anarchismus

Die Evolution der Kooperation

| Darth Korth (GWR-MS)

Ein Argument für die Notwendigkeit von Herrschaft und gegen die Möglichkeit von Anarchie ist, daß die Menschen Egoisten sind und sich ohne Herrschaft gegenseitig zerfleischen würden. „Homo homini lupus est“ – Der Mensch ist des Menschen Wolf (1). In seiner klassischen Form findet sich das Argument im Leviathan des Thomas Hobbes; vulgär bei Stammtischphilosophen und Politikern der ganzen Gesellschaft. AnarchistInnen hingegen glauben an die Möglichkeit soziale Beziehungen ohne Herrschaft zu gestalten und wollen die herrschaftsfreie Gesellschaft auf dem Prinzip der Gegenseitigen Hilfe errichten.

In diesem Artikel soll mit mathematischen Methoden untersucht werden unter welchen Bedingungen Kooperation in einer Welt von Egoisten ohne zentrale Herrschaftsinstanz entsteht. Zum einen wird hierdurch das Vorurteil der „natürlichen“ Bosheit des Menschen widerlegt. Zum anderen wird es möglich die Bedingungen für die Entstehung und den Erhalt von Kooperation künstlich zu schaffen, d.i. Gegenseitige Hilfe zu organisieren.

Spieltheorie

Soziale Phänomene unterscheiden sich von physikalischen Phänomenen dadurch, daß Menschen ihre Zwecke frei wählen können. Um diese Eigenschaft sozialer Phänomene in ein mathematisches Modell zu integrieren werden in der Spieltheorie soziale Phänomene an Hand von Modellen strategischer Spiele beschrieben. In einem strategischen Spiel (z.B. Schach) hängt das Ergebnis von den Zielen und den wechselseitigen Entscheidungen der Spieler ab.

Jedes Spiel stellt ein Modell der Wirklichkeit dar. Die spieltheoretischen Modelle werden gebildet, indem den möglichen Ausgängen (z.B. eines Konflikts) Zahlenwerte zugeordnet werden. Die Werte drücken aus, welchen Ausgang ein Spieler präferiert. Ein Konflikt zweier Parteien kann z.B. durch folgendes zwei Personenspiel dargestellt werden.

b1 b2
a1 4/-4 2/-2
a2 5/-5 -3/3

Abb. 1: Ein Nullsummenspiel

Eine solche Matrix wird gelesen, indem man aus der Perspektive eines Spielers den rationalen Verlauf des Spiels bestimmt. In unserem Fall wäre das beste Ergebnis für A die Wahl a2/b1 = 5 Punkte für A, -5 Punkte für B. Weil aber B gleichgültig welche Strategie A wählt mit der Strategie b2 besser dran ist, ist die Lösung des Spiels die Wahl (a1/b2) = 2 Punkt für A, -2 Punkte für B.

Dieses Spiel ist ein sogenanntes Nullsummenspiel. Bei Nullsummenspielen gewinnt der eine Spieler genau das, was der andere verliert. Die Interessen sind strikt entgegengesetzt.

Eine Kooperation ist unmöglich. Beispiele für Nullsummenspiele sind Schach, Poker u.a. Nullsummenspiele sind ein Extrem möglicher Konflikte. Das andere Extrem sind Spiele reiner Kooperation.

b1 b2
a1 3/0 2/1
a2 5/5 4/3

Abb. 2: Ein Spiel reiner Kooperation.

Hier ist deutlich ein gemeinsames Interesse der Spieler vorhanden. Kooperation ist selbstverständlich. In der Praxis besteht das einzige Problem darin sich zu koordinieren.

Als Modelle für eine Theorie der Kooperation eignen sich weder Nullsummenspiele noch Spiele reiner Kooperation, weil Kooperation bei dem einen Spieltyp unmöglich, bei den anderem selbstverständlich ist. Das Erreichen von Kooperation wird erst in Situationen problematisch, in denen sie möglich ist aber gleichzeitig jedes Individuum einen Anreiz hat, sich auf Kosten des anderen eigennützig zu verhalten. Als Modell für solche Situationen dient das Gefangenendilemma.

Das Gefangenendilemma

„Das Gefangenendilemma ist ein Spiel mit zwei Spielern, von denen jeder zwei Entscheidungsmöglichkeiten hat, nämlich zu kooperieren oder nicht zu kooperieren. Nichtkooperation nennen wir Defektion. Jeder muß seine Wahl treffen, ohne zu wissen, wie der andere sich verhalten wird. Unabhängig vom Verhalten des jeweils anderen führt Defektion zu einer höheren Auszahlung als Kooperation. Das Dilemma liegt darin, daß es für jeden Spieler, unabhängig vom Verhalten des anderen, vorteilhafter ist, zu defektieren, daß jedoch beiderseitige Defektion für jeden Spieler ungünstiger ist als wechselseitige Kooperation.“ (Axelrod S. 9)

Koop. Def.
Koop. R=3/R=3 S=0/T=5
Def. T=5/S=0 P=1/P=1

Abb. 3: Das Gefangenendilemma.

Wenn in Abbildung 3 beide Spieler versuchen, das für sie beste Ergebnis T=5 (für engl.: Temptation, die Versuchung zu defektieren) zu erreichen, erhalten sie beide die Auszahlung P=1 (für engl.: Punishment, die Strafe für wechselseitige Defektion), die schlechter ist als das mögliche Ergebnis R=3 (für engl.: Reward, die Belohnung für wechselseitig Kooperation). Aber wenn nur einer versucht dieses Ergebnis anzustreben, so läuft er Gefahr mit der Auszahlung S=0 (für engl.: Sucker’s payoff) als gutgläubiges Opfer sitzen zu bleiben.

Um sich in das Dilemma zu versetzen, hilft vielleicht folgende Geschichte: Ein Anarchist und ein Kommunist, die zusammen einen Bankraub begangen haben, werden von der Polizei verhaftet und in verschiedenen Zellen eingesperrt. Beide können entweder ein Geständnis ablegen oder schweigen, und beide kennen die möglichen Konsequenzen ihrer Handlung. Diese sind:

1. Wenn der eine gesteht und sein Partner nicht, so wird der, der gestanden hat, als Zeuge der Anklage freigelassen und der andere kommt für 20 Jahre ins Gefängnis

2. Wenn beide gestehen, müssen beide auf 5 Jahre ins Gefängnis

3. Wenn beide schweigen, müssen beide wegen unerlaubten Waffenbesitzes – eines weniger schwerwiegenden Anklagepunkts – auf 1 Jahr ins Gefängnis (vgl. Davis 104). – Was tun die Genossen? (2)

Das iterierte (wiederholte) Gefangenendilemma

Viele reale Interaktionen von persönlichen bis hin zu internationalen Beziehungen können als wiederholtes Gefangenendilemma aufgefasst werden. Um einen Eindruck von der Problematik des wiederholten Gefangenendilemmas zu bekommen, stelle mensch sich vor, das oben angegebene Gefangenendilemma zehnmal mit einer anderen Person zu spielen. Das Ziel ist den eigenen Nutzen zu maximieren. Absprachen oder die Teilung des Gewinns sind nicht möglich. Was ist in diesem Fall eine gute Strategie? Wie oft soll ich kooperieren, wenn die andere Person defektiert? Wann ist es für mich sinnvoll zu defektieren?

Computerturniere

Diese Fragen wurden in den achtziger Jahren mit Hilfe zweier Computerturniere untersucht. Am ersten Turnier nahmen vierzehn Wissenschaftler aus verschieden Disziplinen teil. Jeder Teilnehmer schrieb für das Turnier ein Programm, das eine Regel für die Wahl von Kooperation und Nicht-Kooperation bei jedem Zug enthielt. Ein Spiel bestand aus zweihundert Zügen. Für jeden Zug wurde die oben abgebildete Auszahlungsmatrix verwendet. Jede Strategie spielte gegen jede andere. Die Aufgabe war es, möglichst viele Punkte eimzuheimsen. (3) Eine Strategie wäre zum Beispiel, ich kooperiere dreimal und dann, wenn mein Gegenüber sich in Sicherheit wiegt, nutze ich ihn aus und kassiere die höhere Auszahlung. Eine andere Strategie wäre, ich kooperiere solange bis mein Gegenüber defektiert, dann defektiere ich nur noch. Die Ergebnisse des ersten Turniers wurden interpretiert, veröffentlicht und den 62 Teilnehmern eines zweiten Turniers zur Verfügung gestellt.

Die Überlegenheit kooperativer Strategien (4)

Das erstaunliche Ergebnis der Turniere war, daß Programme, die eine kooperative Strategie verfolgten, vorne lagen, während Programme, die versuchten den anderen auszubeuten, am Ende der Tabelle standen. Die kooperativen Strategien gewannen, weil sie im Spiel miteinander viele Punkte erhielten, während die nicht-kooperativen Programme versuchten sich gegenseitig auszubeuten und mit der geringsten Auszahlung sitzenblieben. Von den Regeln, die im zweiten Turnier die ersten fünfzehn Plätze belegten, waren alle bis auf eine Regeln, die nicht als erste defektierten. Die Eigenschaft einer Strategie nicht als erste zu defektieren kann mensch als Freundlichkeit interpretieren. Als besonders fatal erwies es sich im ersten Zug zu defektieren. Dies führte in den meisten Fällen zu fortgesetzter, gegenseitiger Defektion und geringer Punktzahl.

Die hobbsche Auffassung, daß die Menschen, wenn sie nicht mit Gewalt davon abgehalten werden, einander feindlich begegnen, erweist sich beim iterierten Gefangenendilemma als schädlich. Auf die Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung verhindert sie, daß Kooperation in Gang kommt und führt zu schlechtem Abschneiden.

Freundlichkeit hingegen lohnt sich, weil der dauerhafte Nutzen, wenn sie erwidert wird, den kurzfristigen Schaden, wenn sie ausgebeutet wird, überwiegt.

Tit for tat

In beiden Turnieren gewann das einfachste Programm „Tit for tat“. Tit for tat kooperiert im ersten Zug und tut dann das, was der andere Spieler im vorhergehenden Zug getan hat. Neben der Freundlichkeit beruhte der Erfolg von tit for tat darauf, daß es sich nicht ausbeuten läßt. Auf eine Defektion reagiert tit vor tat mit genau einer Defektion. Es schlägt zurück, ist aber nicht rachsüchtig. Regeln die erst nach mehrfacher Defektion des Gegners aufhörten zu kooperieren, versagten gegenüber raffinierten Ausbeutern. Während rachsüchtige Programme, die auf eine einmalige Defektion die Kooperation ganz einstellten, sich durch fortgesetzte gegenseitige Defektion selbst schadeten.

Gewaltfreiheit und Tit for tat

Weil Kooperation in diesem Modell nicht durch Wohltun und Nachsicht sondern durch Sanktionen erhalten wird, mag der eine oder die andere LeserIn an dieser Stelle stutzen. Nicht die Feindesliebe des neuen Testaments, sondern das alttestamentarische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ wird favorisiert. Wobei schon das alte Testament wußte, daß die Vergeltung nur einfach sein darf. Der Grund hierfür ist, daß durch Feindesliebe oder durch gewaltfreie Konfliktmittel versucht wird, Konflikte über eine Neubewertung der Präferenzen zu lösen. Dies setzt sowohl Einsicht und Vernunft als auch die Möglichkeit zur Kommunikation voraus, erlaubt aber auch die Lösung von Nullsummenspielen. Mit Hilfe der Spieltheorie hingegen wird die Entstehung und der Erhalt von Kooperation erklärt, wenn die Präferenzen unveränderlich sind. Sei es weil die Spieler vernunftlose Lebewesen (oder Computer) sind, sei es weil die Kommunikation auf ein Minimum beschränkt ist, sei es weil die Konfliktgegner die Mittel gewaltfreier Konfliktlösung nicht kennen oder nicht anwenden wollen.

Dies soll an zwei Beispielen demonstriert werden:

Darwinismus, mutual aid und evolution.

Sowohl Herrschaft als auch Sozialdarwinismus werden gerne mit einem falschen Verständnis von Darwins Evolutionslehre gerechtfertigt. Da der Mensch eine Tierart ist, sollen auch die Gesetze der Evolution der Kampf ums Dasein (struggle for live) und das Überleben der Stärksten (survival of the fittest) für ihn gelten. Im ersten Fall muß der Kampf deshalb unterdrückt, im zweiten Fall soll er im Sinne einer natürlichen Auslese zugelassen werden.

In seinem Klassiker „Gegenseitige Hilfe bei Menschen und Tieren“ weist Kropotkin aufgrund von Beobachtungen, die er auf seinen Reisen durch Sibirien machte, und an Hand von Beispielen aus der zeitgenössischen Literatur (z.B. Brehms Tierleben) nach, daß die Vorstellung von Kampf aller gegen alle dem Leben in der Natur widerspricht. Bei Darwins „Kampf ums Dasein“ handelt es sich nicht um einen wirklichen Kampf zwischen Tieren verschiedener Arten, z.B. Löwen und Gazellen oder dem Kampf zweier Tiere derselben Gattung, z.B. um ein Territorium, wie es sich einige Kleinhirne vorstell(t)en, sondern um die Konkurrenz um Lebenschancen innerhalb einer Art. „The fittest“ oder „die Stärksten“ sind diejenigen Lebewesen innerhalb einer Art, denen es gelingt sich fortzupflanzen und ihre Eigenschaften zu vererben. Dies sind in Wirklichkeit diejenigen Tiere einer Art, die kooperieren; während diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind, im Laufe der Zeit aussterben. Daher sind unter den Tieren Kooperation und Solidarität die Regel und Kampf ist die Ausnahme. Sowohl was die Beschaffung von Nahrung als auch was den Schutz vor Feinden und das Überleben unter widrigen Umständen betrifft.

„Es wäre ganz unmöglich die verschiedenen Jagdgenossenschaften der Vögel aufzuzählen; aber die Fischereigenossenschaften der Pelikane sind sicher um der bemerkenswerten Ordnung und der Intelligenz willen, die von diesen plumpen Vögeln entwickelt wird, erwähnenswert. Sie gehen immer in großen Scharen zum Fischen, und nachdem sie eine geeignete Bucht ausgesucht haben, bilden sie einen großen Halbkreis gegenüber dem Ufer und machen ihn enger, indem sie dem Ufer zuwaten, und so fangen sie alle Fische, die gerade in dem Kreis eingeschlossen sind. … Wenn die Nacht kommt fliegen sie zu ihren Ruheplätzen – immer derselbe für jeden Zug – und niemand hat sie je um den Besitz einer Bucht oder des Ruheplatzes kämpfen sehen. In Südamerika versammeln sie sich in Zügen von vierzig- bis fünfzigtausend, von denen ein Teil sich des Schlafes erfreut, während die anderen Wache halten und andere wieder ans Fischen gehen.“ (Kropotkin S.41)

„Die kleinen aber äußerst schnellen Kiebitze (Vanellus cristatus) greifen die Raubvögel kühn an. ‚Es ist ein höchst anziehendes Schauspiel, Kiebitze zu beobachten, die einen Bussard, eine Weihe, einen nach den Eiern lüsternen Raben oder einen Adler anfallen: man glaubt ihnen die Siegesgewißheit, und dem Räuber den Ärger anzumerken. Einer unterstützt dabei den anderen, und der Mut steigert sich, je mehr der Angreifer durch den Lärm herbeigezogen werden.‘ (Brehm) Der Kiebitz hat den Namen ‚Gute Mutter‘, den ihm die Griechen gaben, wohlverdient, denn er unterläßt nie, andere Wasservögel vor den Angriffen ihrer Feinde zu schützen. Aber selbst die kleinen Bachstelzen (Motacilla alba), die wir in unseren Gärten gut kennen und die kaum zwanzig Zentimeter groß sind, zwingen den Sperber, seine Beute zu lassen.“ (S.42f)

„Unter den Möven (Larus argentatus) sah Polyakoff auf einer Marsch in Nordrußland, daß die Nestanlagen einer sehr großen Zahl dieser Vögel immer von einem Männchen patroulliert wurden, das die Kolonie im Fall der Gefahr warnte. Alle Vögel stiegen dann auf und griffen den Feind sehr energisch an. Die Weibchen, die fünf oder sechs Nester zusammen an jeder Ecke der Marsch hatten, wahrten eine gewisse Ordnung, wenn sie ihr Nest verließen, um Futter zu suchen. Die eben flügge gewordenen Vögel, die sonst äußerst ungeschützt sind und leicht die Beute der Raubvögel werden, werden nie allein gelassen.“ (S.51) (5)

„Das Leben in Gesellschaft ist wiederum die Regel bei der großen Familie der Pferde, die die Wildpferde und Wildesel Asiens, das Zebra, die Mustangs, die Cimarrones der Pampas und die halbwilden Pferde Mongoliens und Sibiriens umfaßt. Sie leben alle in zahlreichen Vereinigungen, die aus vielen Gruppen zusammengesetzt sind, von denen jede aus einer Zahl Stuten unter der Führung eines Hengstes besteht. Diese zahllosen Bewohner der alten und neuen Welt, die im ganzen für den Widerstand gegen ihre vielen Feinde und die widrigen Verhältnisse schlecht ausgestattet sind, wären bald von der Erdoberfläche verschwunden gewesen, wenn sie nicht ihren sozialen Geist gehabt hätten. Wenn ein Raubtier sich ihnen naht, vereinigen sich sofort mehrere Gruppen sie schlagen das Tier zurück und verfolgen es manchmal; und weder der Wolf noch der Bär und nicht einmal der Löwe kann ein Pferd oder nur ein Zebra wegfangen, solange sie sich nicht von der Herde entfernt haben. Wenn eine Trockenheit das Gras der Prärien verbrannt hat, sammeln sie sich in Herden von manchmal 10000 Individuen und wandern aus. Und wenn ein Schneesturm in den Steppen tobt, dann hält sich jede Gruppe eng zueinander und wendet sich einer geschützten Schlucht zu. Aber wenn die Zuversicht verschwindet oder die Gruppe von einer Panik ergriffen wird und sich auflöst, dann gehen die Pferde zugrunde und die Überlebenden werden nach dem Sturm halbtot vor Ermattung aufgefunden.“ (S.60)

Nicht Kampf sondern gegenseitige Hilfe ist der entscheidende Faktor der Evolution!

„Das Gesellschaftsleben setzt die schwächsten Insekten, Vögel und Säugetiere instand, den schrecklichen Vögeln und Raubtiere Widerstand zu leisten oder sich vor ihnen zu schützen, es verschafft langes Leben, es setzt die Art instand, ihre Nachkommen mit möglichst geringen Kraftaufwand aufzuziehen und ihre Zahl ungeachtet sehr langsam einander folgender Geburten zu behaupten; es befähigt die Herdentiere, sich auf der Suche nach neuen Wohnungen auf die Wanderschaft zu begeben. Daher behaupten wir, obwohl wir völlig zugeben, daß Kraft, Schnelligkeit, Schutzfarben, List und Ausdauer im Ertragen von Hunger und Kälte, die von Darwin und Wallace angeführt werden, lauter Eigenschaften sind, die das Individuum oder die Art in bestimmten Fällen zu den geeignetsten machen, daß in allen Fällen die Geselligkeit der größte Vorteil im Kampf ums Dasein ist. … Was die Gabe des Intellekts angeht, so wird jeder Darwinist, ebenso wie er mit Darwin erklärt, daß er die mächtigste Waffe im Kampf ums Dasein und der mächtigste Faktor zu ferner Entwicklung ist, zugeben, daß die Intelligenz eine eminent soziale Eigenschaft ist. Sprache, Nachahmung und gehäufte Erfahrung sind lauter Elemente der wachsenden Intelligenz, deren das unsoziale Tier beraubt ist. Daher finden wir an der Spitze jeder Tierklasse die Ameisen, die Papageien und die Affen, die alle die größte Geselligkeit mit der höchsten Verstandesentwicklung vereinigen. Die geeignetsten – die, die im Kampfe gegen alle widrigen Umstände am besten gerüstet sind – sind also die geselligsten Tiere, und Geselligkeit erscheint als der Hauptfaktor der Entwicklung, sowohl direkt dadurch, daß das Wohlergehen der Art mit möglichst geringem Kraftaufwand gesichert wird, wie indirekt dadurch, daß die Entwicklung des Verstandes begünstigt wird.“ (S.68f)

Eine ökologische Analyse auf der Basis des iterierten Gefangenendilemmas bei der von mal zu mal die Programme die in einem Turnier am schlechtesten abschneiden ausscheiden, bestätigt Kropotkin Auffassung. Zuerst scheiden die Programme aus, die sich ausbeuten lassen. Die Ausbeuter sterben aus nachdem sie die ausbeutbaren Programme verdrängt haben. Übrig bleiben Strategien die die Fähigkeiten haben zu kooperieren und sich gegen Ausbeutung zu schützen.

Der Erste Weltkrieg und das System des leben und leben lassen

Ein zweites Beispiel für die Entwicklung von Kooperation auf der Grundlage von tit for tat ist das System des „Leben und Leben Lassens“ im Stellungskrieg des ersten Weltkrieg.

Im ersten Weltkrieg war die Westfront der Schauplatz grausamer Schlachten um ein paar Meter Geländegewinn. Andererseits hielten sich die feindlichen Soldaten zwischen diesen Schlachten und selbst während ihres Verlaufs an anderer Stelle der Front in erstaunlichem Maße zurück. Dies geschah entgegen der militärischen Logik des Töten oder Getötet Werden und trotz der Versuche höherer Offiziere dies zu unterbinden. Ein britischer Stabsoffizier bemerkte während einer Inspektion der Front, er habe,

„mit Erschrecken festgestellt, daß deutsche Soldaten in Reichweite unserer Gewehre hinter ihren eigenen Linien umhergehen. Unsere Leute schienen davon keine Notiz zu nehmen. Ich beschloß, nach Übernahme der Stellung diese Dinge abzustellen; so etwas sollte nicht erlaubt werden. Diesen Leuten war offensichtlich nicht klar, daß sie sich im Krieg befanden. Beide Seiten glaubten anscheinend an die Politik des ‚Leben und leben lassen'“ (Axelrod 67)

Die militärischen Oberkommandos betrachteten den Krieg als Nullsummenspiel. Jeder Schaden, der dem Gegner zugefügt wurde, mußte sich bei zukünftigen Schlachten positiv auswirken. Für die Soldaten wurde der Krieg dadurch, daß sich an der Westfront langfristig dieselben Einheiten gegenüberlagen zu einem iterierten Gefangenendilemma. Sie konnten wählen zwischen „gezielt schießen um zu töten“ und „vorsätzlich so schießen, daß Verletzungen vermieden werden“.

Während offene Fraternisierungen zu Beginn des Krieges durch das Oberkommando leicht unterdrückt wurden, kam das System gegenseitiger Zurückhaltung ohne mündliche Absprachen aus. Es entstand z.B. aus Waffenruhen, die von Schlechtwetterperioden erzwungen wurden. Nach einer solchen Pause lag es nahe, den Beginn neuer Kampfhandlungen zu verzögern. Hatte der Prozess wechselseitiger Zurückhaltung erst einmal begonnen, konnte er auf andere Gelegenheiten, z.B. auf die Essenszeiten, ausgeweitet werden.

„Es wäre ein Kinderspiel, die mit Verpflegung und Wasserkarren vollgestopfte Straße hinter den feindlichen Linien zu beschießen und in eine blutige Wüste zu verwandeln…aber im großen und ganzen ist es ruhig. Wenn Du Deinen Feind daran hinderst, seine Verpflegung zu fassen, verfügt er schließlich über ein einfaches Mittel: er wird Dich daran hindern, Deine zu bekommen.“ (zitiert nach Axelrod S.78). Die erzielten Kooperationserfolge wurden an benachbarte Einheiten und vor allen an die Ablösung weitergeben. Ein englischer Veteran empfing einen Neuling mit den Worten: „Der Deutsche ist kein schlechter Kerl. Laß‘ ihn in Ruhe, dann läßt er Dich in Ruhe.“ (S.71)

Während der Perioden wechselseitiger Zurückhaltung waren die Soldaten darauf bedacht zu zeigen, daß sie nötigenfalls tatsächlich zurückschlagen konnten. Deutsche Scharfschützen bewiesen den Briten z.B. dadurch ihre Vergeltungsmöglichkeit, daß sie solange auf den Flecken an der Mauer einer Hütte schossen, bis sie ein Loch durchgebrochen hatten. Noch auffallender war das an vielen Stellen auftretende vorhersehbare Artilleriefeuer. Von einer Stelle der Front wird berichtet, die Deutschen führten „ihre offensiven Operationen mit einer taktvollen Mischung aus gleichbleibendem und schlecht gezielten Beschuß, der einerseits die Preußen zufrieden stellt und andererseits Thomas Atkins keine ernsthaften Schwierigkeiten macht“ (S.78).

Engländer und Franzosen verhielten sich ebenso.

„Er begann um sieben – so pünktlich, daß man seine Uhr danach stellen konnte…Er hatte immer das gleiche Ziel, sein Umfang war genau bemessen, er wich nie zur Seite aus oder schlug vor oder hinter dem Ziel ein… Es gab sogar ein paar Vorwitzige, die (kurz vor sieben) herauskamen, um die Einschläge zu sehen.“ (S.78)

Da die Artillerie hinter der Front weniger gefährdet war als die Infanterie, nahm sie an dem Gefangenendilemma nicht teil. Um zu verhindern, daß das System durch Artilleriefeuer zerstört wurde, war die Infanterie auf ein gutes Verhältnis zur Artillerie bedacht. Andererseits hatte insbesondere die Artillerie die Funktion Provokationen zu vergelten. Ein neuer vorgeschobener Artilleriebeobachter wurde von den Infanteristen häufig mit dem Wunsch begrüßt „Ich hoffe, Du beginnst keinen Ärger“. Die beste Antwort war „Nicht, ohne daß Du es willst.“ (S.73)

Aus dem System der gegenseitigen Zurückhaltung entwickelte sich teilweise sogar ein Interesse am Wohlergehen der anderen Seite.

„Ich trank gerade Tee bei der Kompanie A., als wir lautes Geschrei hörten. Wir gingen nach draußen, um zu sehen was vorgefallen war. Unsere Männer und die Deutschen standen auf der Brustwehr. Plötzlich schlug eine Salve ein, die jedoch keinen Schaden anrichtete. Beide Seiten gingen natürlich in Deckung und unsere Leute fluchten über die Deutschen. Auf einmal kletterte ein mutiger Deutscher auf seine Brustwehr und rief ‚Wir bedauern das sehr. Hoffentlich wurde niemand verletzt. Es war nicht unsere Schuld. Es war die verfluchte preußische Artillerie.“ (S.77)

Das System brach zusammen als die Militärführung dazu überging, Stoßtruppunternehmen einzusetzen. Die Angreifer hatten Befehl, den Feind in seinen eigenen Stellungen zu töten oder gefangen zu nehmen. Wenn der Stoßtrupp Erfolg hatte, konnten Gefangene gemacht werden, war er ein Fehlschlag, dann waren Verluste der Beweis für den Versuch. Die Einheiten verloren auf diese Weise ihren Handlungsspielraum, da sie die Kampfhandlungen nicht mehr vortäuschen konnten, ohne selbst Schaden zu nehmen.

Die Organisation gegenseitiger Hilfe

Wenn Kooperation selbst unter Feinden und vernunftlosen Lebewesen aufgrund bestimmter Strukturen entstehen kann, liegt es nahe für die Organisation von Gegenseitiger Hilfe diese Strukturen künstlich zu schaffen. Z.B. ließe sich die Zusammenarbeit linker Gruppen, wenn die Kommunikation durch Entfernung eingeschränkt ist, auf dieser Grundlage organisieren. In einer herrschaftsfreien Gesellschaft könnte so der Austausch von Gütern oder Dienstleistungen, wenn mensch ihn ohne Geld und mit den Menschen, wie sie heute sind, vollziehen will, stattfinden.

Ich möchte den Vorteil von langfristigen Interaktionen und von der Möglichkeit, Kooperation mit Kooperation und Defektion mit Defektion zu beantworten, an zwei Beispielen illustrieren.

1. Bei einer Hausbesetzung in Münster (siehe GWR 259) standen die BesetzerInnen vor der Wahl, sich von der Polizei räumen zu lassen oder auf das Versprechen hin, daß keine Personalien feststellt würden, das Haus „freiwillig“ zu verlassen. Wegen der schlechten Presse und dem Aufwand einer Räumung war der Polizei sicherlich die erste Möglichkeit am unangenehmsten. Nachdem die BesetzerInnen jedoch das Haus verlassen hatten, gab es für die Polizei keinen Grund mehr, ihr Versprechen zu halten und die Leute wurden ins Polizeipräsidium gebracht. Hätten die BesetzerInnen das Haus einzeln verlassen und obendrein die Polizei über ihre Anzahl im ungewissen gelassen, so wäre ein iteriertes Gefangenendilemma entstanden, in dem der kurzfristige Vorteil einen Besetzer ohne Aufwand festzunehmen, für die Polizei den langfristigen Ärger einer Räumung bedeutet hätte.

2. In selbstverwalteten Strukturen lastet die Arbeit oft auf wenigen Personen oder wird nicht erledigt. Augenfällig ist dies beim Putzen oder Reparieren von Schäden in libertären Zentren. Appelle an die Verantwortung aller für das gemeinsame Projekt nutzen wenig. Weil jede(r) Einzelne das Projekt auch ohne Arbeit zu investieren nutzen kann, kommt es bestenfalls zu kurzfristigen Rettungsaktionen. (Die Finanzierung von Zeitungen auf Spendenbasis ist ein ähnliches Problem.) Sinnvoller ist es, die Arbeit an die Nutzung der Räumlichkeiten zu koppeln. Etwa so, daß eine konkrete Gruppe, die eine Räumlichkeit einmal die Woche nutzt, einmal die Woche eine bestimmte Arbeit ausübt. Auf diese Weise entsteht ein iteriertes Gefangenendilemma, in dem die Wechselseitigkeit die Kooperation garantiert und Gruppen, die nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, ausgeschlossen werden.

(1) Zur Ehrenrettung der Wölfe sei gesagt, daß diese im Rudel leben und aus ihrer Fähigkeit zu kooperieren, z.B. bei der Jagd, großen Nutzen ziehen. Der einsame Wolf ist eine Chimäre.

(2) Das "Gefangenendilemma" verdankt seinem Namen einer ähnlichen Anekdote. Anarchist und Kommunist habe ich ergänzt um Freundschaft auszuschließen..

(3) Da erklärt werden soll, wie Kooperation unter Egoisten (!) entstehen kann, ist diese Intention notwendig.

(4) In meiner Darstellung fasse ich die Ergebnisse beider Turniere zusammen und vereinfache. Für die Feinheiten empfehle ich das Buch "Die Evolution der Kooperation" von Robert Axelrod zu lesen, auf dem dieser Artikel aufbaut.

(5) In der Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird die Zusammenarbeit von Tieren entgegengesetzt wahrgenommen. Wer allein kämpft gilt als mutig, edel etc. während diejenigen, die aufgrund größerer Intelligenz zusammenarbeiten, feige sind. In Hemmingways "Der alte Mann und das Meer" kämpft der Fischer zuerst gegen einen einzelnen großen, starken Hai, den er als würdigen Gegner akzeptiert und besiegt. Das Rudel Blauhaie, die dem alten Mann, indem sie zusammenarbeiten ohne Schwierigkeiten seine Beute abjagen, gilt als feiger "Pöbel des Meeres". Diese Anregung verdanke ich einem Vortrag von J. Steinbeiß in Rysum 2000.

Anmerkungen

Der Autor steht als Referent zum Thema dieses Artikels zur Verfügung und kann über GWR Münster erreicht werden.

Literatur

Axelrod, Robert "Die Evolution der Kooperation"; München, Oldenbourg, 1988

Davis, Morton "Spieltheorie für Nichtmathematiker"; Wien, Oldenbourg, 1972

Rapoport, Anatol "Kämpfe, Spiele und Debatten"; Darmstadt, Verlag Darmstätter Blätter, 1976

Kropotkin, Peter "Gegenseitige Hilfe"; Grafenau, Trotzdem-Verlag, 1999