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Bin Laden und die Moderne

Woher kommt der islamistische Terror und wie kann er anders als durch Krieg bekämpft werden?

| Fang

Nachdem in GWR 263 in verschiedenen Artikeln dagegen argumentiert wurde, den westlichen "Krieg gegen den Terror" als Krieg gegen den Islam und damit gegen 1,2 Milliarden Menschen, als "Krieg der Kulturen" im Sinne der reaktionären Thesen S. Huntingdons zu legitimieren, sollen in diesem Artikel der Islamismus Bin Ladens und seine Quellen näher betrachtet und eine Richtung alternativer Lösung angedeutet werden. (Red.)

Im Gegensatz zu vielen Unterstellungen ihrer KritikerInnen und ganz im Gegensatz auch zum letzten Krieg der NATO gegen Jugoslawien stellt sich in der Friedensbewegung niemand hin und sagt, er oder sie verteidige die bisherige Regierung der Angegriffenen, also die Taliban. Niemand, von marginalen und obskuren Sekten vielleicht abgesehen, die sich bei langwieriger Suche immer finden lassen, hat ernsthaft die Taliban in Afghanistan oder Bin Ladens weltweite Terrororganisation verteidigt, die ganz zu Unrecht den Namen „Basis“ besitzt. Wiederholt ist etwa in den Spalten der „Graswurzelrevolution“ auf die grausame und intolerable Unterdrückung der Frauen in Afghanistan hingewiesen worden, die von den Westmächten lange ignoriert und jetzt ebenso nützlich für die Legitimation des Bombenkrieges (denn es ist ja nicht nur die USA und GB, sondern auch etwa die BRD, die Krieg führt) ist, wie sie beim neuen Verbündeten, der sogenannten „Nordallianz“, keineswegs verschwunden ist: Die Warlords der Nordallianz, die von 1992 bis 1996 schon einmal herrschten und damals den permanenten Bürgerkrieg führten, „haben Kabul auf dem Gewissen und die Vergewaltigung Tausender Frauen.“ (1) Dieselben Frauen, die nun nach dem patriarchalen Gefängnisstaat der Taliban endlich ihre Gesichter wieder zeigen können, haben 1996 beim Einmarsch der Taliban gejubelt, weil diese den Massenvergewaltigungen der Warlord-Truppen im Bürgerkrieg ein vorläufiges Ende bereiteten. So meint die revolutionäre Frauenorganisation Afghanistans, RAWA: „RAWA hat bereits die abscheulichen Verbrechen der Nördlichen Allianz dokumentiert. (…) Obwohl die Nördliche Allianz gelernt hat, vor dem Westen als ‚demokratisch’ und sogar als Unterstützer der Frauenrechte aufzutreten, haben sie sich in Wirklichkeit nicht im mindesten geändert, genauso wie ein Leopard seine Flecken niemals ändern kann.“ (2)

Es ist Konsens in der Friedensbewegung, sich nicht mit einer Seite in diesem Krieg gemein zu machen, wie das manche antiimperialistischen Teile von ihr im Jugoslawienkrieg durchaus noch mit dem Milosevic-Regime machten. Wenn das aber so ist, dann ist die Aufdeckung der Herrschaftsstrukturen auf Seiten des islamistischen Terrorismus genauso wichtig wie die Denunziation derjenigen der NATO. Tendenziell wäre es sogar legitim, von der Friedensbewegung Antworten auf die Frage zu erwarten, wie denn Bin Laden oder die Taliban oder etwa auch das nach innen ungeheuer repressive, offiziell prowestliche saudi-arabische Regime nichtbewaffnet bekämpft werden könnten?

Bin Laden als vom Westen aufgerüsteter Terrorist und Kapitalist

Daß der Islamismus Bin Ladens eher als modernes Phänomen denn als Ausdruck des Archaischen oder als Schuld des Islam gedeutet werden muß, zeigt schon sein Beruf: er ist als steinreicher Bauunternehmerssohn sein Leben lang in erster Linie Kapitalist gewesen. Sein Vater ist durch den Ausbau der heiligen Moscheen in Mekka und Medina im Auftrag der saudischen Königsfamilie reich geworden. Als Osama Bin Laden das erste Mal nach Afghanistan ging, um dort die Sowjets zu bekämpfen, hat er nicht nur Gelder aus Saudi-Arabien mitbekommen, sondern ab 1986 auch Gelder und Waffen vom CIA über dessen Chef William Casey. Dritter im Bunde war schließlich der pakistanische Geheimdienst ISI, der ebenfalls aus dem Westen kommende Gelder und Waffen nach Afghanistan lieferte und deren Kreation zu einem nicht unbeträchtlichen Teil die Taliban waren. Diese Tatsachen sind bekannt, über sie ist in letzter Zeit viel veröffentlicht worden. (3)

Bin Laden ist keineswegs irgendein archaischer Wüstenclanchef, sondern ein moderner Kapitalist, der seine Kriegsstrategie den örtlichen Gegebenheiten anpasst. Wenn man/frau zudem noch bedenkt, daß Bin Ladens letztliche Radikalisierung und seine Ausweisung aus Saudi-Arabien damit zusammenhängen, daß er die US-Präsenz in Saudi-Arabien bis weit nach dem Golfkrieg verurteilte und sich erst daraus seine Kritik am Ausverkauf des Ölreichtums Saudi-Arabiens zu dem Westen genehmen Preisen ergibt, dann muß die Ursache seines Terrorismus in erster Linie als Ausdruck kapitalistischer Konkurrenz gedeutet werden: Bin Laden hält sich oder Saudi-Arabien für den eigentlichen Eigentümer der Ölquellen und also für diejenigen, die darüber bestimmen sollen, unter welchen Bedingungen sie ausgebeutet werden können. Und weil die gegenwärtigen Regierungen in Saudi-Arabien u.a. islamischen Ländern, wie etwa Pakistan, nicht gemäß dieser kapitalistischen Konkurrenzsituation handeln, will er sie stürzen und durch im Grunde nationalkapitalistisch handelnde Regierungen ablösen, ob sie nun von ihm oder von einem seiner Getreuen geführt werden.

Und weil die USA derzeit die Bedingungen setzt, unter denen die Ölquellen in Saudi-Arabien und im Persischen Golf – und vielleicht bald auch im ölreichen Kasachstan – ausgebeutet werden, ist Bin Ladens konkurrenzorientierter Gegenpart die USA. Und weil die USA derzeit die einzige Weltmacht ist, ist dieser aus kapitalistischer Konkurrenz hervorgegangene Krieg Bin Ladens ein Krieg im Weltmaßstab. Bin Ladens Gruppe muß so als aufstrebende Machtgruppierung gedeutet werden, deren erstes Ziel der Sturz prowestlicher Regierungen in der arabisch-islamischen Welt ist. Insofern kommt ihm der Krieg des Westens gegen Afghanistan entgegen und tappt der Westen in eine Falle Bin Ladens, weil nur unter den Bedingungen der Empörung in der jeweiligen Bevölkerung über diesen Krieg Regimes wie die der Fahds in Saudi-Arabien oder Musharrafs in Pakistan ins Wanken kommen. (4)

Die Rolle des Islam

Vom Islam war in all diesen machtstrategischen Überlegungen Bin Ladens bisher noch überhaupt nicht die Rede. Das Phänomen Bin Laden ist auch insofern ganz anders als frühere unterdrückte Gruppierungen oder „Völker“, die sich gegen den Imperialismus des Westens oder der USA wandten, weil eine soziale Rhetorik bei Bin Laden keine Rolle spielt. Er hält zwar die Dominanz der USA über die Ölquellen aus nationalarabischen Gründen für ungerecht, nichts jedoch deutet darauf hin, daß ein Erfolg seiner Machtansprüche etwa in Saudi-Arabien oder Pakistan darauf hinausliefe, z.B. den einfachen Menschen jeweils den gleichen Anteil am Ölreichtum zu vermachen. Ganz im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen geht es bei Bin Laden nicht um soziale Emanzipation, in Afghanistan oder Pakistan auch keineswegs um eine Ausschaltung des Hungers oder der Armut. Wenn Bin Laden baut, dann baut er Protzbauten für seine Auftrag- oder Gastgeber oder Infrastruktur für militärische Aufmarschgebiete und nicht in erster Linie Sozialwohnungen.

In den gescheiterten sozialistischen und nationalen Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“ liegt jedoch auch schon eine Ursache einerseits für die fehlende soziale Rhetorik, andererseits für den Rekurs auf den Islam. Der Islam wird also instrumentalisiert für Bin Ladens Machtstrategie – ebenfalls eine sehr moderne Art des Umgangs mit einer Religion.

Daß der Islam so etwas mit sich machen läßt, hat natürlich mit seinem inhärenten Autoritarismus zu tun, der bei ihm nicht ausgeprägter als in anderen Weltreligionen ist, aber gleichwohl natürlich vorhanden. Es nützt hier überhaupt nichts, darum herumzureden, daß mittels des Islam natürlich genauso Gewalt wie ihr Gegenteil, Gewaltlosigkeit, gerechtfertigt werden kann. Die terroristischen Islamisten finden im Islam mindestens vier Quellen zur Begründung von Gewalt:

1. Zunächst kann die Entstehung des Islam bereits als kriegerische Staatsgründungsideologie gedeutet werden: im Jahre 622 flüchtete der Prophet Muhammad nach Medina, verbündete sich mit den dort Herrschenden und führte mit ihnen schließlich einen Krieg sowohl gegen die umliegenden arabischen Stämme der Beduinen (die übrigens in vielen Quellen als anarchisch strukturiert beschrieben werden, was allerdings nicht idealisiert werden sollte) und gegen Mekka, und beiderseits gegen deren Polytheismus und für den islamischen Monotheismus. Heraus kam mit dem Islam gleichzeitig ein Militärstaat, der sich von den beduinischen Stammesstrukturen unterschied, und woraus sich die permanente Schwierigkeit des Islam, Politik und Religion zu trennen, erklärt.

2. Gewalt wird im Koran als „Futuhat“, als militärische Eroberung zur Ausbreitung des Islam, sanktioniert. Der „Futuhat“ ist Teil des „Djihad“, der wiederum mit Anstrengung zur Verbreitung des Islam übersetzt werden muß. Das bedeutet also: die Verbreitung des Islam kann, muß nicht, über militärische Eroberung geschehen (Alternativen wären: Überzeugung, friedliche Eroberung). Der Djihad kann, muß nicht, Gewalt bedeuten. Es gibt wie in jeder Missionsreligion eine Aufteilung in Gläubige (Umma, Haus des Friedens) und Ungläubige (Harb, Haus des Krieges). Der Krieg gegen Ungläubige ist erlaubt, weil Ungläubige weniger wert sind als Gläubige (aber: Ungläubige sind auch nicht nichts wert oder können auch nicht als Unmenschen definiert werden, weil sie ja missioniert werden, also potentiell Teil der Umma werden können). Futuhat ist aber als kollektiver Krieg zur Ausbreitung des Islam definiert, er verbietet individuelle Tötung, erlaubt auch Enklaven monotheistischer Minderheiten (Christentum, Judentum) innerhalb des Ausbreitungsgebietes und besteht auf einem Kodex des ritterlichen Kampfes, verbietet das Umbringen von Nichtkombattanten, also ZivilistInnen oder Verwundeten.

3. Gewalt wird in der Frühgeschichte des Islam als „Ridda“ sanktioniert: da der Islam in den Augen der besiegten Beduinenstämme an die Person Muhammads als Imam geknüpft war (Imam heißt „Führer“), hieß das für sie nach dem Tode Muhammads auch, dass sie fortan nicht mehr an den Islam gebunden waren. Die nachfolgenden Imame nach Muhammad mußten also erneut Krieg gegen die wieder abgefallenen Stämme führen, um ihren Führungsanspruch durchzusetzen (Ridda). Ridda hieß in der späteren Geschichte des Islam auch jede Art von Glaubensabfall. Vor allem alternative Koraninterpreten wurden oftmals der Ridda beschuldigt, ebenso KetzerInnen. Die ausgesprochenen Todesurteile wegen Glaubensabfall (Apostasie) gegen Mahmud Taha (islamischer Gewaltloser), Salman Rushdie (indischer Schriftsteller) oder Taslima Nasrin (feministische Schriftstellerin aus Bangla-Desh) wurden mit der Tradition der Ridda begründet. Innerhalb der Ridda wiederum wird auch die individuelle Tötung, das Todesurteil (Fatwa), gerechtfertigt.

4. Gewalt wird im weiteren Verlauf der Frühgeschichte des Islam auch als „Fitna“ sanktioniert: Fitna heißt eigentlich Sünde, Unruhe innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft, und bezeichnet einen innerislamischen Krieg, der in der islamischen Frühgeschichte bereits bei der Ermordung des dritten Kalifen Uthman (Kalif ist der Nachfolger Mohammeds, der die Pflicht zur Einigung der Gemeinschaft der Gläubigen hat und von Gott eingesetzt ist) erstmals auftaucht und sich dann oft wiederholte. Uthman wurde durch rivalisierende Quraisch-Stämme ermordet (aus dem Stamm der Quraisch kam Muhammad). Das Interessante ist aber, dass man nach der Niederlage von Uthmans Truppen 40 Tage wartete und darüber nachdachte, ob man ihn nun ermorden darf oder nicht: denn Uthman war als Kalif und Imam von Gott eingesetzt und weigerte sich, sein Amt aufzugeben, dazu habe er als Mensch kein Recht. Das machte den Aufständischen Probleme. Bassam Tibi schreibt dazu: „Ein Widerstandsrecht, das die Aufständischen legitimieren könnte, gibt es im Islam nicht. Die Linie der Argumentation verläuft anders: Weil Uthman für sie nicht mehr den wahren Imam personifizierte, war die Rebellion gegen ihn keine Verweigerung der Untergebenheit. (…) Nach ihrem islamischen Selbstverständnis waren sie nicht die Armee des Kalifen, sondern die Umma- oder die Djihad-Armee, also Soldaten Gottes; denn ihre Loyalität gegenüber dem Imam gilt Allah, nicht der Person des Herrschers. (M.E. ließe sich aus dieser Argumentation durchaus ein gewaltloses Widerstandsrecht begründen, auch ein libertäres, wenn die neue Loyalität nicht gleichzeitig einem Gegen-Imam übertragen würde; d.A.) Diese Position vertreten in unserer Gegenwart fundamentalistische Mörder in Algerien oder Ägypten, die sich Allahs Kämpfer nennen. Die Djihad-Mörder des ägyptischen Präsidenten Sadat gelten ihnen als jüngers Vorbild für die Entmachtung eines Herrschers, dem die Legitimität des Imam abgesprochen wurde.“ (5) Danach begreifen sich bewaffnete Islamisten innerhalb des Islam also nicht als Widerständler, sondern immer schon als Gotteskrieger, als Rechtgeleitete, und ihre Anführer als eigentliche Imame im Gegensatz zu bekämpften Imamen oder Führern oder Regierenden, die ihren Pflichten zur Einheit der Umma nicht nachkommen (deswegen aber muß es also auch immer einen „Führer“ geben und also ist eine islamische Guerilla nie nichthierarchisch strukturiert!). So auch Bin Laden, der eine Fatwa (Todesurteil) auf die US-AmerikanerInnen ausspricht, obwohl er in den Augen der meisten MuslimInnen gar kein Recht dazu hat, weil er kein Imam ist. In seinen eigenen Augen ist er jedoch einer, und das genügt ihm wohl. Auch Chomeini war vor seiner Machtergreifung im Iran ein selbsternannter Imam im Untergrund.

Das praktische Ergebnis dieser vielen Formen, in denen im Islam Gewalt sowohl nach innen wie nach außen gerechtfertigt werden kann, ist eine Verlaufsgeschichte des Islam, die von einer Gewaltgeschichte und allen Formen des individuellen und kollektiven Mordes und Kriegen begleitet ist (das ist ja, wie wir wissen, im Christentum nicht anders). Nur: jede heutige islamistische Gruppe geht hier instrumentell vor. Sie holt sich im Koran oder in der Geschichte des Islam genau diejenige Rechtfertigungsideologie, die sie für ihre Situation oder ihre Kriegsführung braucht. Es geht beim Phänomen des Islamismus also nicht um den Islam, sondern um eine Instrumentalisierung des Islam.

Und warum ist es der Islam, der instrumentalisiert wird?

Die verlorene Attraktivität des Sozialismus und ihre Wiedergeburt als herrschaftsloser Sozialismus

Weil im Verlauf des 20. Jahrhunderts alternative Legitimationen des Widerstands der arabischen und islamischen Welt ihre Attraktivität verloren haben, wird heute wieder auf den Islam zurückgegriffen. Diese Legitimationen, mit denen sich die arabisch-islamische Welt gegen den Kolonialismus wehren wollte, waren erstens importiert und zweitens autoritär. Weil die Geschichte des Islam bis ins 20. Jahrhundert durchaus mit soviel Gewalt und Krieg verknüpft war, kam es zu tausenderlei Spaltungen innerhalb der arabischen und islamischen Welt: die angestrebte Gemeinschaft der Gläubigen ist ein kompletter Mythos des Islam, der nirgendwo seine reale Entsprechung findet. Dennoch ist fast jedes islamische oder arabische Regime und seine Regierung irgendein Ausfluß dieser mannigfachen Spaltungsgeschichte, das gilt für das marokkanische Königshaus, für die Mullahs im Iran, für den Wahabitismus Saudi-Arabiens ebenso wie für Syrien oder den jordanischen König. Ihre Regierenden legitimieren sich alle in der ein oder anderen Form als Imame oder Kalifen.

Weil der Kalif des Osmanischen Reiches dem europäischen Kolonialismus erkennbar nichts mehr entgegensetzen konnte und wollte, war der Islam im frühen 20. Jahrhundert durchaus offen für eine Verbindung mit der europäischen Aufklärung, nur deren Ideologien waren ja alles andere als antiautoritär: importiert wurden der europäische Nationalismus und damit der moderne Nationalstaat, z.B. im antikolonialen Kampf von den Jungtürken bis zu Kemal Atatürk oder im Panarabismus bis hin zu Nasser; importiert wurde auch der autoritäre Sozialismus nach dem Vorbild der Sowjetunion. In Ägyptens Nasser sahen die einen den „arabischen Bismarck“, die anderen den „arabischen Lenin“. Und diese Verbindung machte den arabischen Sozialismus Nassers autoritär und antisemitisch: er bekam weiter Risse durch die komplette militärische Niederlage Ägyptens im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel 1967. Als die Sowjetunion 1979 Afghanistan überfiel und in zehn Jahren ca. 1 Million Tote mitverantwortete, hatte sich der Import des autoritären Staatssozialismus für den Islam zum Desaster verwandelt. Und der Staatssozialismus wurde in den Augen der breiten Massen natürlich mit Sozialismus überhaupt gleichgesetzt.

Beim Import europäischer Nationalismus sieht es nicht besser aus: Die Türkei Atatürks ist heute in der NATO und gilt als Komplize der USA bei der Ausbeutung der arabischen Ölquellen. Der europäische Nationalismus und der autoritäre Sozialismus sind diskreditiert, was bleibt zur Legitimation des Widerstands gegen westliche Dominanz, für die es gibt, ist der Islam. Das Auftauchen des terroristischen Islamismus seit den 80er Jahren ist also zunächst Ausdruck des Versagens importierter europäischer Ideologien.

Daß die arabische und islamische Welt ökonomisch vom Westen dominiert und ihre Ölquellen zu vom Westen diktierten Bedingungen ausgebeutet werden, daß hierin eine Ungerechtigkeit besteht, ist eine Realität, die in der muslimischen Welt weithin geteilt wird und woraus Bin Laden seine politische Macht schöpft, woraus auch immer wieder neue Bin Ladens hervorgehen werden. Daß die arabische und islamische Welt in ihrem Innern äußerst hierarchisch und antisemitisch strukturiert ist und eine lange Gewaltgeschichte aufweist, ist ebenso Realität und durch den Import des europäischen Nationalismus und Staatssozialismus keineswegs durchbrochen, sondern eher noch verstärkt worden. Bin Laden als reicher Konkurrenzkapitalist könnte langfristig also nur wirklich bekämpft werden, wenn ein neuer herrschaftsloser Sozialismus es vermögen würde, sowohl innere Hierarchien aufzubrechen als auch eine neue Legitimationsgrundlage abzugeben für den Kampf gegen westlich-kapitalistische Dominanz. Wenn es einen solchen neuen Sozialismus gäbe, hätten reiche Konkurrenzkapitalisten wie Bin Laden keine Chance mehr, in einem weithin geteilten Gefühl weltweiter Ungerechtigkeit gegenüber der arabisch-islamischen Welt zu schwimmen wie die Fische im Wasser. Weil die autoritären Importe aus Europa im Lauf des 20. Jahrhunderts versagt haben, könnte ein solcher herrschaftsloser Sozialismus durchaus als libertäre Islaminterpretation etwa nach dem Muster Tahas (6) oder anderer autochthoner Quellen oder gewaltloser Islam-Interpretationen entstehen. Ansätze eines dezentralen Selbstverwaltungssozialismus gibt es oder sie würden sich finden lassen. Wichtig wäre ein aus der eigenen Tradition und Kultur begründeter Widerstand gegen althergebrachte Hierarchien, gegen die Diskriminierung der Frau und gegen virulenten Antisemitismus. Europäische und US-amerikanische SozialistInnen könnten hier ihren GenossInnen in der arabisch-islamischen Welt vor allem dadurch helfen, dass sie nicht in die Falle des Kulturrelativismus tappen und den Islam gegen westlichen Rationalismus stellen, sondern einen neuen herrschaftslosen Sozialismus in Europa und den USA etablieren helfen und durch ihren Widerstand dafür sorgen, dass die Ausbeutung des arabischen Raumes und ihrer Rohstoffe ebenso beendet wird wie die Kriege des Westens und ihre Truppenpräsenz im arabischen Raum. Ein solcher libertärer Sozialismus würde auch die Attraktivität des herrschaftslosen Sozialismus weltweit stärken und zu verbindenden Formen und kulturübergreifenden Initiativen aus dem arabischen Raum ermutigen. Ein utopisches Programm – und doch ein realistischerer Weg zur Beendigung des nichtstaatlichen Terrors als das, was der Staatsterrorismus der westlichen Staaten derzeit praktiziert.

(1) Sefora Walli, in "Zeit", 15.11., S.2.

(2) Erklärung der RAWA vom 17.11.2001, in dieser Ausgabe der GWR, siehe Seite 5

(3) vgl. z.B. Spiegel 42/2001, S. 210ff.

(4) Diese Überlegungen sind eine (Gedächtnis-) Aufzeichnung einer Diskussion des HerausgeberInnenkreises der GWR über die Folgen des 11.9. vom 27.10.2001 in Kassel. Zum Teil sind sie auch Inhalt des Interviews mit Robert Fisk, vgl. GWR 263, S.13.

(5) zit. nach Bassam Tibi: Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996, S. 71. Die Bücher von Bassam Tibi sind in vielerlei Hinsicht problematisch, prowestlich und nicht frei von Vereinfachungen zum Nachteil des Islam. Trotz der Gefahr des Kulturrelativismus ist es m.E. aber auch für Libertäre unbedingt notwendig, sich mit den problematischen Seiten des Islam auseinander zu setzen, anbieten würde sich da z.B. Nasr Hamid Abu Zaid: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt 1996, oder Ali Dashti: 23 Jahre. Die Karriere des Propheten Muhammad, Aschaffenburg 1997.

(6) vgl. Artikel über Taha in GWR 263, Antikriegsbeilage S. 3.