US-Präsident George W. Bush hat in seiner – falls ich mich recht erinnere – ersten Presseerklärung nach dem 11. September verkündet, die Angriffe gegen das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington wären gegen die „Freiheit“ der USA gerichtet, aber der Terror werde sein Ziel nicht erreichen können, denn die USA werde auf der Verteidigung ihres auf Freiheit basierenden Lebensstils beharren. So wurde dann die Militäroperation gegen Afghanistan auch „Dauerhafte Freiheit“ genannt. In diesem Artikel werde ich versuchen auf manche Aspekte dieser Rhetorik der „Freiheit“ aufmerksam zu machen.
Wir erinnern uns aus der Zeit des Kalten Krieges, des „Eisernen Vorhangs“ und der „Freien Welt“ an die Präsentation der Freiheit als dem höchsten Wert des kapitalistischen Systems. Und wir wurden Zeuge der Bemühung der „Neuen Imperialen Vision“, auch „Neue Weltordnung“ genannt, sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also des „Eisernen Vorhangs“, nicht mehr über die Rhetorik der „Freiheit“, sondern über die der „Menschenrechte“ zu legitimieren. Mit der Auflösung des Realsozialismus hat das Heranziehen der Formel der „Freien Welt“, durch welche die Unterscheidung zwischen dem kapitalistischem und dem sozialistischem Block gewährleistet wurde, ihren Sinn verloren. Unter diesen Bedingungen wurde die Grenzlinie zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, durch die 90er hindurch, immer deutlicher entlang des Begriffs der „Menschenrechte“ gezogen. Die durch das Konzept der Menschenrechte auf verschiedenen Ebenen (in Form globaler zivilgesellschaftlicher Lebhaftigkeit, anhand der hauptsächlich in der EU hervortretenden transnationalen Institutionalisierung und letztlich im Rahmen der Realpolitik der Diplomatie) eingenommene zentrale Position ist Ausdruck dieser Vorgangs.
Diese Entwicklung ist zweifellos nicht unabhängig vom Prozess der Globalisierung und des liberalen Entwurfs einer neuen Welt zu bedenken. Die Globalisierung hat sich auf politischer Ebene als ein Projekt präsentiert, in welchem die Grenzen der „zivilisierten Welt“, dem Garanten der Menschenrechte, erweitert werden sollen. Als Träger dieser Rhetorik hat der Liberalismus die Grundbedürfnisse der Menschen in materielle und ideelle Bedürfnisse aufgeteilt, wobei die materiellen Bedürfnisse als ein Leben in Wohlstand und die ideellen Bedürfnisse als Schutz der Würde und Persönlichkeit zusammengefasst werden könnten. Der Kapitalismus habe den ersten Teil gedeckt und die Deckung des zweiten Teils sei durch die (Verbreitung der) Menschenrechte erfolgt. Demnach erwarte die ganze Menschheit eine zufriedenstellende Zukunft. So rief der Liberalismus seit 1990 seinen historischen Triumph aus.
Doch leider musste dieser Sieg in manchen Regionen, die sich außerhalb der „zivilisierten Welt“ befanden stur auf ihrer Position beharrten, durch militärische Initiative errungen werden. Erinnern wir uns an die Intervention der NATO in Serbien. Die NATO hat – natürlich von der USA geführt und im Kielwasser ihrer politischen Entschlossenheit – unter Vorwand der Ausmaße der Menschenrechtsverletzungen im Kosovo eingegriffen, ohne die erforderliche Bestätigung des Sicherheitsrats der UNO einzuholen; also ohne juristische Legitimation. Hier wurde der Begriff der Menschenrechte zur Legitimierung einer militärisch-politischen Intervention, die nach bestehendem internationalen Recht einer juristischen Basis entbehrt, benutzt, was wiederum von einem Grossteil der westlichen Öffentlichkeit unterstützt wurde. Anders ausgedrückt wurde also deklariert, dass „universale Werte“ über der Souveränität der Staaten und dem Rechtswesen, welches diese Souveränität definiert, stehen, woraus die moralische Überlegenheit der Menschenrechte zu folgern sei. So äußerte sich einer der Sprecher der neuen imperialen Vision, Tony Blair, nach der Kosovo-Intervention wie folgt: „Wir wollen in ein neues Jahrtausend eintreten, in dem Diktatoren wissen, dass sie bestraft werden, falls sie ethnische Säuberungen vornehmen oder ihr Volk unterdrücken. (…) Wir kämpfen für eine Welt, in der es kein Versteck für Täter solcher Verbrechen gibt.“
Dieser angeblich „humanitäre Kampf“ wurde eine Zeit lang ohne wesentliche Komplikationen geführt. „Alles lief wie geschmiert. Serbien, auf seinen Knien, hatte für eine Handvoll Dollars (welche, wie sich herausstellte, hauptsächlich zur Rückzahlung von Schulden aus Titos Zeit vorgesehen waren) Milosevic an das Internationale Kriegsverbrechertribunal ausgehändigt. Die NATO expandierte ostwärts in Richtung eines schwachen Russlands. Saddam Hussein konnte ohne weiteres – wann immer es als nötig eingeschätzt wurde – bombardiert werden. (…) Die palästinensischen Regionen waren unter strenger Kontrolle, während ihre Führer durch kluge Bomben ermordet werden. Aktionäre haben in den letzten Jahren Rekordgewinne verbucht. Die Linke ist abgestorben und sämtliche politische Parteien schlossen sich dem Neoliberalismus und ‚humanitärem‘ Interventionismus an. Kurz, wir lebten ‚in Frieden‘ wie manche Kommentatoren verlauteten.
Und dann plötzlich; Schock, Überraschung, Horror: Die größte Macht aller Zeiten, das einzig wahre universale Imperium wurde in seinem Herzen, dem Zentrum seines Reichtums, seiner Macht, getroffen.“ (Jean Bricmont, The End of the „End of History“, Cosmopolitik, Nr. 1, Oktober 2001. Originaltext siehe: www.zmag.org/bricmontcalam.htm)
Der 11. September hat die Zerbrechlichkeit der Beziehung zwischen Globalisierung und Menschenrechten enthüllt. Dass der US-amerikanische Sicherheitsapparat und die Verbündeten von einer „Bedrohung der Freiheit“ und von daher unumgänglichen außerordentlichen Sicherheitsmassnahmen sprechen, zeigt, dass anstatt der „universalen“ Sprache der Menschenrechte, die „konfliktive“ Sprache an die wir uns aus dem Kalten Krieg erinnern zurückkehrt. Bush verspätete sich auch nicht klar zu machen, dass „die ehemals durch die Sowjetunion bedrohte Freiheit nun durch Terrorismus bedroht“ werde und im Krieg zwischen „Freiheit und Terrorismus niemand unparteiisch bleiben“ könne. Das bedeutet, dass der Globalisierungsprozess in eine konfliktreichere Phase eintritt.
Welche Form dieser Konflikt konkret annehmen wird, lässt sich jetzt noch nicht sagen und ist auch nicht Thema dieses Artikels. Trotzdem will ich an dieser Stelle Bekanntes wiederholen. Die Bühne des Konflikts wird im großen und ganzen der Mittlere Osten und Eurasien sein. Dies bedeutet eine neue blutige Seite in der unglücklichen Geschichte der betroffenen Völker – diese Seite wurde in Afghanistan schon aufgeschlagen.
Ja, die Wiederbelebung der Rhetorik der „Freien Welt“ deutet auf die sich vergrößernde Schere zwischen Menschenrechten und Globalisierung hin. Wie Edward Said schon bemerkte, läuft jeder Widerstand gegen Globalisierung Gefahr als „Terrorismus“ etikettiert und von Seiten der von der USA geführten „Freiheitsfront gegen Terrorismus“ vernichtet zu werden. Wir treten in eine inkriminative Phase, in der Menschenrechtsnormen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung auf Eis gelegt werden. Das ist gleichzeitig der Übergang von der „liberalen Demokratie“ zum „liberalen Autoritarismus“, denn die Legitimation wird im Spannungsfeld zwischen „Freiheit“ und „Sicherheit“ erzeugt.