"Ein religiöser Glaube hat dasselbe Recht wie jede andere ideelle Bewegung, nach dem beurteilt zu werden, was er wirklich will, und nicht danach, wie menschliche Schwäche und Erbärmlichkeit das Ideal verfälscht haben"
Schwedisch-lutherischer Bischof in einer Biographie Mohammeds, zitiert nach der Friedenspreisrede der Islamistin Annemarie Schimmel in Frankfurt a.M. 1995.
Es war ein Anblick zum Abgewöhnen: Günter Kunert, anerkannter Lyriker, Ex-DDR-Dichter mit sanftem Hang zum Dissidententum, dem die deutsche Literatur einige ihrer schönsten politischen Verse verdankt, vor den Kameras eines privaten Kulturmagazins. Schwammig und aufgedunsen, kahlköpfig, dafür aber mit zwei ostentativ breiten Hosenträgern bespannt, auf denen alle paar Zentimeter die Flagge der Vereinigten Staaten prankte, ließ er sich aus über „Gefahren des Islam“. Er wolle, so Kunert „um Gottes Willen“ nichts gegen „unsere muslimischen Mitbürger“ sagen. Es sei aber doch nicht zu leugnen, daß im Islam ein „Gefahrenpotential“ schlummere, größer als das jeder anderen Religion. „Wenn Sie einem Katholiken sagen: ‚Geh hin und töte den da!‘, dann wird er das nicht tun“, verkündete der Herr vor dem Gartenfenster gelassen „Ein Muslim“ – bequemes Räkeln auf dem Sessel, dann kurzes Zupfen an den patriotischen Hosenträgern – „tut es!“. Und warum? „Weil“, so Kunert mit Überzeugung, „das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ für den Islam keine Bedeutung hat“. Aha.
Feindbild „Islam“
Vollendete, oft böswillige Ahnungslosigkeit ist es, die den Islam, eine der größten und historisch wie kulturell faszinierendsten Religionen dieses Planeten, gegenwärtig wieder einmal zur „Religion des Terrors“ promoviert. Begriffe wie „Fundamentalismus“, „Gewalt“ und „Irrationalität“ scheinen wie festgeklebt an seinem Namen. Als ewiger Feind des „zivilisierten Westens“ dräut er von jenseits des Mittelmeeres, ein dunkles, undefinierbares Gemisch aus „Rückständigkeit“ und „Aggression“ (Konzelmann), das sich nun anschickt, nachdem Karl Martell es dazumal vor Tours und Poitiers noch heldenhaft hatte zurückwerfen können, das christliche Abendland endgültig zu überrennen. Im Internet versorgen Unwissende oder Scharfmacher – die Grenzen sind fließend geworden – erschrockene Bürgerinnen und Bürger mit besonders martialischen Koranzitaten, allesamt gründlichst aus dem Zusammenhang gerissen und auf Grausigkeit getrimmt, und hier und da wird das heilige Buch des Islam gar schon mit Hitlers „Mein Kampf“ gleichgesetzt:
„Es ist hier ein zur Vernichtung entschlossener Antisemitismus am Werk – darin seinem nationalsozialistischen Vorbild auf qualitativer Ebene durchausebenbürtig -, der die Wahl- und Maßlosigkeit des palästinensischen Massenmordens begründet. In dieser Hinsicht kommt momentan dem Koran eine ähnliche Rolle zu wie seinerzeit Hitlers Machwerk ‚Mein Kampf‘ in Deutschland. Die palästinensische Gesellschaft in ihrer jetzigen Gestalt ist konstitutionell friedensunfähig und -unwillig; allein das islamistisch inspirierte Vernichtungsprojekt hält sie zusammen.“ (aus: Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Mörder! 1. Stellungnahme der BAHAMAS-Redaktion zum islamistischen Massaker in den USA)
Daß es sich bei der neuerlichen Verteufelung des Islam weit mehr um ein rassistisches als theologisches Clichée handelt, wird rasch deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die raschest wachsende muslimische Gemeinde sich keineswegs in den Arabischen Ländern befindet, sondern in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ausgerechnet der amerikanische Bundesstaat Texas, genauer die texanische Großstadt Houston – keineswegs San Francisco oder New York! – hat sich zur größten muslimischen Enklave jenseits des Atlantik entwickelt. Man wird derart gewöhnt an jenen blutgierigen Kinderschreck mit dem Turban und dem langen Bart, daß es vielen ZeitungsleserInnen – selbst den wohlmeinenderen – kaum mehr vorstellbar sein dürfte, daß ganz selbstverständlich Tausende von weißen, artig glattrasierten Westeuropäern oder US-Amerikanern sich zum Islam bekennen, täglich ihre Gebete verrichten und den Fastenmonat einhalten; ebenso, wie tausende arabischer Christinnen und Christen in ihren Gotteshäusern zu „Allah“ beten. Denn das arabische Wort „Allah“ bedeutet nichts weiter als „Gott“ – eine Tatsache, die den selbsternannten „Islam -Experten“ und ihren Exegeten vermutlich niemals beizubringen sein wird, die in ihrer Beharrlichkeit, „Allah“ statt „Gott“ zu sagen und zu schreiben, wo immer es nur geht, aus dem monotheistischen Gott der Juden, Christen und Moslems – keineswegs zufällig – so etwas wie einen rein islamischen Fetisch schnitzen. Auch fundamentalistische Bewegungen sind keineswegs auf den Islam abonniert. Die radikale Siedlerbewegung in Israel darf man wohl mit Fug und Recht als jüdisch-fundamentalistisch bezeichnen, und christlicher Fundamentalismus ist eine zunehmende Bedrohung, etwa, wenn Abtreibungsgegner in US-Amerikanischen Kliniken Amok laufen. „Alle Religionen können fundamentalistisch werden“, sagt der Hamburger Orientalist Gernot Rotter: „Das liegt auch daran, daß diese Religionen mit sogenannten heiligen Texten operieren. Heilige Texte aber sind normative Texte. Und normative Texte haben den ‚Vorteil‘, daß sie wie Steinbrüche gehandhabt werden können. Man kann sich aus ihnen jeweils den Brocken herausbrechen, den man gerade für seine Argumentation braucht. (…) So kann man natürlich im Islam Militanz genauso wie absolute Friedfertigkeit mit dem Koran (…) begründen“. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: nicht Religion ist das Entscheidende, sondern die gesellschaftliche und politische Situation, in der sie zu bestimmten Zwecken und im Interesse bestimmter Gruppen funktionalisiert wird. Es ist keineswegs uninteressant zu untersuchen, wie z.B. radikalislamische Organisationen ihre An, – und Absichten aus dem Koran zu stützen suchen, oder bestehende Strukturen islamischer Gemeinden für ihre Machenschaften nutzen. Ebenso, wie es interessant ist, zu beobachten, wie mediale „Glaubenskrieger“ des „Westens“ auf Mattscheibe und Zeitungsseiten mit ein paar Halbwahrheiten und Lügen die Kriegstrommel rühren. Religion aber bleibt Folie, Legitimation, Auslegung, Rechtfertigung – und niemals Handlungsgrund! Wer die Motivation etwa palästinensischer Jugendlicher erfahren möchte, die selbstbewußt und ruhig verkünden, sie freuten sich darauf, als „Märtyrer“ für die Sache Palästinas zu sterben, und dabei mit nichts weiter hantieren kann als den muslimischen Vorstellungen vom Paradies, hilft – gewollt oder ungewollt – mit, die arabische Welt weiter zu verteufeln. Diese Verteufelung aber muß, bleibt sie weitgehend unwidersprochen, dazu führen, daß irgendwann alle Menschen islamischen Glaubens in einer seit dem 11. September auf billige, wiewohl blutige Polarisierung zusteuernden Welt zu „Feinden“ erklärt werden – in Deutschland wären das allein über 3 Millionen Menschen, weltweit schätzungsweise 1,5 Milliarden…
Weniges hilft besser, tatsächliche Handlungsgründe zu erfassen und ein seit Jahrhunderten schiefes Bild der islamischen Welt etwas gerade zu rücken, als Kenntnis, und sei es nur rudimentäre, der Geschichte und Traditionen des Islam selbst. Der Autor dieser Zeilen wird nicht von sich behaupten können, mehr als eben solche rudimentären Kenntnisse zu besitzen. Wenn aber die ExpertInnen schweigen, müssen „Minderbemittelte“ ran.
Das Schreckgespenst der Scharia
Am Beispiel der Scharia, des Islamischen Rechtssystems, läßt sich wie an kaum einer anderen Besonderheit der Islamischen Welt veranschaulichen, wie Vorurteile und Irrtümer den Blick auf die wahren Hintergründe und Gefahren bestimmter Entwicklungen, nicht nur im Nahen Osten, verstellen können:
Nichts scheint für „den Westen“ so furchteinflößend und bedrohlich zu sein wie die fortschreitende „Islamisierung“ im Rechtsgefüge arabischer bzw. afrikanischer Staaten, die Einführung der Scharia in eigentlich weitgehend säkularisierten Ländern wie beispielsweise Nigeria oder die Debatte um eine Angleichung des ägyptischen Strafrechts an die „Gebote des Koran“, wie sie von der einflußreichen Muslim-Bruderschaft noch Ende der neunziger Jahre gefordert wurde und wohl erst mit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon ein Ende finden dürfte. Für uninformierte BetrachterInnen stellt sich die Scharia als eine Abfolge grausiger, mittelalterlicher Strafen dar, die ungebrochen seit dem 8. Jahrhundert angewandt worden seien: für Ehebruch Auspeitschung oder Steinigung beider Beteiligter, einem Dieb soll die Hand abgehackt werden usw. Darüber hinaus schreibe die Scharia die Überlegenheit des Mannes fest, dem sogar das Züchtigungsrecht innerhalb der Familie noch zugestanden werde. Wie kaum etwas scheint die Scharia die „Rückständigkeit“ und „Menschenverachtung“ des Islam unter Beweis zu stellen und im Widerspruch zu „westlichen“ Prinzipien wie „Freiheit“ und „Menschenrechte“ zu stehen…
Die Existenz – und mitunter Anwendung – brutaler Körperstrafen und die streng patriarchale Ausrichtung diverser Vorschriften sind für einzelne Staaten nicht zu bestreiten. Dennoch sieht die Wirklichkeit anders aus und ist – man ahnt es – komplizierter.
„Für den klassischen und den modernen Islam“, schreibt Baber Johansen, Professor für Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin und einer der wenigen ausgewiesenen europäischen Kenner der islamischen Rechtsgeschichte, „spielt das islamische Recht eine Rolle als normatives System, das grundlegenden Geboten der Religion Ausdruck geben soll. Dieses Recht ist aber nicht nur auf die Offenbarung bezogen, also nicht nur auf den Koran, die Sunna, das heißt die Praxis des Propheten und den Konsensus der Gemeinden, sondern auch auf die politische Gemeinde der Muslime, in der es eine Vielzahl von Nichtmuslimen gibt. Das islamische Recht hat daher einen doppelten Bezug. Einmal auf die politische Gemeinde, auf den Herrschaftsapparat und auf die politische Organisation der Muslime, sowie weiter auf die Offenbarung selbst“. Das heißt: von Anfang an war die Scharia eine Auslegung der grundlegenden Quellen des Islam, die den politischen und religiösen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit Rechnung tragen mußte – etwas, das islamische Fundamentalisten nicht gerne hören! Zwar gilt gläubigen Muslimen der Koran als das unmittelbare Wort Gottes, das – anders als in der Bibel – nicht durch Vermittlung Dritter überliefert, sondern dem Propheten direkt diktiert worden sei, ebenso selbstverständlich aber war es dem islamischen Glaubensverständnis, daß ein Normalsterblicher Gottes Wort nicht ohne weiteres fassen könne, daß es also der Interpretation bedürfe, und daß diese Interpretation anfechtbar sei. Der frühe Islam entwickelte ein nicht – kodifiziertes, dialogisches, man könnte fast sagen „demokratisches“ Rechtsgefüge, ein sogenanntes „Juristenrecht“, das in vielerlei Hinsicht beweglicher und menschlicher war als das bürokratisch-formelle Recht heutiger Tage, und das bis ins 19. Jahrhundert hinein Geltung besaß. Rechtsstreits wurden (auch) verstanden als Annäherung an das Wort Gottes, Prozesse zu gelehrten Disputen juristischer Auslegung der Offenbarung. Das Rechtsverständnis entwickelte sich auf diese Weise kontinuierlich weiter, zumal eine Professionalisierung der Jurisprudenz zunächst auf sich warten ließ, sondern gelehrte Würdenträger das Richteramt ausübten. Da etwa der Koran als vielleicht wichtigste Quelle der Scharia, abgesehen von den bereits erwähnten sogenannten Hadd-Strafen, kaum ausdrückliche Straffestlegungen enthält, und, wie jedes große Buch menschlicher Geistigkeit, eine schier unbegrenzte Zahl von Lesarten zuläßt, wirkte dieses System der Rechtsprechung Jahrhunderte lang wie eine Schutzklausel für die Angeklagten – auch wenn die verhängten Strafen, ganz wie im christlichen Europa, mitunter drakonisch ausfielen.
Dialog und Paragraphen
Wie wenig gerade der Koran als Gesetzestext im Sinne eines modernen Paragraphenrechts zu lesen ist, erschließt sich auch daraus, daß unter den einzig dezidiert aufgeführten Bestrafungen, eben jenen Hadd- Strafen, zwar, wie gesagt, Vergehen wie Ehebruch, Diebstahl, Alkoholgenuß (!) und Apostasie (das Abfallen vom rechten Glauben) zu finden sind, ein so schwerwiegendes Delikt wie Mord aber gar nicht aufgeführt wird. Auch die Anwendung der (tatsächlich mittelalterlichen) Strafpraxis und ihre Deklarierung zum glaubenskonformen Rechtsprinzip, das keiner weiteren Diskussion mehr bedürfe, muß also aus der politischen Situation der jeweiligen Staaten erklärt werden, und nicht aus dem Islam. Denn Muslime wie islamische Staaten rund um den Globus berufen sich zwar allesamt auf die gleichen grundlegenden Quellen (Koran, Haidith, Konsensus der Gläubigen und Scharia), von einem einheitlichen Glaubensverständnis aber kann nie und nirgends die Rede sein. „Der Islam ist keine Kirche, keine verfaßte Gemeinschaft“, erklärt Muhammad Salim Abdullah, Direktor des Zentralinstituts Islam-Archiv-Deutschland in Soest: „Bei uns ist jeder Moslem selbst bestimmt, auch in seiner Auslegung des Islam. Zweitens: Jeder Staat gibt das Bild des Islam vor, bestimmt die Lehren, legt die Texte fest, die zu predigen sind“. Die rigorose Anwendung der berüchtigten Körperstrafen, von radikalen Kräften als unmittelbares Gebot Gottes deklariert, bleibt daher ein politisches und kein theologisches Phänomen: Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet die Taliban das in dieser Hinsicht rigideste Strafsystem eingeführt haben und damit gerade auch in der islamischen Welt auf Ablehnung stoßen – dient es doch auf brutale Weise der Unterdrückung möglichen Widerstandes und dem Erhalt ihrer Macht in einem von Krieg und Bürgerkrieg zerrütteten Land. In Saudi-Arabien hält sich eine äußerst korrupte, feudale Herrscherclique mittels fundamentalistischer Rechtspolitik seit Jahrzehnten an der Macht – mit Segen des „Westens“. Die Fixierung des ursprünglich dialogischen Rechtes auf ein kodifiziertes positives Recht nach westlichem Muster im Zuge der Entstehung postkolonialer Nationalstaaten im Orient öffnete in dieser Hinsicht machtbewußten Cliquen Tür und Tor. So legten zahlreiche Staaten unter anderem fest, daß nach dem Koran Apostasie, also das Abfallen vom rechten Glauben, ohne Umschweife mit dem Tode zu bestrafen sei. Als Apostasie aber galten vor ihren Gerichten „sozialistische Umtriebe“! Opfer eines solchen „Gesinnungsstrafrechts“ (Johansen) wurden, Ironie des Schicksals, nicht selten Mitglieder damals noch weitgehend links ausgerichteter islamischer Gruppen. Auch in Staaten wie dem Sudan oder Nigeria dient die „Islamisierung“ des Rechtes heute dem Machterhalt korrupter und meist diktatorischer Regime – ganz wie in „westlichen“ Diktaturen Repression und Terror wüten, nicht selten ebenfalls aus einer Religion, diesmal freilich der christlichen, legitimiert. Und gerade an einem Staat wie Nigeria, in dem der Erdölgigant Shell mehr als ein Wörtchen mitzureden hat und in dem der Widerstand der Ogoni, wohl auf immer mit dem Namen des ermordeten Schriftstellers und alternativen Nobelpreisträgers Ken Saro-Wiwa verbunden, gegen Shells menschenverachtende Förderpolitik im Niger-Delta brutal niedergehalten wird, kann man sich die Rolle des „Westens“ bei dieser Entwicklung vor Augen führen…
Die Verfolgung der Verfolger
Richtig ist ohne Zweifel, daß sich in den letzten Jahren vor allem in arabischen Raum eine Veränderung feststellen läßt: es sind nun meist radikale Gruppen, u.a. eben jene so viel beschworenen Fundamentalisten, und nicht staatliche Parteien oder Politiker, die eine Verschärfung des Strafsystems fordern. Man soll sich hüten, das Gefahrenpotential und den wachsenden Einfluß solcher Gruppen klein zureden – auch wenn von einer noch so engstirnigen Glaubenssekte zu einem Selbstmordattentäter noch mancher Schritt zu gehen bleibt und ein schlüssiger Beweis für die Beteiligung islamischer Gruppen an der Bluttat von New York und Washington – wie plausibel sie auch immer scheinen mag! – nach wie vor aussteht. Muslimische Soziologinnen und Soziologen haben immer auf die Gefahr durch sogenannte islamistische Gruppen hingewiesen – eine Gefahr freilich, die sich in erster Linie auf jene Länder erstreckt, in denen diese Gruppen ihren Rückhalt finden. Auch was ihre Arbeit in europäischen Ländern angeht, so Muhammad Salim Abdullah, solle man sich vor unseriöser Panikmache hüten: „Was die Innenministerkonferenz in ihrer Reaktion nicht bedenkt, ist die Tatsache, daß sich die Gewalt solcher Extremisten zunächst immer gegen Moslems anderer Ausrichtung richtet. Die Liberalen unter uns sind die am ehesten Gefährdeten. Nicht ein Christ oder ein Politiker hat schon einmal gefordert, mir den Kopf abzuschlagen, sondern Metin Kaplan, der selbst ernannte ‚Kalif von Köln‘. Wir werden als erste bedroht, die andere Bevölkerung weit später oder vielleicht gar nicht“.
Was dem Ruf extremistischer Gruppen nach einer schärferen Handhabung der Scharia in manchen Staaten Gehör verschafft, dürfte nicht zuletzt die versuchte „Abwehr westlicher Hochmütigkeit“ sein, meint die Orientalistin Gudrun Krämer. Die fortgesetzte Marginalisierung der arabischen Welt durch die Industriestaaten des „Westens“ führe zu einer verbitterten „Rückbesinnung“ auf die angeblichen „Grundfesten“ muslimischer Identität – und damit zu einer extrem reaktionär-klerikalen Politik, mit der freilich meist die innere Zerrüttung lediglich überspielt werden kann. Gernot Rotter geht in seiner Analyse noch weiter: „Es ist eigentlich das neu eskalierende Feindbild des Westens gegenüber dem Islam, das innerhalb der islamischen Welt ein Gegenfeindbild hervorgerufen hat“. Interessanterweise verstoßen islamistische Gruppen nämlich gegen grundlegende Traditionen des Islam – und kommen dabei den „Positionen“ ihrer „westlichen“ Gegner, was Unkenntnis und Engstirnigkeit angeht, erstaunlich nahe. Fundamentalisten in Ägypten lassen nur mehr den Koran als Glaubensgrundlage gelten, alles andere ist ihnen bereits vom „Westen“ verderbtes Teufelszeug. Die Scharia soll hier gewissermaßen mit eisernem Besen den „westlichen Schmutz“ davonfegen und die Fiktion einer „rein islamische Gesellschaft“ befördern. Tatsächlich sind die realen Handlungsmöglichkeiten solch rückschlägiger Gruppierungen in der politischen Arena klein. Und auch der Glaube – sollte er denn ernst gemeint sein und nicht nur einer Diktatur den Weg ebnen – mit Hilfe von Gesetzen tiefe soziale Probleme lösen zu können, müßte WesteuropäerInnen bekannt vorkommen, wie Baber Johansen anmerkt: „Die Erwartung, daß das Recht Probleme lösen wird, zu deren Lösung man der Politik die sachliche und moralische Kompetenz abspricht, ist – wie man in Italien, aber auch in anderen Teilen Westeuropas sehen kann – nicht auf die Gesellschaften des Nahen Ostens beschränkt“. Bedenkt man darüber hinaus, daß es vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika waren, die während des kalten Krieges islamistische Gruppen wie die Hamas als „Puffer“ gegen den „Kommunismus“ nutzten und massiv unterstützten, wird auch hier deutlich, wie wenig man den wirklichen Problemen nahekommt, wenn man wie hypnotisiert auf die islamische Religion stiert und andächtig der Schauermär der Günter Kunerts dieser Welt lauscht. Ein unvoreingenommener und neugieriger Umgang mit der Welt des Islam wäre Menschen und Medien gerade in dieser Situation dringend anzuraten, statt populistischen Tanderadeis und Hokuspokus.
Anmerkungen
Quellen dieses Artikels waren unter anderem:
Bey, Essad, Mohammed, (=dtv Biographie), München, 1993
Burgmer, Christoph (Hrsg.), Der Islam. Eine Einführung durch Experten, Suhrkamp-Verlag Köln, 1998. (Dieses Buch enthält eine sehr hilfreiche Bibliographie und ist auch sonst Interessierten unbedingt zu empfehlen).
Hourani, Albert, Die Geschichte der Arabischen Völker, Frankfurt a.M., 1992
Rotter, Gernot, Allahs Plagiator. Die publizistischen Raubzüge des "Nahostexperten" Gerhard Konzelmann, Heidelberg, 1992.
Klemm, Verena/ Karin Hörner (Hrsg.), Das Schwert des "Experten". Peter Scholl-Latours verzerrtes Araber - und Islambild, Heidelberg, 1993.
Die Zitate von Muhammad Salim Abdullah entstammen einem Interview vom 21. September 20001 im Süderländer Volksfreund