anarchismus

Die Krise der Linken… FÄLLT AUS!

Bericht von der 2. anarchistischen Woche in Hannover vom 22.9. - 7.10.2001

| Viola

Liebe Helen,

nun ist die 2. anarchistische Woche fast vorbei und ich habe Zeit Dir endlich einen längeren Brief zu schreiben. Kurz vorweg: es war toll. Wir (die Graswurzelrevolution Hannover) und die Freie ArbeiterInnen Union Hannover hatten letztes Jahr im November angefangen die anarchistische Woche zu planen. Am Anfang der Vorbereitung haben wir uns 14-tägig getroffen, am Schluß 2 bis 3 Mal die Woche, und massenweise telefoniert! So war es nicht nur meine Examensarbeit, die mich davon abgehalten hat, Dich zu besuchen.

Wie Du auf unserer Homepage gesehen hast, haben wir letztendlich dreiundfünfzig Veranstaltungen geplant. So umfangreich hatten wir uns das Programm letztes Jahr nicht vorgestellt und uns war klar, dass uns allen diese vierzehn Tage – neben Arbeit, Umzug, Familie und FreundInnen – leicht über den Kopf wachsen könnte. Ich habe mich vor der anarchistischen Woche noch mal schnell in die Sonne zurückgezogen, wie Du an der Urlaubspostkarte gesehen hast. Kaum zurück, hat mich eine heftige Erkältung ein paar Tage ins Bett gezwungen, so dass die anarchistische Woche vor Überorganisation durch mich verschont blieb und fließen konnte, was ohnehin gut vorbereitet war. Wir hatten geplant, uns täglich am frühen Abend mit dem ganzen Team zu treffen, um die Arbeit fortlaufend zu koordinieren und einen Informationsfluß zu gewährleisten. Dieses Treffen hat nur ein Mal zum Halbzeitresümee stattgefunden. Die Informationen flossen prima bei unseren Begegnungen bei den Veranstaltungen, auf den Gängen und beim nächtlichen Absacken in Kneipen. Die Koordination fand, wo sie im Vorbeigehen nicht ausreichte, am Telefon statt.

Sicherlich, es gab Veranstaltungen, die eine bessere Öffentlichkeitsarbeit verdient hätten und nur von drei bis sieben Gästen besucht wurden, die Schulveranstaltungen sind komplett ausgefallen, weil es keine Anmeldungen gab. Im Nachhinein betrachtet, hätten bei den meisten Veranstaltungen auch nicht viel mehr Gäste in den Räume und Beiträge in den Diskussionen Platz gefunden. Die 2. anarchistische Woche war täglich in der HAZ angekündigt und in überregionalen szene- und hannoverschen Monatszeitungen.

Die 2. anarchistische Woche war von uns, ca. 15 Menschen aus FAU und Graswurzel, vor allen Dingen als Gelegenheit zum gegenseitigen Kennenlernen und Austausch geplant. Dazu wollten wir uns zur Anregung ReferentInnen einladen. An die Programmplanung sind wir ganz egoistisch herangegangen. Wir haben nur das geplant, was uns interessiert. Und wir wollten eine gute Zeit miteinander verbringen. „Der Weg ist das Ziel“ sagten wir uns und wenn keiner kommt, dann hatten wir ein gutes Jahr zusammen. Das Programm ist immer umfangreicher geworden, was ja auch zeigt, dass wir uns gegenseitig eine Menge zu sagen haben. Die Arbeitsbedingungen waren haarsträubend unprofessionell. Wir nutzten vorwiegend unsere privaten PCs und Räume als Büros, was dazu führte, dass die aktuellen Dateien dann doch mal auf einem PC waren, an den wir nun grade nicht herankamen, keine/r das grade vorhandene E-Mail-Programm bedienen konnte oder wir Druckvorlagen nicht herstellen konnten, weil der Drucker kaputt war. Die Plakate und Programme lagerten im Infoladen oder im AStA und manchmal auch im Kofferraum, so verbrachten wir einige Zeit damit unser Zeug immer wieder zusammen zu suchen.

Wir haben die anarchistische Woche schließlich für eine kleine Öffentlichkeit geplant, um FreundInnen und einzelnen Menschen aus anarchistischen Zusammenhängen die Gelegenheit zu geben teilzunehmen. Die umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit haben wir gemacht, um anläßlich der 2. anarchistischen Woche Aufmerksamkeit auf die Ideen des Anarchismus zu lenken. Nicht zuletzt wollten wir angesichts der gegenwärtigen deprimierenden Diskussion (in der Linken) um taugliche Modelle zur Gesellschaftsveränderung, -entwicklung und -organisation, mal qualifiziert darauf hinweisen, dass der Anarchismus der Gesellschaft da noch einiges zu bieten hat.

Davon, dass zur 2. anarchistischen Woche über 1.500 Gäste zwischen 10 und 75 Jahren kamen, von denen wir die meisten weder kannten noch je gesehen hatten, wurden wir nicht nur in Bezug auf den Arbeitsanfall in der „Schlafplatzbörse“ überrascht.

Einige unserer Gäste waren weit angereist, aus dem Ruhrgebiet, Friesland und Dresden. Ein Teil der Gäste beschäftigte sich anläßlich der anarchistischen Woche erstmals mit dem Anarchismus, einige wollten die Gelegenheit nutzen, Informationen vorgetragen zu bekommen oder im Film zu sehen, statt sie sich selber erlesen zu müssen. Andere waren hervorragend vorbereitet und führten hochqualifizierte Diskussionen. Einige belebten die Diskussion durch ihre Spontaneität. Meine Highlights: 1. Die Frage aus den Reihen der Gäste: welche Drogen Gustav Landauer genommen habe, um so drauf zu kommen, wie es im Vortrag geschildert wurde, beantworteten mehrere andere Gäste gleichzeitig mit: „Junge, der hat gelesen!“ und „Ein gutes Buch, das ist besser als Drogen!“. 2. Ein Gast wurde durch sein Kind als Zeitzeuge der anarchistischen Bewegung im Hannover der 60er und 70er Jahre geoutet, später ergänzte der Vater den Vortrag an entsprechender Stelle. Er erzählte die Geschichte der gewaltfrei-libertären Direkten Aktion, die 1964/65 in Hannover als eine Vorläuferzeitung der graswurzelrevolution erschien.

Wären wir flexibler gewesen, hätten wir den Gästen „Die Pest“ nicht mit dem dann doch eher winzig wirkenden TV-Gerät vorgespielt sondern mit dem Beamer. Dreißig Gäste harrten bis weit nach Mitternacht auf ihren Stühlen aus.

Eigentlich wollte ich bei der Beschreibung der 2. Anarchistischen Woche am Anfang anfangen. Aber der Beginn mit der Auftaktparty war dann gar nicht mehr der Anfang, weil die Einführungsveranstaltung „Was sie schon immer über Anarchie wissen wollten, aber nie zu fragen wagten“ bereits am Tag vor der Auftaktparty (und zusätzlich zum Programm) in Langenhagen stattfand. So fange ich jetzt noch einmal, wenn auch nicht am Anfang, so doch von vorne an:

Aufgrund der Zusammenarbeit von Graswurzel und FAU konnten wir unsere vielfältigen Kontakte einbringen und eine prima Infrastruktur für die 2. anarchistische Woche nutzen. Als Veranstaltungsorte hatten wir Räume gewählt, die durch ihre Entstehungsgeschichte nahezu Teil der Neuen Sozialen Bewegung sind. Der Pavillon und das UJZ Kornstraße wurden vor fast dreißig Jahren als erste „Jugendzentren“ in Hannover durch Demonstrationen, Hausbesetzung und zähe Verhandlungen ertrotzt. Die unterschiedliche Entwicklung der beiden, die auch durch die unterschiedlichen Legalisierungs- und Professionalisierungsprozesse bedingt ist, könnte allein Gegenstand einer umfangreichen Betrachtung sein. Die schreibe ich jetzt nicht. Ich schreibe Dir lieber, dass die Betreuung im Pavillon super war oder um es mit den Worten von Moses aus der FAU zu sagen: „Die tragen uns hier noch den Arsch hinterher“.

Im Pavillon ist auch die städtische Oststadtbibliothek, in deren Räumen wir einen Teil der Veranstaltungen durchführen konnten. Außerdem bekamen wir dort ab Anfang September ein Schaufenster zur Ausstellung „anarchistischer Devotionalien“, „antiker“ Graswurzeln und Literatur zum Anarchismus aus dem Bestand der Stadtbibliothek Hannover.

Die beiden anderen Veranstaltungsorte sind auf dem Sprengelgelände in der Nordstadt und jüngere Projekte. Ich weiß nicht, ob es das Kino im Sprengel schon gab, als Du noch in Hannover gewohnt hast. Inzwischen gibt es einen richtigen Kinosaal und kompetente MitarbeiterInnen, ohne deren Einsatz, wir den Kino-Teil der anarchistischen Woche nicht auf die Beine gestellt bekommen hätten.

Ein Teil unserer Gäste konnte auch in „Projekten“ (Sturmglocke und Baukasten) übernachtet. Unser Angebot in der Volxküche zu speisen, wurde von nur wenigen Gästen angenommen. Andererseits wurde mehrfach Bedarf nach Raum und Zeit für weitere Diskussionen deutlich, was wir so nicht vorausgesehen hatten und auch so schnell nicht einrichten konnten.

Zu Beginn habe ich Dir geschrieben, dass die 2. anarchistische Woche fast vorbei ist. „fast“, weil „Was sie schon immer über Anarchie wissen wollten…“ in den nächsten Wochen durch die Republik tourt. Ein Video-Mitschnitt vom „Spiel ohne Grenzen“ (Eine Spielshow zu Humangenetik und Migration) wird wohl zumindest in Hannover im Offenen Kanal veröffentlicht. Das hängt dann nicht mehr so sehr an uns, weil das Spiel und der Video-Mitschnitt von der Anti-EXPO-AG gemacht wurden, die ähnlich wie das Kino im Sprengel, ohne mit der Wimper zu zucken, Teile an der Arbeit übernommen haben, die wir nicht mehr selber leisten konnten.

Die Eindrücke und Erkenntnisse aus dieser Woche werden an andern Stellen (wenn auch nicht immer offensichtlich) wieder auftreten, wenn Impulse aus den Veranstaltungen z.B. zur Initiative im hannoverschen Abschiebeknast oder zur Entwicklung der türkisch-deutschen Otkökü (Graswurzel) aufgegriffen werden. Was ich mir wünsche ist, dass „unsere“ ReferentInnen an anderer Stelle ganz offensichtlich wieder auftreten, und da gilt unser Angebot für Unterstützung bei der Vermittlung über die anarchistische Woche hinaus. Unsere Internetadresse (Anarchistische_wochen@gmx.de) besteht auch dafür weiter.

Da ich nicht an allen Veranstaltungen teilnehmen konnte, kann ich auch nicht zu allen ReferentInnen etwas sagen. Um Dich mit meiner Begeisterung für die ReferentInnen, die ich gesehen habe, nicht zu nerven, fasse ich mich kurz und ich treffe eine Auswahl. Beeindruckend: die enthusiastische Art, in der Wolfgang Eckhardt seinen Forschungsgegenstand: Michael Bakunin während des Vortrages geradezu verkörpert. Witzig und feurig: Die Unterhaltung mit dem Zauberer Matthias Wesslowski zu „Anarchismus im Spannungsfeld von Fiction und Illusion“. Spannend wie ein Krimi und nicht zuletzt durch die Untermalung mit dem Klavier, wie ein schwarz-weiß Film: die szenische Lesung: „Mord im Sachsenlager 5“. Da könnte ich mir tatsächlich vorstellen, dass diese Veranstaltung einerseits auch Deine Jugendlichen mitreißt, andererseits vielleicht auch eine Anregung dazu sein kann, eine eigene Inszenierung zur eigenen Migration zu machen. Bei den Veranstaltungen von Bernd Drücke – zu „libertäre Presse“ und „Otkökü“ – tauchte bei mir immer wieder der Gedanke auf, den Jugendlichen ein Kommunikationsmittel an die Hand zu geben, um deren eigenen Ausdruck zu fördern. Vielleicht diskutieren wir das bei meinem nächsten Besuch bei Dir?

Schade, dass Du nicht dabei warst. Die 3. anarchistische Woche in Hannover machen wir 2021. Da bilden wir dann bestimmt Schwerpunkte zu den Themen Syndikalismus, Freie Liebe, Wahlboykott und Antimilitarismus, die wir dieses mal nur am Rande betrachtet haben.

Dann sind Deine Kinder „aus dem Gröbsten raus“ und ich hoffe Du kannst vorbeikommen. Bis bald.