Ulrich Klemm: Lernen ohne Schule. Argumente gegen Verschulung und Verstaatlichung von Bildung, Neu-Ulm (AG SPAK Bücher, M 146) 2001, 84 S., DM 15,- (ISBN 3-930830-22-1)
Dass wir im Zeitalter des Wandels von der Industrie- zur Informationsgesellschaft leben und dabei Globalisierungsprozesse durchlaufen, ist eine mittlerweile allgemein akzeptierte Erkenntnis. Dass „ein staatlich kontrolliertes Pflichtschulsystem … politisch gesehen antidemokratisch, lernpsychologisch dysfunktional und bildungsökonomisch unrentabel“ ist (S. 73), ist dagegen eine eher selten geäußerte Position. Eine solch radikale Kritik an der Institution Schule „hat darüber hinaus – zumindest in Deutschland – fast blasphemischen Charakter“ (S. 18). Und doch ist sie nichts anderes als die Konsequenz aus dem seitens der Bildungspolitik selbst zu Recht geforderten Wandel der Lernkultur, meint Ulrich Klemm, Autor von „Lernen ohne Schule“.
In einer fundierten Analyse beschreibt Klemm, der selber im institutionalisierten Bildungsbereich (VHS Ulm sowie Universität Augsburg) tätig ist, die Entwicklung von Schule seit der Einführung der Schulpflicht in Preußen im frühen 18. Jahrhundert als „raffiniertes Herrschaftsmittel des Staates“ (Borgius). Vor diesem Hintergrund ist es geradezu verwunderlich, dass eine dementsprechende politische Entschulungsdiskussion im wesentlichen erst in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts (ausgehend von Ivan Illich) laut wird. Sie kritisiert den Monopol- und Zwangscharakter von Schule, ihre antidemokratische Binnenstruktur sowie das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis. In Deutschland erhält die Entschulungsdiskussion in den 80er Jahren neue Nahrung durch spektakuläre Fälle von Schulverweigerung. Klemm zitiert auch aktuelle Zahlen, nach denen gegenwärtig etwa 70.000 Schülerinnen und Schüler als „Schulverweigerer“ gelten, die zu einer wachsenden Problemgruppe werden. Zudem stellen die Zahlen der Sitzenbleiber, der Schulabgänger ohne Abschluss oder die der Analphabeten den „Mythos Schule“ immer mehr in Frage.
In acht „Thesen zur Aktualität entschulter und entstaatlichter Bildung“ (S. 30 ff.) entfaltet und vertieft der Autor seine radikalkritische Position. Es geht ihm um eine neue Qualitätsstufe in der gewandelten Lernkultur, die nicht zuletzt auf menschenrechtlichen Grundlagen (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und UN-Kinderrechtskonvention) sowie auf lernpsychologischen Einsichten beruht. Er bezweifelt, dass die Widersprüche zwischen institutionalisiertem Lernen und Globalisierungstendenzen oder zwischen Schule als Verwaltungsinstitution und der notwendigen Umorientierung zur am Kind ausgerichteten Einrichtung von einer staatlichen Schule aufgelöst werden können. Darum heißt seine Konsequenz: Auflösung von Schule in ihrer bisherigen rechtlichen und administrativen Form.
Dass Kinder „entschult“ aufwachsen und dabei gebildete Menschen werden können, beschreibt Klemm an einem konkreten und real existierenden Beispiel aus Österreich; die kurzen Ausführungen machen Lust auf das Nachlesen in der erwähnten Originalliteratur. Das Büchlein selbst ist in einem handlichen Format gehalten, während seine Sprache sich heutigen Lesegewohnheiten störrisch widersetzt. Doch es lohnt sich durchzuhalten, weil es derzeit m. E. keine qualitätvollere Publikation zur Darstellung von Argumentationsebenen für die schulkritische Diskussion gibt. So fehlt auch nicht der Ausblick auf erforderliche Veränderungstendenzen zur Sicherung von mehr Qualität in der Grundbildung, die Menschen in der heutigen Zeit und unsere Gesellschaft dringend benötigen. Bildung als Grundrecht, Bildungspflicht und staatliche Verantwortung gehören auf jeden Fall dazu – Schulpflicht jedoch nicht.