Der Krieg ist ein Lehrmeister, aber in ganz anderem Sinne als es die KriegsbefürworterInnen sich erhoffen: er scheidet die Reihen innerhalb der früheren Linken. In Zeiten des Krieges zeigt sich das wahre Ich: so war es bei Noske, so ist es noch heute bei manchen Antideutschen wie etwa den „Bahamas“ (ex-Kommunistischer Bund, Gruppe K) oder Teilen der Wochenzeitung „Jungle World“: Deutschland führt Krieg an der Seite der USA, aber die „Antideutschen“ sind dafür!
Das ist der Bankrott aller antideutscher Ideologie. Sie spucken Gift und Galle auf die wiedererstehende Friedensbewegung und doch ist gerade diese die einzige Kraft, die sich gegen die deutsche Beteiligung an diesem Krieg und damit gegen deutsche Weltmachtallüren wendet. In alter Golfkriegsmanier brauchen diese Antideutschen auch jetzt einen Wiedergänger Hitlers; und das ist diesmal der Koran, den sie mit „Mein Kampf“ gleichsetzen (vgl. Feindbild „Islam“, GWR 263, S. 1 u. 8).
Jedes „Heilige Buch“ der Buchreligionen unterscheidet sich aber von „Mein Kampf“ dadurch, dass es im Gegensatz zu Hitler mehrdeutig interpretierbar ist, dass sich brutale, herrschaftsbegründende Stellen mit ethischen, befreienden Stellen abwechseln. Der Vergleich ist also dann rational widerlegt und als blanker Rassismus zu deuten, wenn sich – wie im Judentum (z.B. Martin Buber) und im Christentum (z.B. Tolstoi) – auch für den Koran Interpreten finden lassen, die eine libertäre Koran-Interpretation vorlegen können. Es gibt sie zuhauf, vor allem im islamischen Sufismus; als Beispiel sei hier der Sudanese Mahmud Taha genannt, der 1985 als Ketzer (im Islam: Apostat) hingerichtet wurde.
Mahmud Tahas Koran-Interpretation
In seiner wichtigsten Schrift „Die zweite Botschaft des Islam“ von 1967 unterscheidet Taha zwei Phasen im Leben des Propheten Muhammad: eine für sein Leben in Mekka und eine für seine Zeit in Medina. Nur die Predigten der mekknischen Phase (biographisch vor der medinensischen gelegen, aber in Tahas Begrifflichkeit paradoxerweise als „zweite Botschaft“ bezeichnet) haben nach Tahas Interpretation allgemeingültigen Charakter; die Predigten in Medina (Erste Botschaft) seien dagegen zeitbezogen, hätten im 7. Jahrhundert Gültigkeit besessen, aber heute nicht mehr. Taha ordnet der medinensischen Phase, in welcher Muhammad mit den Herrschenden kooperierte und den Krieg gegen Mekka vorbereitete, koranische Verse über den Dschihad zu – den bewaffneten Kampf gegen Ungläubige, den Taha im Unterschied zu Versuchen, ihn gewaltlos umzuinterpretieren (z.B. beim islamischen Gandhianer Abdul Ghaffar Khan), vollständig verwirft. Zur medinensischen Phase gehören nach Taha auch die Sklaverei, der Kapitalismus, die Sharia und die Unterdrückung der Frau. Die gepredigten Prinzipien in Mekka, als Muhammad Unterdrückter und Outlaw war, seien dagegen koranische Verse über friedliche Überzeugung, rechtliche Gleichheit von MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen, Gleichheit der Geschlechter (in Tahas Organisation waren Frauen gleichgestellte Mitglieder; Schleier, Polygamie und Geschlechtertrennung wurden abgelehnt). Im Zentrum der mekkanischen Predigten steht zudem nach Taha die individuelle Freiheit in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit:
„Das grundlegende Prinzip im Islam ist, dass jeder Mensch frei ist. (…) Das grundlegende Prinzip im Islam ist Gemeinschaftlichkeit des Besitzes.“ (Taha zit. nach Övermann)
Recht – bei Taha wie auch im Anarchismus – gleichgesetzt mit zu Macht geronnener Gewalt, musste nach dieser Interpretation im 7. Jh. die Menschen aufgrund ihrer Unvollkommenheit und Unaufgeklärtheit zur Unterdrückung gesellschaftsfeindlicher Triebe zwingen. Je höher sich allerdings die Vernunftmaßstäbe menschlicher Gesellschaften entwickelten, desto eher waren nach Taha rechtliche Zwänge zurückzunehmen. Die Sharia wird für das 7. Jh. Rückblickend gerechtfertigt, für das 20. Jh. jedoch abgelehnt. Doch auch das moderne westliche, von drakonischen Körperstrafen zu großen Teilen befreite Demokratie- und Verfassungsrecht ist für Taha nur Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer neuen Zivilisation: Wo das Ausleben individueller Freiheit den/die Einzelnen dazu führt, „nicht einmal in seinem tiefsten Innern eine Bosheit gegen irgendjemanden“ zu hegen, wo „Unwissenheit abnimmt und das Wissen zunimmt“, wo „Übereinstimmung von Handeln und Bewusstsein“ vorliegen, befindet sich nach Taha ein Individuum „auf dem höchsten Niveau des Islam, wo Einschränkungen des Gläubigen durch Verbote, aber auch durch Strafen obsolet sind.“ (Taha) Im Gegensatz dazu befinden sich weder Bin Laden noch die „Bahamas“ auf irgendeinem Niveau des Islam, schon gar nicht dem höchsten. Nach Tahas Interpretation schätzt Gott individuelle Freiheit so hoch, „dass er sie an sich durch gar keinen Bevollmächtigten habe einschränken wollen, der Islam an sich also selbst über eine parlamentarische Vertretungsdemokratie hinausgehe.“ Taha als Befürworter der aufgeklärten Anarchie infolge einer libertären Koran-Interpretation. Frage an die Antideutschen: ist sowas mit Hitlers „Mein Kampf“ möglich, auch nur denkbar?
Literatur
Annette Övermann: Die "Republikanischen Brüder" im Sudan. Eine islamische Reformbewegung im 20. Jahrhundert, Verlag Peter Lang, Frankfurt 1993.
Diverse Artikel über Taha in der GWR Nr. 132 und 191.