Der Afghanistan-Krieg im November/Dezember 2001
Als Nordallianz-General Dostam ins befreite Mazar-i-Sharif einrückte, machte er kurzen Prozess: ca. 300 Menschen massakrierte er nach deren Kapitulation. Die US-Luftwaffe hatte die Truppen mit Bombenangriffen unterstützt. Kurz darauf dasselbe nach der Eroberung von Kunduz: die geschlagenen Truppen wurden in die Festung Qala-e-Janghi gebracht, machten dort einen Gefängnisaufstand, der von Dostam ebenfalls mit Unterstützung der US-Luftwaffe blutig unterdrückt wurde: danach gab es 600 Leichen.
Der Jugoslawien-Krieg im Frühjahr 1999
Wir erinnern uns: das Massaker von Raçak wurde als Anlaß für die Bombardierung Jugoslawiens genommen, obwohl bis heute nicht zweifelsfrei feststeht, wie die 45 dort ermordeten Kosovo-Albaner zu Tode gekommen sind. Aber richtig: es handelte sich um – „nur“ – 45!
Für afghanische Verhältnisse ist das ein wegen Geringfügigkeit vernachlässigbarer Fall. Nach Angabe des britischen Journalisten Robert Fisk haben die Generäle der Nordallianz während ihrer Herrschaft in Afghanistan zwischen 1992 und 1996 ca. 50.000 Menschen massakriert, darunter in einer Vielzahl von Fällen nach Angaben der afghanischen Frauenorganisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan) Frauen nach Vergewaltigungen (vgl. GWR 263 und GWR 264). Werden sie jetzt zur Verantwortung gezogen? Nein, sie werden mit politischer Macht belohnt! (1)
In den USA können des Terrorismus Verdächtige auf Weisung von Präsident Bush neuerdings vor Militärgerichte gestellt und mit einem Minimum von Beweisen aus den Reihen der Geheimdienste hingerichtet werden. „Welch eigentümliche Formen die neue Patriotismusdebatte (in den USA, d.A.) mitunter annimmt, zeigt die kurz aufgeflackerte Diskussion, wie man redeunwillige Terroristen Geständnisse abpressen könne. ‚Zeit, über die Folter nachzudenken‘, überschrieb das amerikanische Nachrichtenmagazin ‚Newsweek‘ in seiner Ausgabe vom 5.November einen Artikel des Kolumnisten Jonathan Alter.
Kaum hatte ‚Newsweek‘ den Artikel veröffentlicht, nahmen das National Public Radio und natürlich Fox News das Thema auf, um es in Expertenrunden hin- und herzuwenden.“ (2)
Staaten, in denen unzweifelhaft seit langem gefoltert wird, werden nicht mehr kritisch hinterfragt, denn ihre Opfer sind IslamistInnen oder können leicht als solche hingestellt werden: Russland und seine Tschetschenen, Algerien und seine Islamisten. Wie arrogant westliche Industrienationen im Namen der Menschenrechte Krieg führen und dabei selbst Folter wieder neu fordern, neu legitimieren oder den Mantel des Schweigens über sie ausbreiten, wie scheinheilig und doppelbödig ihre Moral gerade in dieser Frage ist, mit der die Opfer von Folter ja ursprünglich Genugtuung gefordert haben, zeigt sich derzeit in Frankreich an einem ganz besonderen Beispiel: Algerien und dem Algerienkrieg von 1954-62 – einem ungemein brutal geführten Krieg. Und damals gab es ca. 500.000 Tote, davon 80-90 Prozent AlgerierInnen – davon ein kleiner Prozentsatz wiederum von algerischen Kämpfern als KollaborateurInnen hingerichtet – (3), eine Aneinanderreihung von Massakern, Hinrichtungen und eine Folterpraxis, die so verbreitet war, dass wiederum afghanische Verhältnisse damit verglichen an Intensität abfallen.
Der Prozeß gegen General Aussaresses
Seit dem 26. November 2001 findet vor einer Pariser Strafkammer der erste Prozess gegen einen Folterer des Algerienkrieges statt: gegen General Aussaresses. Als Oberst leitete er ab 1957 die militärischen Geheimdienstoperationen der französischen Kolonialtruppen in Algerien gegen die Bombenattentate der algerischen nationalen Befreiungsorganisation FLN (Front de Libération Nationale), die damals als terroristisch galten und – weil sie auf die französischsprachige Zivilbevölkerung zielten – auch terroristisch waren. Es war also ein Krieg gegen Terrorismus wie eben heute auch. Besonders vor und während der ‚Schlacht um Algier‘ 1955-57 folterte Aussaresses und brachte eigenhändig mindestens 24 Gefangene um. Wenigstens gibt er diese Zahl selbst an. Bedauern? Gar Entschuldigungen? Bewahre! Ganz im Gegenteil! In zwei Büchern und etlichen öffentlichen Interviews prahlte Aussaresses nämlich mit seinen Folterungen und Hinrichtungen, hielt sie für notwendig, sich selbst als pflichterfüllten Soldaten oder legitimierte sie mitunter sogar als Akt der Nächstenliebe:
„Eine Aussage zur rechten Zeit konnte zig Menschenleben retten.“ (4)
Es ist dies tatsächlich der erste Strafgerichtsprozess in Frankreich gegen Folterungen und Hinrichtungen der französischen Armee im Algerienkrieg überhaupt, mehr als 40 Jahre danach! Vordem hatte es nur Diffamierungsprozesse gegeben, etwa gegen den Folterer Jean-Marie Le Pen, den Rechtsnationalisten, der diese Prozesse in letzter Instanz zudem meist auch noch gewann. Frage: würde die NATO einem „Schurkenstaat“ soviel Zeit geben, sich mit der eigenen Praxis, der eigenen Vergangenheit „auseinanderzusetzen“? Warum aber dauerte es so lange? Weil es in Frankreich 1964 und 1966 zwei Amnestiegesetze gegeben hat, die der Justiz jegliche Verfolgung von Kriegsverbrechen verbieten, und zwar auf Seiten der französischen Armee wie auch auf Seiten der FLN – ein Gentlemens-Agreement der ehemaligen Kriegsparteien zu beiderseitigem Nutzen und in beiderseitigem Interesse. Wenn die FLN-Nachfahren, die Militärmachthaber Algeriens heutzutage nämlich von Seiten der EU Druck wegen ihrer gegenwärtigen Praxis der Folter bekommen, wie das eine Eingabe von Cohn-Bendit, dem Spanier Juan Goytisolo und Pierre Bourdieu im Mai 2001 bewirkte (5), kann sich das Regime bequem auf dem fehlenden Schuldbekenntnis Frankreichs und deren Leichen im eigenen Keller ausruhen – in der Regel kommt auch auf französische Kritik an algerischen Menschenrechtsverletzungen vom algerischen Regierungslager regelmäßig der Hinweis zurück, man/frau solle doch zuerst vor der eigenen Türe kehren. Und er ist nicht einmal falsch.
Erst seit 1999 hat das französische Parlament überhaupt anerkannt, dass es sich beim Algerienkrieg um einen „Krieg“ gehandelt hat. Vordem galt die Formulierung, es seien „Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ gewesen. „Kriegsverbrechen“ konnte es also überhaupt erst seit 1999 geben. Und in Verbindung mit den Amnestiegesetzen ist der Prozess gegen Aussaresses in Paris auch kein Prozess, in welchem der inzwischen krebskranke und altersschwache General kurz vor seinem Tode wegen seiner Taten zur Verantwortung gezogen wird, sondern vor allem wegen seiner zwei Bücher (6), in denen er die Folter rückblickend legitimierte und verteidigte. Angeklagt sind er und zwei Verleger der Éditions Perrin deshalb wegen „Beihilfe zur Legitimation von Kriegsverbrechen“. Der Prozess kam zudem nur auf Druck von Basisinitiativen zustande, die die Bücher lasen und ihren Augen nicht trauten. Die „Internationale Föderation für Menschenrechte“ (FIDH) und die „Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft“ (MRAP) klagte zudem noch auf „Beihilfe zur Legitimation von Verbrechen gegen die Menschheit“, doch diese Klage ließ das Gericht nicht zu. Die Angeklagten haben nun eine Geldstrafe von bis zu 100000 Francs zu erwarten, das Urteil wird gegen Ende Januar erwartet – doch darauf kam es den Initiativen nicht an. Es ging ihnen um die Öffentlichmachung und Denunziation der Folter, um einen weiteren Anstoß zu einer öffentlichen Diskussion, die in Frankreich im Zuge mit der Auseinandersetzung über den Algerienkrieg erst seit Mitte der 90er Jahre ins Rollen gekommen ist. Davor gab es jene absurde Situation: jede/r BürgerIn wusste von der Folter, aber niemand sprach darüber.
Und nun stehen die Chancen dafür, dass die Initiativen in der heutigen Kriegszeit mit ihrem Anliegen Erfolg haben, auf einmal wieder schlecht. Am Ende seines zweiten Buches hat Aussaresses selbst die nahe liegende Parallele zur heutigen neuen Diskussion um die Legitimität von Folter im Krieg gegen den Terrorismus gezogen: was heute im Krieg gegen den Terror wieder gefordert werde, könne damals nicht falsch gewesen sein. Außerdem weist Aussaresses in seinen Büchern darauf hin, dass der damalige Innenminister François Mitterand nicht einfach nur Mitwisser war, wie das bisher in der französischen Öffentlichkeit entschuldigend kolportiert wird. Bis vor kurzem hiess es zu Mitterand, er „dürfte um die ‚algerischen Ereignisse‘ gewusst haben, lehnte Mord und Folter ab, protestierte aber nur schwach.“ (7) Der arme, arme Sozialdemokrat – hat er sich mit seinem Protestchen nicht durchsetzen können? Nein, Aussaresses macht in seinen Büchern deutlich, er selbst habe nur Befehle empfangen und sie pflichtgetreu ausgeführt. François Mitterand selbst sei es gewesen, der ihn aufgefordert habe, „alle dem Terrorismus Verdächtigen der FLN zu neutralisieren“ und dabei „alle notwendigen Mittel“ anzuwenden, dafür sei ihm von Mitterand das Versprechen „vollständiger Immunität“ gegeben worden. (8) Sieht so schwacher Protest aus?
Nein, Mitterand – der spätere große Präsident – war ganz genauso der Folter, der Hinrichtungen ohne ordentliche Gerichtsverfahren, der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschheit schuldig, wie sich heute George W. Bush und Gerhard Schröder in Afghanistan schuldig machen. Nichts, nicht die mindesten bürgerlich-demokratischen Werte, zu denen die Ablehnung der Folter und des Standgerichts ja wohl zählen, ist ihnen noch heilig. Selbst die Nazis wurden von den Westmächten damals weder gefoltert noch ohne ordentliches Gericht hingerichtet. Die Westmächte haben vor der Welt die beispielhaften Nürnberger Prozesse durchgeführt und dadurch gezeigt, dass gerade der Kampf gegen das Böse andere Maßstäbe einhalten muss als das angeklagte Böse selbst. Jetzt muß ich als Anarchist schon den damaligen US-Präsidenten Truman zitieren:
„Exekutionen oder Bestrafung in Abwesenheit eines Gerichtsurteils, ohne dass präzise und juristisch einwandfrei die Schuld erwiesen ist, beruhigen weder das amerikanische Gewissen, noch lassen sie unsere Kinder einmal stolz auf uns sein.“ (9)
Die brutale Realität des Algerienkrieges
Die ganze Praxis und Brutalität des Krieges am Beispiel des Algerienkrieges führt uns ein glänzend geschriebener, dabei die algerische Realität des ersten wie auch des zweiten Algerienkrieges in den neunziger Jahren umfassender Roman von Aloun Benmalek vor Augen: „Die Liebenden von Algier“, der seit dem Jahr 2000 in die deutsche Sprache übersetzt worden ist. (10) Im ersten Teil des Romans wird von einer der beiden Hauptfiguren, einem Algerier, der sich wie viele BewohnerInnen im damaligen wie im heutigen Krieg nur raushalten will, der nur überleben will und sich keiner der Kriegsparteien anschließen will, beschrieben, wie ihm das unmöglich gemacht wurde. Diese Hauptfigur, Nasreddin, wird bei einer Buskontrolle von seiner eben geheirateten Frau getrennt, festgenommen und von der französischen Besatzungsarmee in eine französische Kaserne gebracht, dort gefoltert. Zunächst redet er nicht:
„Wie einfach wäre es, zu reden, wie verführerisch, und für einen Augenblick könnte er sogar dieser Hölle entkommen. Die Soldaten hatten hohe Verluste in dieser Gegend. Sie sind wütend, und wenn er ihnen nichts sagt, dann werden sie ihn umbringen, sie werden sich nicht einmal die Mühe machen, diesen Mord nach dem Motto ‚auf der Flucht erschossen‘ zu tarnen. (…) Auf der anderen Seite werden die Mudschahidin ihm den Bauch aufschlitzen, wenn er ihnen den geringsten Anlaß gibt, an seiner Loyalität zu zweifeln. Im Duar (Dorf, d.A.) hat man ihm erzählt, dass in einem benachbarten Weiler ein Bauer im Verdacht stand, den Franzosen Informationen zu liefern. Er wurde entführt, und später fanden Leute seine schrecklich verstümmelte Leiche: Man hatte ihm das Geschlecht abgeschnitten, auf einem Schilfrohr aufgespießt und dieses in den Hintern des Verräters gesteckt. Die Maquisards (Guerilleros, d.A.) haben seine Frau und die Kinder gezwungen, auf seine Leiche zu spucken. (…) Man geht zu Elektroschocks über, der Flasche in den Anus, dem mit Urin und Kresol getränkten Lappen. Alles scheint einer eher gelangweilten Routine zu entspringen, die allerdings gut zu funktionieren scheint, es gibt sogar Zuständigkeiten, einen für die Peitsche, einen anderen für die Elektroschocks und schließlich einen Spezialisten für Wanne und Lappen. Tatsächlich gilt es, einen dummen Fehler zu vermeiden: dass der Gefangene hinüber ist, bevor er singt! Am dritten Tag singt Nasreddin dann wirklich, als sein Mut ihn mit einem Schlag verlässt, wie ein riesiger Eisbrocken, der sich von einem Gletscher löst. Er sagt alles, was er weiß, das heißt nicht viel. Sie foltern ihn noch ein bisschen, um es zu überprüfen. Er beginnt Namen von Verbindungsleuten in Algier zu nennen, zuerst jene, bei denen er die vage Vermutung hat, dass sie bei der Front sind. Bald kennt er nur noch den einen Grund, dass dieser schreckliche Schmerz ein Ende haben soll, er nennt Personen aus seiner Nachbarschaft, Namen, die ihm seine nun fehlgehende Erinnerung eingibt oder die mehr oder weniger deutlich zu fühlende Peitsche. Das fällt dem Offizier auf, und er läßt angeekelt die Behandlung einstellen. Der Gefangene ist nun bestenfalls noch ein Statist. Sie bringen trotzdem einige von ihm genannte Leute zur Kaserne, die sich als mehr oder weniger wichtige Maquisards entpuppen. Als man einen von ihnen mit eingeschlagenen Zähnen und blutverschmierten Haaren durch den Gang schleift, ruft ihm dieser verächtlich zu: ‚Dreckiger Verräter! Paß auf deine Kehle auf, wenn du hier rauskommst!‘ Ein Leutnant des Nachrichtendienstes bietet ihm an, er könne in die Armee eintreten, da er so oder so verbrannt ist, denn schließlich kann er nicht mehr in das Duar zurückkehren. Nasreddin wird von einem namenlosen Schrecken übermannt, der ihn verblöden und verstummen läßt.“ (11)
Es ist überhaupt nicht von der Hand zu weisen, dass so oder ähnlich sehr wahrscheinlich auch die Realität von der Nordallianz oder den westlichen Soldaten gefangenen Taliban oder arabischen Islamisten aussieht, die gefragt werden, wo sich Bin Laden oder seine Helfershelfer aufhalten. Wer diesen Krieg aus humanitären Gründen rechtfertigt, weiß nicht, wovon er oder sie spricht – er/sie rechtfertigt damit lediglich die Wiederkehr der Folter, darüber muss man/frau sich klar sein.
(1) Robert Fisk: Aujourd'hui, les criminels de guerre, c'est nous, in Le Monde, 1.12.2001, S. 17.
(2) Jan Fleischhauer: 'Jeden Tag strammstehen'? Kriegsberichterstattung in den USA, Spiegel 46/2001, S. 121.
(3) vgl. Benjamin Stora: Histoire de la guerre d'Algérie (1954-1962), Paris 1995, S. 91.
(4) Aussaresses zit. nach Franck Johannès: Le général Aussaresses jugé pour 'complicité d'apologie de crimes de guerre', in Le Monde, 27.11.2001, S. 10.
(5) Vgl. dazu Konrad Watrin: Frankreichs Algerienkrieg und die Generäle, in Das Parlament, 13.7.2001.
(6) Paul Aussaresses: Services Spéciaux. Algerie 1955-1957, Paris 2001 und Pour la France. Services Spéciaux 1942-1954, Paris 2001.
(7) vgl. Watrin, a.a.O.
(8) vgl. Franck Johannès, a.a.O.
(9) Truman, zit. nach Fisk, a.a.O.
(10) Anouar Benmalek: Die Liebenden von Algier, Luchterhand, München 2000.
(11) Anouar Benmalek, ebenda, S. 23ff.