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Philosophie als Auflösung

Luftholen mit Gilles Deleuze

| Jens Petz Kastner

Marvin Chlada (Hg.): Das Universum des Gilles Deleuze. Eine Einführung; Aschaffenburg 2000 (Alibri Verlag); ISBN 3-932710-22-3; 213S., DM 28,-.

Als der Philosoph Gilles Deleuze 1996 seinem Leben ein Ende setzend aus dem Fenster sprang, erfüllte er sich dort, an der frischen Luft, einen letzten Wunsch: „Möglichkeiten, oder ich ersticke“. An den Verhältnissen zu Grunde zu gehen oder zum Asphalt, ist ein unüblich gewordener Topos. Ungeklärt auch die Frage, ob im Freitod der nach innen gewendete Wille zur Macht sich verwirklicht oder den gesellschaftlichen Zwängen mit der Auflösung des Subjektes getrotzt wird. Aber Deleuze war eigentlich ein lebensbejahender Intellektueller.

In Deutschland ist dieses fundamentale Ja oft nicht oder falsch verstanden worden. Dass er das autonome Subjekt analytisch zugunsten einer Wunschmaschine abgelöst sehen wollte, trug ihm gar das Adjektiv „faschistisch“ (Manfred Frank) ein. Klaus Theweleit hingegen griff die Wunschmaschinen-Metapher nicht nur als Metapher sondern als (antifaschistische) Methode auf, um faschistische Realitätsproduktionen in der Weimarer Republik zu untersuchen („Männerphantasien“). Mit noch stärkerer Polarisierung als die Ansätze seiner poststrukturalistischen KollegInnen sind die Arbeiten von Deleuze hierzulande aufgegriffen worden. Diese inhaltliche Breite der Rezeption ist auch in dem von Marvin Chlada herausgegebenen Sammelband „Das Universum des Gilles Deleuze“ aufgespannt. Dabei werden weniger Gedankenweltraumkarten entworfen als vielmehr einzelne Wegweiser zu spannenden Denkstationen gesetzt. Als Einführung konzipiert, wird auch in Form und Inhalt versucht, der Vielfalt des Deleuzeschen Werkes Rechnung zu tragen. Eher assoziative Texte und Polemiken stehen neben wissenschaftlich und analytisch verfaßten Beiträgen.

Zu der zweiten Gattung gehört sicher der Aufsatz von Daniel Loick. Er stellt die politisch entscheidende Frage, ob die Philosophie Deleuze‘ zu der für eine „emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft notwendigen Kritik an aktuellen Herrschaftsverhältnissen produktiv zu machen ist“, und gelangt zu der Antwort, dass nicht. Angesichts der gegenwärtig praktischen Bedrohung des Subjektes gelte es auch philosophisch, Identität im Dienste einer radikaldemokratischen Kultur zu verteidigen. Auch der Kulturkritiker Jürgen Roth findet Deleuze scheiße und feiert für die Mittteilung dessen – wie nach Theweleit jeder Verriss – sprachverliebt sich selbst. Ob die deleuzianisch-antiautoritäre Attacke auf das handlungsmächtige Subjekt der Geschichte allerdings tatsächlich den neoliberalen Frontalangriff vorbereitet, eingeleitet oder gar mit verursacht hat, muß m.E. fraglich bleiben.

Denn zunächst war die Auflösung von starren Ich-Formationen zugunsten neuer, bislang zivilisatorisch verhinderter Intensitäten gedacht. Den flexiblen Menschen als leistungsorientierte Norm haben andere daraus gedreht (Zum Beispiel Bertelsmann: „Wie behält man die Nase vorn, wenn man alten Hierarchien den Rücken kehren will?“). Deleuze als einen Wegbereiter des Management Development-Programms eines Medien-Multis zu interpretieren, wird seinem Denken kaum gerecht.

Dass eine Reihe von Mikromächten die großen Herrschaftszentren stützen, mag heute eine kulturtheoretische Binsenweisheit sein. Die zeitdiagnostische Signatur der Kontrollgesellschaft, die Deleuze im Anschluß an Foucault u.a. aus dieser Einsicht entwickelte, machte ihn aber zum Stichwortgeber für die hiesige Kritik der Populärkultur. So konstatiert beispielsweise der Popkritiker Martin Büsser, Deleuze sei der „erste und bislang einzige Denker, der aus der Akademie heraus auch auf verschiedene Pop-Subkulturen primär aufgrund seiner Methode wirkte“. Diese sei pseudo-dilettantisch, gekennzeichnet durch Sprünge und Irritationen, schnelle Wechsel von Seriösität zu Ramsch, von Fachtermini zu Vulgärsprache.

Eine Philosophie, die ein Denken propagiert, das nach dem Vorbild eines chaotisch wuchernden Wurzelwerkes (Rhizom) organisiert ist, und in Forderungen mündet wie „Laßt keinen General in euch aufkommen!“, erscheint gerade in Zeiten der von Alt-68ern geführten Kriege wieder aktuell. Und als eine würdige Fortsetzung von 68 allemal.