koch) Die milliardenschweren Investitionen sollen möglichst rasch Gewinne abwerfen. Die Hauptstadt der Biotechnologie ist Berlin, wo sich die Großunternehmen Siemens, Schering und Berlin-Chemie mit den biotechnologischen Forschungszentren der Humboldt-Universität zusammengetan haben.
Die Molekularbiologen und Genetiker bewegen sich nicht mehr länger als unabhängige Wissenschaftler im Freiraum der Grundlagenforschung. Sie sind zu Apologeten ihres eigenen Handelns geworden und vermarkten sich selbst am erfolgreichsten in allen Medien, die den neuen Utopien breiten Platz einräumen. Weitgehend unbemerkt ist ein wissen-schaftlich-industrieller Komplex entstanden, der Fakten schafft, ohne die Politik zu fragen. „Wir wohnen im Augenblick einem kalten Putschversuch bei,“ hat Hans Magnus Enzensberger in einem Essay für den „Spiegel“ geschrieben. Die mit der Industrie verschmolzene Wissenschaft tritt als höhere Gewalt auf, die über die Zukunft der Gesellschaft verfügt. Die Vorlautesten unter ihren Protagonisten erklären jedem, der es hören will, ihre Tätigkeit notfalls nach dem Vorbild von Geldwäschern und Waffenhändlern in Gegenden fortzusetzen, wo Skrupel unbekannt und Sanktionen nicht zu befürchten sind.
Die Molekularbiologen und Genetiker sind die Hohepriester der Zukunft. Sie versprechen Leidensfreiheit und Alterslosigkeit. Sie wollen die Spezies Mensch umzüchten. Unausgesprochen im Hintergrund steht die Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben. Deshalb spreche ich hier am Grab von Paul über diese Entwicklungen. Sein Geist, sein Leben, sein verwundeter Körper hat uns immer wieder darauf gestoßen, die Menschenwürde und den Schutz des Lebens als oberstes Gebot zu betrachten. Deshalb ist Paul’s Arbeit bis heute so aktuell und unverzichtbar.
Als Mensch ist mir Paul unvergeßlich geblieben. Ihm verdanke ich viele Anregungen für mein Leben. Paul war im Herzen ein Anarchist und Freidenker. Deshalb sind auch für seinen Grabstein Zeilen des von ihm verehrten Erich Mühsam ausgesucht worden. Für mich hat die letzte Zeile die größte Bedeutung. Sie ist das Vermächtnis von Paul Wulf: „Ich lehre euch: Gedächtnis!“
Informationen zu Paul Wulf
1) VHS-Kassette "Die nicht vorhersehbare Spätentwicklung des Paul W." Ein Film von Robert Krieg, Dagmar Wünnenberg und Paul Wulf über die Folgen von Rassegesetzen und Zwangssterilisierungen im 3. Reich, 1979, 45 Min., 20 DM. Bestelladresse: World TV, Constantinstr. 80, 50679 Köln
2) "Paul Wulf, ein Antifaschist und Freidenker", Broschüre, Beiträge von Paul Wulf, Robert Krieg, Anke Bruns, Klaus Dillmann, Bernd Drücke u.a., 52 S., 6 DM plus Porto bei Freundeskreis Paul Wulf, c/o Redaktion Graswurzelrevolution, Breul 43, D-48143 Münster
3.) Zwei Radiosendungen des Bürgerfunks Münster auf Audio-Kassette: News Magazin: Bernd Drücke über Paul Wulf, gesendet am 11.7.1999, Moderation: Klaus Blödow; Paul Wulf - Portrait und Nachruf, gesendet am 31.7.1999, Antje Schmidt-Schleicher im Gespräch mit Volker Pade, Walter Schopp, Norbert Eilinghoff, Andreas Balke und Willi Quiel. Preis: 10 DM, bei News Magazin, c/o medienforum, Verspoel, Münster
4.) "Paul Wulf. Erinnerung an einen Freund", Nachruf von Bernd Drücke, in: GWR 243, November 1999; "Gedächtnisveranstaltung für Paul Wulf", Artikel von Norbert Eilinghoff, in: GWR 245, Januar 2000, S. 16 f.
Im Rahmen einer Dauerausstellung zur Rolle der Ordnungspolizei im Nationalsozialismus ist Paul Wulf ein Ausstellungsraum gewidmet. Ort: Villa ten Hompel, Kaiser-Wilhelm-Ring 28, 48127 Münster. Öffnungszeiten: Di-Fr. 10-16 Uhr, So. 14-18 Uhr. Infos: 0251/4927048