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Die afghanische Tragödie

| Christian Sigrist

"Unlike other wars, Afghan wars become serious only when they are over."
Olaf Caroe (in: The Pathans, S. 397, London 1958)

"Anders als andere Kriege werden afghanische Kriege erst dann entschieden, wenn sie vorüber sind."
(Olaf Caroe war der letzte britische Gouverneur der NW-Grenzprovinz)

I. Zeitgeschichtliche Hintergründe

Am Karfreitag des Jahres 1991 erhielt ich von einem Mujaheddin-Kommandanten im Gebiet der Khugiani eines pashtunischen Stammes in der Nähe von Jelalabad eine ehrenvolle Einladung. Sichtlich beeindruckt davon, daß ich so dicht wie möglich an die Panzer-Front des Kabuler Regimes heranfahren wollte und mich die Verminung des Geländes nicht einschüchterte, bot er mir an, an der bevorstehenden Eroberung Kabuls teilzunehmen. Ich schlug die Einladung aus mit der Begründung, es seien schon zu viele Afghanen gestorben; meine Aufgabe könne es nicht sein, mich am Töten von noch mehr Afghanen zu beteiligen, so sehr ich mit dem Ziel, dem Regime in Kabul ein Ende zu bereiten, einverstanden sei.

Jener Karfreitag wurde für mich zum schwärzesten meines Lebens, nachdem besagter Kommandant im Einklang mit anderen Anwesenden auf meine Frage, welche Wiederaufbauprojekte sie in ihrem befreiten Gebiet betrieben, geantwortet hatte: Darauf käme es jetzt nicht an; erst müßten Kabul befreit und alle Kommunisten an die Wand gestellt werden. Das markierte einen krassen Unterschied zu allen Erfahrungen, die ich mit anderen (afrikanischen) Befreiungsbewegungen gemacht hatte.

In glühender Mittagssonne am Rande des Djoma-Bazars eine leichte Aufhellung: einfache Mujaheddin riefen mir zu: „Erzählen Sie mal der Welt, was hier vor sich geht. Wir hungern und in Peshawar leben die Führer unserer Parteien in großen Villen und fahren in dicken Wagen. Wir wollen endlich Frieden!“

Diese Szenen spielten sich knapp 25 Jahre nach meinem ersten achtmonatigen Aufenthalt in Afghanistan ab. Nachdem ich im September 1966 Kabul von Peshawar kommend über den Khyber-Paß per Bus erreicht hatte, fuhr ich am nächsten Morgen zur Kabuler Universität, um meine Akkreditierung als Forscher einzuleiten. Ich erkundigte mich bei zwei Studenten nach dem Sitz der für mich zuständigen Literaturfakultät. Sie antworteten mir gleich auf Deutsch und fragten: Wissen Sie eigentlich, daß im Norden Afghanistans Landarbeiter von ihrem Grundherren verbrannt worden sind?

Das war für mich eine frappierende Information, auf die ich bei meiner wissenschaftlichen Lektüre nirgends gestoßen war. Die beiden BWL-Studenten, die von westdeutschen Dozenten unterrichtet wurden, waren keine Kommunisten, sie blieben während deren Herrschaft im Exil. Sie wollten nur „wirkliche Demokratie“. Die schockierende Information wurde mir später auch von anderer Seite bestätigt – der kriminelle Sachverhalt entspricht repressiven Praktiken, die bis heute in einigen Regionen Indiens betrieben werden.

Die Hoffnung auf Demokratisierung des politischen Systems war durch die endlich erfolgte Inkraftsetzung einer modernen Verfassung im Stil der konstitutionellen Monarchie auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts (auch für Frauen!) im Jahr 1964 genährt, aber durch die blutige Niederschlagung von Studenten- und Schülerprotesten bereits am 25. Oktober 1965 enttäuscht worden. Der Ministerpräsident Dr. Moh. Yussuf, der der erste Nicht-Pashtune auf dieser Position war, trat zurück. Anlaß der Unruhen zur parlamentarischen Premiere waren Gerüchte über korrupte Minister, die auch von deutschen Konzernen Geld angenommen haben sollten. Lassen wir offen, wie groß der Wahrheitsgehalt dieser auf dem Uni-Campus grassierenden Gerüchte war. Offen bleibt auch, wieweit es v.a. Kommunisten waren oder im Gegenteil reaktionäre Hofkreise, welche die Gerüchteküche anheizten. Tatsache ist aber, daß Dr. Yussuf nicht den Schießbefehl gab, als sich ein Demonstrationszug auf seine Villa hin bewegte. Es war wohl General Shah Wali, ein Onkel des Königs, der ohnehin gegen das Demokratisierungsprojekt arbeitete. Für ihn war es eine Provokation, daß bei den Wahlen auch VertreterInnen der linken Demokratischen Volkspartei gewählt worden waren, unter ihnen Babrak Karmal und eine Ärztin, Dr. Anahita Rabzadeh.

Gegen diese linken Abgeordneten richteten sich im November 1966 die Aggressionen der reaktionären Parlamentarier im Unterhaus; Babral Karmal wurde krankenhausreif geschlagen; die erwähnte Ärztin wurde geschlagen – ein nach dem Pashtunwali eigentlich unerhörter Vorgang.

Die Idylle, die das herbstliche Kabul, umgeben von Pistazienwäldern und fruchtbaren Oasen, bot, stellte sich mir nach kurzer Zeit als trügerisch dar. Schon damals kursierten Szenarien, nach denen Afghanistan auch formell politisch aufgeteilt werden sollte: in einen prosowjetischen Staat im nördlichen Landesteil, mit seinen Erdgas- und Ölvorkommen sowie seiner landwirtschaftlichen Überflußproduktion, und einen westlich orientierten Südteil.

Dieses Szenario wurde bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts real antizipiert: Nord-Afghanistan galt als sowjetische Einflußzone, während im Süden und Osten des Landes die US-amerikanischen und westdeutschen Projektgebiete lagen. Ähnliche Einflußzonen gab es in den Ministerien selbst: Das Minenministerium war stark mit sowjetischen Experten besetzt, während im Planungsministerium die Korridore jeweils sowjetischen, US-amerikanischen oder deutschen Experten zugeordnet waren. Die Universität wurde weitgehend von US-Amerikanern und Deutschen finanziert und unterrichtet, das Polytechnikum wurde von sowjetischer Seite gebaut und unterhalten.

Von besonderer Bedeutung war, daß die wichtigste Fremdsprache an der Kadettenanstalt russisch war, Sowjetische Offiziere waren als technische Instruktoren unentbehrlich, da die Ausrüstung der Armee ausschließlich von der Sowjetunion geliefert wurde, nachdem die USA wegen Afghanistans Neutralitätspolitik und wegen Dauds Pashtunenpolitik, welche auf eine Herauslösung der pashtunischen Siedlungsgebiete aus dem pakistanischen Staatsverband zielte, dem Land keine „Militärhilfe“ gewährten.

Gleichwohl hatten die USA mit der Realisierung des großen Helmand-Bewässerungs-Projekts das vorher schuldenfreie Land in die Schuldenfalle getrieben. Dieses Projekt zur Modernisierung der Landwirtschaft, das nicht zuletzt auch das Nomadenproblem durch Seßhaftmachung lösen sollte, scheiterte an der grotesken Fehlplanung, die die ökologischen Gegebenheiten ignoriert hatte.

Insgesamt fehlte eine Gesamtkonzeption für die wirtschaftliche Entwicklung, während die Auslandsschulden als Folge der Entwicklungsprojekte von Jahr zu Jahr wuchsen.

Als Ergebnis der internationalen Ausbildungshilfe ergab sich trotz eines starken Nationalismus eine Fremdbestimmung und Fragmentierung der afghanischen professionellen Intelligenz, die große Schwierigkeiten hatte, gemeinsame Definitionen der nationalen Interessen zu treffen. Innerhalb der progressiven Kräfte konnten sich nicht einmal zwei Hauptflügel der Demokratischen Volkspartei dauerhaft einigen. Diese Zerstrittenheit beförderte bei Teilen der Intelligenz eine Umorientierung zu islamischen Gruppierungen, welche die liberale Modernisierung, die nach dem gescheiterten, überstürzten Experiment Amanullahs und langen Jahren der Stagnation von König Zaher betrieben wurde, bekämpften (z.B. durch das Abfackeln eines Kinos in Kandahar).

Diese konservativen Kräfte hatten ihren stärksten Rückhalt in den ländlichen Gebieten, wo Mullahs, Scheichs und Fakire wichtige Autoritätspersonen sein konnten. Diese Gebiete waren von sehr verschiedenen Sprachgemeinschaften, insbesondere aber den pashtunischen Stämmen bestimmt. Vor allem im Osten und Süden galt außerhalb der Bazare nicht das staatliche Recht, sondern das Pashtunwali, das auf rigiden Ehrvorstellungen und strengen Sanktionsregelungen, die im Bereich des Sexualkodex weit über die Sunna hinausgingen, beruhte.

Die Stämme sind als segmentäre Systeme organisiert; d.h. sie haben keine dauerhafte Zentralinstanz mit Polizei und Verwaltung; Entscheidungen werden auf Versammlungen getroffen. Stämme können aber Sprecher haben, Khane, die kraft persönlicher Autorität und Reichtum (Gastfreundschaft) starken Einfluß ausüben können; als Mittelsmänner stellen sie den Kontakt zu Regierungen und Herrschern her und kassieren Subsidien, die sie teilweise umverteilen.

Die Stämme sind genealogischstrukturiert und lassen sich relativ leicht mobilisieren; sie sind aber schwer regierbar. Harte Lebensbedingungen in Hochgebirgen und Steppen haben Gesellschaften von hoher Widerstandskraft hervorgebracht, die kaum zu unterwerfen sind. Das gilt selbst dann, wenn die Herrscher selbst Pashtunen sind.

Nach dem Rückschlag für den politischen Reformprozeß, den der Rücktritt von Premier Yussuf darstellte, dem auch ein Revirement in vielen Ministerien und Institutionen (z.B. Universität) folgte, resignierte der Reformehrgeiz des Königs, dessen Ansehen durch Gerüchte und tatsächliche Affären, besonders auch im näheren familiären Umfeld, beeinträchtigt wurde. Der Monarch, der bereits mit 19 Jahren die Nachfolge seines bei der Abschlußfeier der deutschen Oberrealschule ermordeten Vetters Nadir Khan antreten mußte, zeigte deutliche Spuren von Amtsmüdigkeit. Das größte historische Verdienst hatte sich Zaher Shah 1941 erworben, als er nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion die Loya Jirga daran hinderte, Britisch-Indien und der Sowjetunion den Krieg zu erklären. Er reagierte aber viel zu spät auf die Hungersnot Anfang der 70er Jahre, der ca. 100 000 Menschen zum Opfer fielen. Während eines Urlaubs in Italien ließ er sich 1973 ohne großen Protest von seinem Vetter und früheren Premier Daud absetzen. Dessen autoritärer Führungsstil, nicht zuletzt aber seine Entfremdung von den progressiven Offizieren und Intellektuellen, die ihn bei seinem Coup d’Etat unterstützt hatten, isolierten ihn innenpolitisch. Außenpolitische Erfolge wie die Verbesserung der Beziehungen zum Schah des Iran und zum pakistanischen Premier Bhutto weckten den Argwohn des Kreml. Sein gewaltsamer Sturz am 27. April 1978 war ein blutiger Staatsstreich, bei dem offen bleibt, welchen Anteil die sowjetische Botschaft in Kabul und die prosowjetischen afghanischen Offiziere, Gewerkschafter und Intellektuellen hatten. Die in zwei Fraktionen gespaltenen Saur-Revolutionäre befehdeten sich nach der Machtnahme; es zeigte sich eine auffällige Unfähigkeit zum Kompromiß. Die Khalq-Fraktion verdrängte Karmal und seine Anhänger aus Führungspositionen und inhaftierte oder exekutierte sie. Es war blanker Voluntarismus, in einem Land mit 40.000 Industriearbeitsplätzen eine kommunistische Partei an die Macht putschen zu wollen und das noch als „proletarische Modellrevolution der Dritten Welt“ (Taraki) auszugeben. Aber auch die als zentrale Rechtfertigung für die „Revolution“ angegebene Agrarreform wurde überhastet konzipiert und gewaltsam von unerfahrenen Funktionären durchgeführt. Dies führte zu ersten kleinen Revolten v.a. in den pashtunischen Gebieten. Als im März 1979 sowjetische Berater in Herat getötet wurden, weigerten sich afghanische Piloten, die Stadt zu bombardieren, woraufhin sie von sowjetischen Flugzeugen angegriffen wurden. Die Zuspitzung der Lage veranlaßte die sowjetische Führung, nach einer Alternative zu Premier Hafiz Amin zu suchen. Der vergleichsweise gemäßigte Präsident Taraki wurde aber beim Versuch, die Moskauer Weisung durchzusetzen, tödlich verletzt. Danach versuchte die sowjetische Führung sogar, den König zur Rückkehr aus dem Exil zu bewegen. Erst dann fiel die definitive Entscheidung zur militärischen Intervention. Am 27. Dezember 1979 wurden die ersten Teile des „beschränkten Kontingents“, das zeitweise 120.000 Soldaten erreichte, eingeflogen. Teile der afghanischen Armee integrierten sich in den sofort aufflammenden Widerstand, der vorher nur lokal isoliert aufgetreten war. Die Massenflucht nach Pakistan und in den Iran sollte v.a. die Familien in Sicherheit bringen. Die Männer kehrten in ihr Land zurück, um mit den Methoden der Guerilla, die in drei Kriegen gegen die Briten entwickelt worden waren, die Besatzer, die obendrein das Stigma der Gottlosigkeit trugen, zu bekämpfen.

Das ging nicht ohne massive militärische und finanzielle Unterstützung durch die USA, Pakistan und Saudi-Arabien. Mit US-amerikanischem und saudischem Geld wurde nicht nur das Überleben in den Flüchtlingslagern gesichert; damit wurden chinesische Waffen gekauft. Nach langem Zögern erhielten die Mujaheddin auch Luftabwehrraketen vom Typ Stinger, mit der die gepanzerten sowjetischen M8-Hubschrauber ausgeschaltet werden konnten.

In vielen Berichten und Kommentaren wird behauptet, die Mujaheddin seien von der CIA und der pakistanischen Armee trainiert worden. Mir scheint das in dieser Allgemeinheit zweifelhaft. Mit Schußwaffen kann jeder erwachsene Afghane umgehen; zumindest die Bergstämme wissen die „Vorteile des Geländes“ zu nutzen. Außerdem gab es ja die patriotischen Offiziere der afghanischen Armee. Aber sie erhielten direkte Unterstützung durch pakistanische Offiziere, die die Artillerie bedienten und die Logistik organisierten. CIA-Agenten spielten sicher eine Rolle bei der Einweisung in den Gebrauch der Stinger-Raketen. Dies war wichtig bis zum Abzug der sowjetischen Truppen, der am 15.2.1989 abgeschlossen war. Sie hatten politisch und militärisch den Kampf gegen die Mujaheddin verloren; ihr Rückzug verlief aber geordnet im Vergleich zu dem schmählichen Abzug der US-Amerikaner aus Saigon. Bis 1992 dauerte der interne Krieg gegen das Najibullah-Regime in Kabul, das durch Überläufer wie insbesondere General Dostum gestürzt wurde. In diesem Jahr begann sich das Ausmaß der afghanischen Tragödie erst richtig abzuzeichnen: die Unfähigkeit der Verantwortlichen zu einer konstruktiven politischen Lösung, die sich nur bei der eingangs beschriebenen Szene aus dem Jahr 1991 bereits überdeutlich dargestellt hatte.

II. Von der nationalen Befreiung in den Ruin

In der Stunde des Sieges brachen die alten Interessengegensätze, die durch Abhängigkeit von ausländischen Sponsoren verschärft wurden, welche schon die als Exil-Regierung fungierende 7-Parteien-Koalition in Peshawar geplagt hatten, in höherem Maße und mit schlimmsten Folgen wieder auf. Deren formeller Präsident, der Theologieprofessor Sibghatullah Al-Mojaddedi, verfügte über wenig Macht, schon deswegen, weil seine Partei im Vergleich zu den islamistischen Parteien, wie z.B. der Hezbe Islami Hekmatyars, deutlich weniger Zuwendungen erhielt. Hegmatyar praktizierte häufig eine Politik des leeren Stuhls. Die Konkurrenz zwischen den gemäßigten und den extrem fundamentalistischen Parteien machte alle Hoffnungen auf einen vernünftigen Ausgleich unterschiedlicher Positionen, z.B. hinsichtlich der Stellung der Frauen, zunichte. Es bleibt daran zu erinnern, daß schon kurze Zeit, nachdem die Mujaheddin die Macht in Kabul übernommen hatten, die Fernsehansagerinnen von den Bildschirmen verschwanden. Die Universitäten in Kabul und Jelalabad hörten ohnehin auf zu funktionieren. Der erzwungene Rückzug der Frauen aus den Berufen fand bereits in dieser Phase statt ebenso wie der Verschleierungszwang in der städtischen Öffentlichkeit. Außer Hekmatyar, auf den noch später einzugehen sein wird, waren vor allem Kommandant Ahmed Shah Massud und General Rashid Dostum die Akteure im „Great Game“.

Massud verdankte seine herausragende politische Bedeutung nicht nur seinem Charisma. Dieses konnte nur wirksam werden, weil der Kommandant in einer strategisch wichtigen Region die eigene Volksgruppe der Panjshir-Tajiken mobilisieren konnte. Das Panjshirtal stößt nördlich von Kabul auf die von der Sowjetunion gebaute Salang-Straße, die mit ihren Tunneln und Galerien auch im Winter den Verkehr zur sowjetischen Grenze sicherstellen sollte. Vom Panjshirtal aus konnte diese Verkehrsader schon mit kleinen militärischen Vorstößen blockiert werden. Umgekehrt erwies es sich aber als unmöglich, das Panjshirtal dauerhaft zu erobern: das Tal verengt sich an mehreren Stellen so stark, daß militärische Konvois von den beiderseits der Straße aufragenden Bergwänden aus blockiert und vernichtet werden konnten. Daran scheiterte nicht nur die sowjetische Armee sondern auch die Taliban. Von dieser soziogeographischen Basis aus konnten auch Führungsansprüche im nahegelegenen Kabul geltend gemacht werden. Massuds Popularität verdankte sich nicht nur seiner operativen Führungsqualität, sondern auch seinen Bemühungen, wenigstens im Panjshirtal Institutionen des Bildungswesens und der Gesundheitsversorgung unter schwierigsten Bedingungen aufrechtzuerhalten.

In seinem letzten Fernsehinterview hat der vor dem Angriff auf das WTC ermordete Ahmed Shah Massud eingeräumt, daß die Mujaheddin nach ihrem Sieg über die „Kommunisten“ im Jahr 1992 an ihrer Unfähigkeit gescheitert sind, eine funktionsfähige Regierung zu bilden.

Massud und Rabbani strebten in grotesker Verkennung der ethnischen wie der militärischen Kräfteverhältnisse eine Ablösung der seit dem 18. Jahrhundert bestehenden Hegemonie der stärksten Megaethnie, der Pashtunen, durch eine Koalition der verschiedenen ethnischen Minderheiten, die mehrheitlich Dari, eine afghanische Form des Persischen (Farsi), sprechen, an.

Eine besondere moralische und politische Belastung stellte dabei der usbekische General Abdul Rashid Dostum dar. Seine Karriere begann als Wachmann im nordafghanischen Erdgasgebiet; es gelang ihm, zum Chef einer nordafghanischen Miliz aufzusteigen, deren Aufgabe zunächst der Schutz der Erdgasanlagen vor Sabotageakten war. Er stieg während der sowjetischen Okkupation zum General und schließlich zum Verteidigungsminister auf. Seine Milizen waren für die Häufigkeit ihrer Vergewaltigungen berüchtigt, sie benahmen sich noch schlimmer als die Angehörigen des „begrenzten Kontingents“ der Sowjetarmee. An dieser Praxis änderte sich auch nach seinem politischen Richtungswechsel nichts.

Nach dem Scheitern der Regierungsbildungsversuche in Kabul konzentrierte sich Dostum auf die nördlichen und nordöstlichen Teile Afghanistans mit den Zentren Mazare Sharif und Kunduz. Da dies die ökonomisch produktivste Region des gesamten Landes ist, konnte eine funktionsfähige Verwaltung aufgebaut werden. Viele Anhänger des gescheiterten kommunistischen Regimes konnten dort beweisen, daß sie aus ihren Fehlern gelernt hatten. Dostum allerdings behielt seinen brutalen Führungsstil bei. Die von ihm veranlaßte Ermordung des Bruders seines Generalstabschefs führte zu dessen Frontwechsel: er ging mit großen Teilen seiner Truppen zu den Taliban über, wodurch 1998 zunächst Mazare Sharif und schließlich fast alle wichtigen Städte des Nordens von den Taliban erobert werden konnten. Nach seiner Niederlage setzte sich Dostum in die Türkei ab, wo im übrigen seit den 80er Jahren 25.000 Usbeken als Milizen gegen die Kurden eingesetzt werden, Erst seit sich die Aussichten der Nordallianz auf ausländische Unterstützung verbessert haben, ist er wieder ins Frontgebiet zurückgekehrt

„Ingenieur“ Gulbuddin Hekmatyar verfolgte die verhängnisvolle Vision, aus Afghanistan eine „Islamische Republik“ im Sinne eines zentralistischen Einheitsstaats zu machen. Er verurteilte zwar jede Form des Tribalismus, de facto strebte er aber einen von den Pashtunen bestimmten Einheitsstaat an. Die formelle Absage an das pashtunische Hegemoniestreben diente der Beruhigung seiner pakistanischen Protektoren im pakistanischen Geheimdienst und in der pakistanischen Armee, weil so das alte Pashtunistanprojekt erledigt schien. Vor allem war damit auch eine ernst gemeinte Absage an die Wiederherstellung der seit 1747 vom pashtunischen Königsclan aus dem Stamm der Durrani gestellten Monarchie verbunden.

Letzten Endes war Hekmatyar doch auf seine pashtunischen Stammesgenossen als politisch-militärische Basis angewiesen. Freilich immer mit Beistand der pakistanischen Armee und der saudischen Wahabiten. Diese Unterstützung büßte er ein, als er sich beim „Großen Spiel“ übernahm und sich im Sog der starken antiamerikanischen Welle in der islamischen Welt im 2. Golfkrieg massiv für Saddam Hussein einsetzte. Nach dem im wesentlichen durch den Frontwechsel des usbekischen Verteidigungsministers herbeigeführten Sturz des Kommunisten Najibullah, wurde Hegmatyar zwar 1992 Ministerpräsident der neuen Regierung; wegen seiner hegemonialen Attitüden kam er aber nicht zur konstruktiven Machtausübung; er beteiligte sich nur an der Zerstörung Kabuls im Kampf gegen seine Kabinettskollegen unter dem ohnehin blaß wirkenden Präsidenten Rabbani. Hekmatyar hatte immer öffentlich erklärt, daß nach dem Sieg über den sowjetischen Imperialismus die Befreiung vom US-Imperialismus das Ziel muslimischer Politik sein müßte. In einem Gespräch, das er mit mir Anfang 1981 in Frankfurt führte, bekräftigte er nicht nur diese Position, sondern legte eine ausführliche Begründung vor: er habe den Marxismus-Leninismus ausführlich studiert (tatsächlich war er sogar kurzzeitig Mitglied einer linken Studentengruppe an einem Kabuler College), sei aber schließlich zum Ergebnis gekommen, daß nur der Islam die universelle Lösung für die Probleme der Gegenwart biete. Sein Verständnis des Islam war nicht rückwärts gewandt, kontemplativ, sondern erhob Anspruch auf Modernität. Organisatorisch hatte er viel vom Leninismus abgeschaut; auch seine Politik der Rekrutierung gut ausgebildeter Intellektueller als Kader seiner Hezbe Islami zeigt dies. Intellektuelle, die die Mitarbeit verweigerten, wurden aber häufig liquidiert – eine deutliche Parallele zu den Praktiken der Kabuler Kommunisten. Die Todeslisten, die in Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Geheimdienst erstellt wurden, trieben einen Großteil der noch in Peshawar verbliebenen progressiven afghanischen Intellektuellen in die weltweite Emigration. Dadurch vergrößerte sich die Bedeutung der strikt islamisch orientierten Intelligenz. Vor allem aber machte sich der direkte Einfluß pakistanischer Mullahs immer fühlbarer.

Mit der wachsenden Schwächung von Hekmatyars Position als Ergebnis seines fatalen Engagements 1991, ergab sich für die fundamentalistischen Politiker und Militärs in Pakistan die Notwendigkeit, einen Ersatz zu finden. In dieser Situation kamen die Taliban ins Spiel.

III. Die Taliban als „Ordnungsmacht“

Die Taliban wurden vorzugsweise unter den Kriegswaisen in den Flüchtlingslagern rekrutiert. Außer dem Koranunterricht erhielten sie eine militärische Schulung. Ihre Schulen unterlagen dem Einfluß der extremistischen pakistanischen Parteien wie der Jamate Ulema Islam. Entsprechend der ethnischen Zusammensetzung der Flüchtlingslager in der pakistanischen NW-Provinz handelte es sich bei diesen Jungen in erster Linie um Pashtunen. Der vom pakistanischen Geheimdienst angeleitete Aufbau ihrer Kampfverbände geschah weitgehend unbemerkt von jeder Öffentlichkeit. Die Übernahme der Macht in Kandahar 1994 erregte zwar Aufsehen, wurde aber als lokales Ereignis verbucht. Erst mit dem Vordringen in nordwestliche Richtung und der überraschenden Eroberung Herats im Jahr 1995 wurde das Vordringen der Taliban auch international beachtet. Der Anschluß käuflicher Kommandanten und warlords ermöglichte in kurzer Zeit eine Ausbreitung des Herrschaftsbereichs der extrem fundamentalistischen Bewegung, der 1996 die bereits weitgehend zerstörte Hauptstadt Kabul nach kurzen Kämpfen in die Hände fiel. Hier und in den Städten errichteten die Taliban ein extrem rigides Kontrollsystem. Frauen wurden mit wenigen Ausnahmen aus der Öffentlichkeit und insbesondere aus den Bildungsinstitutionen verbannt. Die Burka wurde obligatorisch. Aber auch Männer wurden bizarren Regeln unterworfen. Das Tragen zu kurzer Bärte und zu langer Haare wurde mit Stockhieben bestraft.

Mit der bereits erwähnten Einnahme von Mazare Sharif 1998 wurde die Eroberung weiter Teile Nordafghanistans eingeleitet, so daß die Taliban schließlich 85-90 % des afghanischen Staatsgebiets kontrollierten. Die 1992 erfolgte öffentliche Folterung und Exekution des bisher unter dem Schutz der UN-Mission stehenden Ex-Staatschefs Najibullah und seines Bruders wurde zum Symbol der Brutalität, mit der die Taliban ihre Auffassung von Scharia durchsetzten.

Es bleibt die Frage nach der erstaunlichen Akzeptanz dieser Herrschaft. Sie beruht generell auf der eingangs von mir wiedergegebenen Verbitterung über die destruktiven Kämpfe der Kriegsparteien und der Sehnsucht nach Wiederherstellung öffentlicher Sicherheit. Selbst Frauen, die unter der Vergewaltigung von Dostums Milizen aber auch anderer „Kämpfer“ gelitten hatten, sahen in der Verbannung aus der Öffentlichkeit zunächst ein Schutzversprechen.

Anfang März 2001 begannen die Zerstörungsarbeiten an den beiden größten Buddha-Statuen in Bamian, die am 9. März zu 80% durchgeführt worden waren. Diese Zerstörungen erfolgten trotz heftiger weltweiter Proteste, auch von Seiten islamischer Autoritäten, nicht zuletzt im Iran. Der von Mullah Omar legitimierte Beschluß, alle „Idole“ in Afghanistan zu zerstören, war innerhalb der Taliban-Führung umstritten. Mit der Durchsetzung des Zerstörungsbeschlusses sollte die Stärke des Willens zur Errichtung eines strikt islamischen Regimes dokumentiert werden. Die Sprengung der Buddha-Statuen sollte nicht nur ein Ärgernis beseitigen; wichtiger war wohl die Zerstörung eines für die schiitischen Hazara wichtigen Zentrums: man darf die Statuen in der breiten und hohen Felswand mit den vielen ehemaligen Mönchshöhlen und zahlreichen weiteren Statuen nicht isoliert vom fruchtbaren Hochtal von Bamian betrachten: hier wurde ein natürlich-kulturelles Gesamtkunstwerk geschaffen, ein für die Hazara in jeder Hinsicht produktiver Mittelpunkt: von der Landwirtschaft bis zum Tourismus (die Statuen waren von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden und waren das attraktivste Touristenziel des an Sehenswürdigkeiten reichen Landes).

Die wiederholt angekündigte Sprengung der Buddha-Statuen entspricht nicht nur dem extremen Fundamentalismus der Taliban; sie sollte demonstrieren, daß ihr Regime entschlossen war, auf die von der UNO verhängten Embargosanktionen und die weitgehende Nichtanerkennung der Regierung massiv zu reagieren. Sie nahmen in Kauf, auf der institutionellen Ebene international noch stärker isoliert zu werden, weil sie dies durch ihre zahlreichen Kontakte zu Militanten in anderen islamischen Ländern und den z.B. auf dem Balkan kämpfenden „Afghanen“, die ob ihrer Brutalität besonders gefürchtet waren, kompensieren konnten. Für das Regime des Mullah Omar reichten die diplomatischen Beziehungen zu Saudi-Arabien, den Vereinigten Emiraten und zu Pakistan zur Not aus. Und da war ja auch der Mujahed und Geschäftsmann Osama bin Laden.

Anmerkungen

Christian Sigrist (*1935) ist emeritierter Soziologieprofessor (Uni Münster), Afghanistan-Kenner und Regimekritiker. Sein Hauptwerk "Regulierte Anarchie” (Frankfurt/M. 1967, Hamburg 1979 und 1994) gilt als "ein Meilenstein der Rekonstruktion antistaatlicher Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens” (Schwarzer Faden Nr. 60, Grafenau 1997).

Eine Fortsetzung seines Afghanistan-Hintergrundartikels wird zur Zeit geschrieben und erscheint voraussichtlich in der nächsten GWR.