Im Zuge des US-Krieges gegen Afghanistan wird seit geraumer Zeit über die pakistanische Grenzstadt Peshawar als einem Zentrum des terroristischen Islamismus berichtet. Vergessen ist, dass Peshawar auch eine gegenteilige Geschichte hat, als Zentrum eines gewaltlos-libertären Aufstands gegen die britische Kolonialmacht, initiiert von den sogenannten „Rothemden“-GandhianerInnen und inspiriert von der gewaltfreien Koran-Interpretation des Abdul Ghaffar Khan, der zudem ein Pashtune (damals Pathanen genannt) ist, also zu der Volksgruppe zählt, der heute schon quasi biologisch ein Hang zu Brutalität zugeschrieben wird, um den Krieg gegen sie zu begründen.
Die Rothemden wurden 1929 gegründet und hatten bereits 1930 ihren Höhepunkt in der Kommune von Peshawar, in welcher die Rothemden gewaltlos britisches Militär zur Desertion verleitete und für kurze Zeit die Stadt Peshawar selbst verwaltete, bis die Briten neue und loyale Truppen heranführten.
Ein islamisches Programm der Gewaltfreiheit
Die Kommune von Peshawar fand im Rahmen der Salzrevolution Gandhis 1930 statt. Obwohl Khan ständig Kontakt zu Gandhi hatte, waren die Rothemden doch immer eine eigenständige und vor allem islamische Bewegung. Erst 1938 besuchte Gandhi die damalige Nordwest-Grenzprovinz des Kolonialreiches und fand eine entwickelte gewaltfrei-islamische Bewegung vor. Der Islam kannte weder ein Konzept der Nicht-Gewalt (ahimsa) noch die religiös motivierte Leidensbereitschaft des Hinduismus. Doch der kriegerische Charakter der pathanischen Volksstämme, die sich vor Khan oftmals selbst bekämpften, verwandelte sich in einen entschlossenen Glauben in die Macht des moralischen Zwangs, eine Art „Heiliger Krieg ohne Waffen“. In die Trainingsprogramme der Rothemden wurden Koran-Zitate eingebaut, die den islamischen Friedensbegriff ausmalten: dazu Khan im Gespräch mit einem militanten Muslim:
„Er kritisierte mich stark und sagte, dass ich den Geist des Islam unterminiere, wenn ich Gewaltfreiheit zu den Pathanen predige. Ich sagte ihm, er wisse nicht, was er sage und dass er das nicht sagen würde, wenn er mit eigenen Augen die wundervolle Transformation gesehen hätte, die die Idee der Gewaltfreiheit inmitten der Pathanen bewirkt hat und ihnen eine neue Vision von nationaler Solidarität gegeben hat. Ich zitierte Absätze und Verse aus dem Koran, um die große Bedeutung aufzuzeigen, die der Islam dem Frieden beimisst. Er ist sein zentraler Kern. Ich zeigte ihm weiterhin, dass die größten Persönlichkeiten in der islamischen Geschichte eher durch ihre Entbehrungen und ihren Verzicht bekannt wurden als durch ihre Brutalität. Die Antwort machte ihn sprachlos.“
Die Rothemden übernahmen das islamische Ziel des Friedens, das der Philosoph Syed A. Ali so formulierte:
„Um ein richtiges Verständnis der Religion Muhammads zu erreichen, ist es nötig, den wahren Gehalt des Wortes Islam zu erkennen. Salaam (salama) heißt erstens ruhig sein, ruhen, seine Pflicht getan zu haben, mit sich in vollständigem Frieden sein; zweitens sich Gott hinzugeben, mit dem der Frieden gemacht wird. Das Hauptwort, das davon abstammt, heißt Frieden, Geborgenheit, Erlösung. Das Wort bedeutet nicht, wie oft angenommen wird, bedingungslose Unterwerfung unter den Willen Gottes, sondern ganz im Gegenteil das Kämpfen für Gerechtigkeit.“
Abdul Ghaffar Khan wird als eine tolerante Person geschildert, der die MuslimInnen nicht von der Welt absondern wollte, sondern sie zur Zusammenarbeit mit anderen Religionen aufrief. So beteiligten sich die Rothemden an vielen Kampagnen zur Verständigung zwischen MuslimInnen und Hindus, und bei ihnen selbst wirkte eine hinduistische Minderheit mit. Dieser Universalismus Ghaffar Khans wirkte sich positiv auch dahingehend aus, dass die islamische Absonderung der Frauen in islamischen Organisationen (Purdah) bei den Rothemden überwunden wurde. Frauen waren Mitglieder der Organisation und beteiligten sich gleichberechtigt an den Aktionen.
Die Kämpfe um Peshawar 1930
Im März 1930 begannen die Aktionen der Rothemden in Peshawar mit Belagerungen von Alkoholläden, Prozessionen und Generalstreiks. Pathanische Frauen standen direkt vor den Polizeireihen oder lagen auf dem Boden und hielten den Koran hoch. Nachdem Ghaffar Khan auf mehreren Kundgebungen gesprochen hatte, wurde er in der dritten Aprilwoche verhaftet. Dies führte jedoch zu verstärkten Demonstrationen. Selbst britische Truppen, die in die Menge schossen, konnten die Bewegung nicht mehr aufhalten, wie ein britischer Bericht zeigt: „Am 23. April brachen in der Innenstadt Peshawars Unruhen aus. (…) Es waren Truppen in der Stadt, aber dreißig Stunden später wurden diese abgezogen – zwei Einheiten des Garwhal-Regiments hatten sich geweigert, der Polizei zu helfen. (Die Aufständischen) hatten daher die praktische Kontrolle der Stadt übernommen: Freiwillige wurden in den Hauptstrassen postiert, um den Verkehr zu regeln, Patroullien streiften nachts durch die Strassen, und Erklärungen wurden jeden Tag an den wichtigsten Plätzen plakatiert, um Ereignisse von öffentlichem Interesse bekannt zu geben. Dieser Zustand dauerte neun Tage.“ (zit. nach Bondurant)
Der Bericht verschweigt, dass die Patroullien der Rothemden alle unbewaffnet waren. Dass Soldaten des renommierten Garwhal-Regiments massenweise den Feuerbefehl auf die Rothemden und die spontan sich solidarisierenden Massen verweigerten, schockte die Briten derart, dass sie eine ganze Truppendivision und ein Luftwaffenkontingent von Risalpur neu heranführen mussten. Diese Zeit nutzten die Rothemden, eine Art Parallelregierung zu etablieren. Auf dem Lande um Peshawar starteten sie eine Kampagne für Steuerboykotts und den Boykott von Abgaben an die Regierung für bereit gestellte Bewässerungsanlagen. Die Rothemden eröffneten Steuerbüros und sammelten Steuern von den Landbesitzern.
Als die neuen Truppen herangeführt waren, begann eine der schlimmsten Repressionswellen in der Kolonialgeschichte. Trotzdem war die Kommune von Peshawar einer der Hauptgründe dafür, dass die Briten in den dreißiger Jahren erste Formen kommunaler Selbstverwaltung für InderInnen zuließen – der erste Schritt zur Unabhängigkeit.
In der aktuellen Diskussion um den „Krieg der Kulturen“ hat der US-amerikanische Regierungsberater Samuel Huntington an einer Stelle in seinem Buch geschrieben, dass alle wirklich neuen Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts zugleich westliche Ideen seien, ob es sich nun um Liberalismus, Demokratie, Menschenrechte, Marxismus oder Anarchismus handele. Nur wer über die unterdrückten Kämpfe, ihre Ideen und Inspirationsquellen auf der ganzen Welt etwas weiß, kann dieser rassistischen Diktion, die heute zur ideologischen Untermauerung des Krieges gegen den Terror verwandt wird, etwas entgegensetzen: sorgen wir dafür, dass weder Anarchismus noch Gewaltfreiheit von sozialen AktivistInnen in aller Welt als fünftes Rad am Wagen des Westens wahrgenommen werden!
Literatur
Joan V. Bondurant: Conquest of Violence, Princeton 1958, darin der Abschnitt "Satyagraha in an islamic setting”, S. 131-144.
Eknath Easwaran, A Man To Match His Mountains, Badshahkhan Nonviolent Soldier Of Islam, Nigligripress, Petluma California, USA, 1984
GWR 125: Gewaltfreie Bewegung im Islam, S. 7f.