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Kriegsdienstverweigerung türkischer Staatsbürger in Deutschland

| Mustafa Ünalan DFG-VK Berlin-Brandenburg, uenalan@web.de

Die Kriegsdienstverweigerung (KDV) türkischer Staatsbürger in Deutschland nimmt ihren Anfang mit der KDV-Erklärung Aziz Kosgins 1991 und der Gründung der Initiative der Kriegsdienstverweigerer (Savas Hizmetini Reddedenler Girisimi – SHRG). Aziz, der seit 1980 in Deutschland lebt, hat seine Wehrpflicht bis zu seinem 32. Lebensjahr zurückstellen lassen und anschliessend dem Türkischen Konsulat mitgeteilt, er verweigere Soldat zu werden. Das Verteidigungsministerium antwortet, seine Verweigerung werde auf keinen Fall angenommen. Aziz Pass wird nicht verlängert. Die deutschen Behörden wiederum drohen Aziz mit einer Ausweisung und versuchen ihn zur Ableistung seiner Wehrpflicht in der Türkei zu zwingen, denn seine Verantwortung gelte nicht nur der Türkei gegenüber, sondern auch gegenüber der NATO. Hierauf fordert Aziz seine Entlassung aus der Türkischen Staatsangehörigkeit.

Um den Fall an die Öffentlichkeit zu bringen, wird im Januar 1992 die SHRG gegründet. Die SHRG-Versammlung in Köln, vom 23. Oktober 1992 wird in den Zeitschriften Devrimci Proleterya, Azadi, Direniþ und Mücadele (1) kommentiert. Die Zeitschriften werden vom Staatssicherheitsgericht wegen „Separatismus und Werbung für eine illegale Organisation“ und „Distanzierung des Volkes vom Militär“ konfisziert und verurteilt. SHRG und das KDV-Konzept werden langsam bekannt und neue KDVer erscheinen. Im Dezember 1992 erklärt Ismail Kiliç, dass er als Kurde der Türkischen Armee nicht dienen werde. Im August 1993 folgt Ilhami Akter, 1995 schliessen sich Mehmet Kutluay und Osman Gültekin an. Mit materieller und ideeller Unterstützung der 100jährigen Organisation Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK), gelingt es der SHRG sich unter den Kurden/Türken in Deutschland Gehör zu verschaffen. Mit Hilfe eines DFG-VK Anwalts wird die juristische Lage in Deutschland ausgelotet und die Broschüre „Geh nicht zum Militär“ veröffentlicht. SHRG entschliesst sich, ihre Aktivitäten als Arbeitsgruppe der DFG-VK fortzuführen.

Die Gründung des Solidaritätsnetzwerks

Parallel zu diesen Entwicklungen werden Kontakte zur antimilitaristischen Bewegung in der Türkei geknüpft. Die gemeinsame Rundreise von Aziz und Osman Murat Ülke (Ossi) durch verschiedene Städte in Deutschland 1993, hat sowohl auf die Bewegung in der Türkei als auch auf die SHRG positive Auswirkungen. Im Mai 1995 findet die erste Versammlung der Türkei-Kurdistan Arbeitsgruppe der War Resisters International (WRI) in Frankfurt a.M. statt. Durch das Zusammentreffen von Individuen und Gruppen aus verschiedenen europäischen Ländern, entsteht eine gemeinsame Tagesordnung und Arbeitsplanung. Am internationalen Tag der KDV, dem 15. Mai (1995), findet im Deutschen Bundestag eine Rezeption statt, auf welcher Ossi eine Rede hält. Es werden in Türkisch und Deutsch eine Menge Bücher, Flugis und Broschüren publiziert und weiterverteilt. In mehr als 30 (deutschen) Städten finden Seminare, Diskussionsveranstaltungen und sonstige Aktivitäten statt.

Seit 1994 erklären KDVer ihre Verweigerung in Gruppen vor den Türkischen Konsulaten in verschiedenen Städten. Die erste gemeinsame Erklärung findet am 17. Mai 1994 in Frankfurt statt. Anlässlich der aktuellen Entwicklungen in der Türkei (2) erklären sich neun türkisch/kurdische KDVer. Das deutschsprachige Bulletin, welches seit Februar 1994 erscheint und Nachrichten aus der Türkei vermittelt, wird durch Mitwirkung verschiedener Gruppen im August 1995 auf eine breitere Basis gestellt und in Kirik Tüfek (Das Zerbrochene Gewehr) umbenannt. Neue Versammlungen und Presseerklärungen finden auch weiterhin individuelle KDV-Erklärungen statt. Am 23. Januar 1996 verbrennt Mustafa Ünalan im Berliner Parlament auf einer Pressekonferenz zur Bekanntmachung der Deutsch-Türkischen Broschüre „Lasst uns den Militärdienst verweigern“ seinen Militärpass und wiederholt somit seine Verweigerung. Am 28. Januar 1997 erklären in Frankfurt 11 Personen ihre KDV und assoziiert mit der DFG-VK wird der Verein der KriegsgegnerInnen Frankfurt (Frankfurt Savas Karsitlari Dernegi – FSKD) gegründet. Im Februar 1998 erklärt FSKD Mitglied Cemal Sinci in Anwesenheit von Parlamentariern und Presse seine KDV auf einer Pressekonferenz. Bei all diesen Aktionen, die während Ossis Haftzeit stattfinden, wird die Türkei zur Anerkennung der KDV und Freilassung von Ossi aufgefordert.

Fahren wir nach dieser Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte mit einem Blick auf die generelle Situation fort.

Die bevorzugte Alternative türkischer Migranten in Deutschland: Die Freikaufregelung

Türkische Staatsbürger, die in Deutschland mit einem Gastarbeiterstatus arbeiten, stellen zahlenmässig das grösste Potential dar, haben aber antimilitaristischer Arbeit und KDV gegenüber nur ein sehr beschränktes Interesse. Ein wichtiges Ergebnis der grossen Migrationswelle der 60er Jahre, welche 1973 endete, war die fortschreitende Verfestigung der, aus der meist dörflichen mittelanatolischen Heimat mitgebrachten, traditionell-nationalistischen Ideologie. So wurden diese MigrantInnen eine leicht zu gewinnende Zielgruppe für faschistische Agitation. Weitere Gründe, weshalb das Interesse an Antimilitarismus sich nicht entwickeln konnte, sind die vom türkischen Staat angebotenen bequemen Alternativen zur Ableistung der Wehrpflicht.

Die Aufenthaltsberechtigung der in Deutschland lebenden Ausländer wird im Falle eines Aufenthalts im Ausland, der länger als sechs Monate dauert, aufgehoben. Dies führte für wehrpflichtige Türkische Staatsbürger zu Problemen. Dieses Dilemma wurde vom Türkischen Staat geschickt ausgenutzt. Die Dauer der Wehrpflicht für im Ausland lebende Türken wurde gegen einen Freikaufbetrag herabgesetzt. Auf diese Weise wurde für die Armee eine wichtige finanzielle Quelle geschaffen.

In Deutschland leben über 2.100.000 türkische StaatsbürgerInnen. In vier Quartalen zahlen jährlich im Durchschnitt 6.000 Männer je 10.000 DM und fliegen nach Burdur, um ihre verkürzte Wehrpflicht abzuleisten. Mit anderen Worten fliessen jedes Jahr 60.000.000 DM in die Kriegskasse der Türkei und die einmonatige ideologische Gehirnwäsche ist dabei der zusätzliche Bonus.

KDV im Asylkontext

Deutschland hat die Nazi-Erfahrung als eine historische Lektion angesehen und nach dem II. Weltkrieg eines der umfassendsten Asylgesetze Europas verabschiedet. Art. 16 der Deutschen Verfassung sieht eine Anerkennung des Asylrechts für politisch Verfolgte vor. Ausserdem hat Deutschland internationale Abkommen, die den Schutz von Kriegsgeschädigten, Wehrflüchtigen und Gewissensverweigerern vorsehen, unterzeichnet.

Aber dies besagt erstmal nicht viel. Deutschland hat über die Jahre das Asylrecht durch viele Beschränkungen eingeengt, um die Möglichkeit zur Erlangung einer Aufenthaltsberechtigung nach dem eigenen Bedürfnis zu regulieren und somit die eigene ökonomische Stabilität zu gewährleisten (vgl. GWR 260). Durch die Schaffung des Mythos der „Migranten, die die Wohlstandsgesellschaft bedrohen“, haben die Politiker massgebend zu dieser Entwicklung beigetragen. Durch die jahrelange Deregulierung der Gesetzgebung und behördliche Willkür wurde die Zahl der anerkannten Asylfälle ernsthaft geschmälert und wurden pro Tag durchschnittlich 150 abgelehnte AntragstellerInnen in Polizeibegleitung in ihre Herkunftsländer zurückgeführt. (3) Den Zahlen des letzten Jahres zufolge nimmt Deutschland unter den 15 Asyl gewährenden europäischen Ländern nur die 12. Stelle ein. (4) Was bedeutet dies für die ausländischen KDVer und Kriegsflüchtlinge?

Laut deutscher Vefassung darf niemand „gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“. Die deutsche Rechtssprechung akzeptiert das Recht auf KDV als eine legitime Form der in der Menschenrechtsdeklaration aufgeführten Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheiten. Doch durch einen Entschluss des deutschen Verfassungsgerichts von 1981, gilt in Deutschland das Recht auf KDV für Ausländer nicht. Ein weiterer Beschluss des gleichen Gerichts besagt, dass die Erklärung der KDV im Herkunftsland oder die Eventualität einer Bestrafung wegen Wehrflucht keinen Asylgrund darstellt. Hierzu gibt es im Asylgesetz einen speziellen Artikel von 1988. Demnach hat jeder Staat, selbst ein ‚totalitärer‘, das „Recht“, „seine“ Staatsbürger zu rekrutieren und daher könne KDV keine Basis für ein politisches Asyl darstellen. Sobald das Thema also im Kontext der Asylfrage aufkommt, hat dem deutschen Staat nach, jeder Staat das Recht, die politischen, ethischen und religiösen Einstellungen seiner Bürger zu missachten, sie zum Dienst an der Waffe zu zwingen und im Falle der Wehrflucht oder Desertion nach Gutdünken zu bestrafen.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Mehrheit der Kriegsflüchtlinge, die Asyl beantragt haben, KurdInnen sind, ist die Bedeutung dieser rechtlichen Interpretation offensichtlich. Die Verweigerungsgründe der Kurden sind generell angelehnt an die Motive „nicht gegen die eigene Bevölkerung zu kämpfen“ und „der feindlichen türkischen Armee nicht zuzuarbeiten“. Manche verstehen ihre KDV als Bestandteil des Kampfes der PKK. Diese Menschen sind zum Teil Analphabeten, sprechen oft nur wenig Türkisch und meist kein Deutsch. Viele begegnen dem Begriff der KDV zum ersten Mal und haben keine politisch-organisatorische Erfahrung. Sie erwarten Beratung und Hilfe von uns und natürlich hat ihr Asylantrag für sie Priorität. Alle sind gegen den „schmutzigen“ Krieg, aber eine prinzipielle Einstellung gegen den Krieg an sich haben sie nicht.

Einmal alle zwei-drei Jahre finden für diese Zielgruppe in verschiedenen Städten Seminare, sowohl zu politischen als auch juristischen Aspekten der KDV, statt. Doch die Zahl derer, die über die ausreichende Erfahrung und das Wissen verfügen, um diese Menschen zu unterstützen, lässt sich an einer Hand abzählen. Hinzu kommt, dass mit den letzten Entwicklungen in der deutschen Fremdenpolitik ihre Chancen für Asyl so gut wie auf Null gesunken sind.

Trotzdem sind den hiesigen Gruppen, die zum Thema arbeiten, ca. 250 KDVer türkischer Staatsbürgerschaft bekannt, die – von ein paar Ausnahmen abgesehen – fast alle Asylbewerber sind. In ca. 50 Fällen wurde Asyl durch intensiven juristischen und politischen Kampf gewährt. Doch weder die Zahl der abgelehnten Asylbewerber, noch das Schicksal der Abgeschobenen – wieder mit Ausnahme einiger weniger – ist bekannt.

In keinem EU-Land wird KDV oder Desertion als ausreichender Grund zur Gewährung von Asyl angesehen. Die EU versucht sich gegen MigrantInnen abzuschirmen. Die Öffentlichkeit ist weniger mit den Einnahmen des Kriegsmarktes beschäftigt, als mit den Fragen, wie die „Migrantengefahr“ zu bekämpfen sei und die EU-Grenzen gesichert werden können. Folglich ist Verfolgung wegen Verweigerung der Teilnahme an Massakern der serbischen, russischen oder türkischen Armee kein Asylgrund.

Die antimilitaristische Bewegung hat in Europa in Hinsicht auf KDV ihre Eigendynamik verloren. Durch die Anerkennung des Zivildienstes haben die europäischen Staaten erfolgreich einen Keil zwischen die KDV und ihren radikalen antimilitaristischen Ansatz und damit verbundene politische Assoziationen getrieben. KDV wurde einfach zur Ausübung des Zivildienstes umfunktioniert. Politische und juristische Unterstützung für Zuflucht suchende Wehrflüchtige und KDVer sollte daher als eine unumgängliche Komponente der europäischen antimilitaristischen Bewegung angesehen werden und trägt zur Perspektive eines international anerkannten Menschenrechts der KDV bei. Jeder, der Befehle verweigert, desertiert und flüchtet, egal welcher Seite, welchem Land er zugerechnet sein mag, hilft die für die Kriegsführung benötigten menschlichen Quellen versiegen zu lassen. Diese Aktion muss durch Unterstützung gestärkt werden.

(1) Revolutionäres Proletariat, Freiheit, Widerstand und Kampf.

(2) Am 19.5.1994 lief ein Ultimatum des Verteidigungsministeriums an Wehrflüchtige aus. Wer sich bis zu diesem Datum stellte "genoss" Straffreiheit, während der Strafsatz für die restlichen erhöht wurde. (Anm. d. Übersetzers)

(3) Asyl in der Kirche, Pax Christi, Internationale Katholische Friedensbewegung, Aug 1995, S.2

(4) Rassismus hat viele Gesichter, Förderverein PRO ASYL e.V., Nisan 2001, S. 6