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Soziale Selbstorganisation und Demokratie

Zur Neuerscheinung von Christian Fuchs: Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus

| Ralf Burnicki

Christian Fuchs, Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus. Gesellschaftliche Verhältnisse heute und Möglichkeiten zukünftiger Transformationen; (Wien) Libri 2001, ISBN 3-8311-1601-6, 246 S., 37 DM; Bestellung über den Buchhandel oder unter www.libri.de

“’Demokratie‘ ist doch prima, oder? Hier können ja alle Leute ihre PolitikerInnen wählen, und das alle vier Jahre. Da kann mensch doch mitbestimmen, was die hohe Politik machen soll. – Oder etwa nicht?“

Christian Fuchs ist Informationstheoretiker, er lebt und arbeitet in Wien, hat zu tun mit der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, eigentlich aber ist er Wissenschaftler mit interdisziplinärer Ausrichtung. In seiner neuesten Arbeit untersucht er den Kapitalismus sowie das Konzept der gegenwärtigen repräsentativen (durch gewählte EntscheidungsträgerInnen geprägte) Demokratie auf ihren tatsächlichen demokratischen Gehalt. Seine Arbeit „Soziale Selbstorganisation…“ – in wissenschaftlich-theoretischer Sprache verfasst und entsprechend zu lesen – ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und ich will hier nur einige Aspekte kurz anreißen, die mir besonders wichtig erschienen. So gelingt es Fuchs, das, was der Marxismus als „Klassengegensatz“ begreift, nicht nur in Bezug auf die Ökonomie (Beispiel: Postfordismus) zu modernisieren, sondern über das Thema der Ökonomie hinaus in den Bereich der Politik, der „Demokratie“ vorzudringen, wo er das heutige System politischer Repräsentation anhand der gesellschaftlichen Verteilung von „sozialen Informationen“ untersucht. Spätestens seit dieser Arbeit kann wohl davon gesprochen werden, dass es so etwas wie eine moderne ‚Klassentheorie der Demokratie‘ gibt.

Fuchs geht vom Standpunkt einer ‚dialektischen Theorie der Selbstorganisation‘ (S. 56) aus, die sich am Phänomen der „sozialen Information“ festmacht. „Informationen“ werden heute, so Fuchs, in autoritärer oder hierarchiekompatibler Hinsicht gebraucht, nämlich eher im Sinne von ‚Botschaft‘, ‚Nachricht‘ bzw. ‚Unterrichtung’/ ‚Belehrung‘. So werden uns in der heutigen kapitalistischen Informationsgesellschaft ‚Botschaften‘ über unsere „Wirklichkeit“ eingegeben, allabendlich erhalten wir unsere Nachrichtenzufuhr bei ARD & ZDF; in der Schule oder am Arbeitsplatz werden wir unterrichtet bzw. belehrt, wie wir unsere Leistungen optimieren sollen; Parteien oder Großgewerkschaften teilen uns mit, wie wir einen gesellschaftlichen Vorgang zu verstehen haben. Wir verhalten uns gegenüber der „Information“ passiv, wir bekommen von den „Informierten“, namentlich PolitikerInnen (also von „Oben“) mitgeteilt, ‚was läuft‘. So konsumieren wir Informationen als Ware. Gänzlich unberücksichtigt dabei bleibt, dass „Information“ im Lateinischen auch die Bedeutung von „Formen“ bzw. „Gestalten“ (z.B. der Politik, der Ökonomie) einschließt. Dies beinhaltet den Aspekt, dass wir die „Information“ in die eigenen Hände nehmen, die Umstände selbst formen, die uns angehen.

Von diesen Überlegungen ausgehend, untersucht Fuchs die Bedingungen heutiger „sozialer Information“ am Beispiel der repräsentativen ‚Demokratie‘. Wie bereits erahnt werden kann, macht sich die Theorie an einer ungerechten (partizipatorische Interessen der Bevölkerung ausschließende) Handhabung „sozialer Information“ fest. Unter sozialen Informationen wird im Folgenden verstanden: „Strukturen wie soziale Normen, Gesetze, soziale Werte und Regeln, die durch das Zusammenwirken mehrerer Individuen entstanden sind“ (Fuchs, S. 74). Diese sozialen Informationen können nun „soziale Inklusionen“ (Entscheidungen über Regeln, die zustande kommen, indem die Betroffenen beteiligt werden) oder „soziale Exklusionen“ (Entscheidungen über Regeln, die unter Ausschluss der Betroffenen zustande kommen) sein. Mit dem begrifflichen Werkzeug der „sozialen Inklusivität“ oder der „sozialen Exklusivität“ von „Informationen“ kommt Fuchs zu dem Schluss, dass die repräsentative ‚Demokratie‘ und ihre Gesetzgebung lediglich exklusive soziale Informationen produzieren, weil die politischen Entscheidungen (z.B. Verabschiedung von Gesetzen) von denjenigen, die von den Entscheidungen betroffen sind, weitestgehend entkoppelt sind. Und dies in zweierlei Hinsicht: So führt einerseits die Wahl von ParlamentarierInnen als politische EntscheidungsträgerInnen dazu, dass sich Entscheidungen von der Alltagsbasis lösen, andererseits führen Mehrheitsprinzipien innerhalb der repräsentativen Demokratie zum Ausschluss von Minderheiten. Beide Aspekte begründen hinreichend eine Kritik an der Repräsentation als „exklusiver“ ‚Demokratie‘ und den Klassengegensatz zwischen politisch (ganz „demokratisch“) ein- und ausgeschlossenen Teilen der Bevölkerung.

Im Anschluss untersucht Fuchs nun den gegenwärtigen Anarchismus daraufhin, inwiefern hier „inklusive“ oder „exklusive“ Informationen produziert werden. Nicht unnütz erscheint hier zunächst einmal der Hinweis, dass der Anarchismus (und dies ist auch meine Einschätzung) eine „spezielle Form der Theorie der Direktdemokratie“ (S. 189) darstellt, mithin als eine selbständige Demokratietheorie anzusehen ist, die sich allerdings massiv von repräsentativen Entscheidungsmodellen unterscheidet. Insofern sich 1. der Anarchismus gegen EntscheidungsträgerInnen und politische/ökonomische Eliten verwahrt und 2. innerhalb seines Entscheidungskonzepts eine Beteiligung derjenigen, die von Entscheidungen betroffen sind, an den entsprechenden Beschlüssen anstrebt, noch dazu 3. innerhalb der Entscheidungsproduktion auf Konsens wert legt (Einschluss von Minderheiten in eine Entscheidung), kommt Fuchs zu dem Schluss, dass anarchistisch-direktdemokratische Entscheidungsmodelle „der Vorstellung von sozialer Selbstorganisation … näher kommen als etablierte repräsentativ- und direktdemokratische (Volksentscheid, Volksbegehren, Volksinitiative, usw.), da sie die Etablierung inklusiver sozialer Informationen zu einem wesentlichen Teil ihres Ansatzes machen. Es geht dabei um die Vorstellung, dass Betroffene die Entscheidungsprozesse, als deren Ergebnisse soziale Informationsstrukturen entstehen, selbst bestimmen und gestalten können und dass sie unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch die Fähigkeiten entwickeln können, dies in der Praxis durchzuführen“ (S. 211).

Leider gelingt es auch libertären AutorInnen nicht immer, ein begriffliches Handwerkszeug für demokratietheoretische Debatten zur Verfügung zu stellen, das einerseits eine kritische Analyse vereinfacht, andererseits multifunktional und gut geölt ist. Fuchs scheint dies jedoch mit Hilfe der Begriffe „inklusive“ und „exklusive soziale Information“ zu gelingen. Mit dieser Unterscheidung lässt es sich gut in politikwissenschaftliche Debatten einsteigen. Nicht mehr und nicht weniger erscheint als der Zweck der vorliegenden Arbeit, denn im Alltagsgespräch könnte mensch auch auf andere Weise ausdrücken, dass Anarchismus Sinn macht. Wer sich in diesem Sinne bei Fuchs erst einmal durch ein bestimmtes wissenschaftliches Vokabular durchgearbeitet hat, den/die erwartet eine meines Erachtens fundierte Gesellschaftsanalyse, die – nebenbei gesagt – gründlich mit der Idee von Jürgen Habermas aufräumt, in der Politik einer repräsentativen ‚Demokratie‘ würden Kommunikationsflüsse der gesellschaftlichen Basis umgesetzt.

Für mich ist dies Werk derzeit eines der wichtigsten Bücher auf meinem Tisch.

Anmerkungen

Ein Artikel von Christian Fuchs zum Thema "Anarchismus und Selbstorganisation" erschien im Schwarzen Faden Nr. 72, 2/2001, S. 46-50 (Trotzdem-Verlag, PF 1159, 71117 Grafenau)