antirassismus

Ein Silberstreifen am Horizont?

Die Aufhebung des Todesurteils gegen Mumia Abu-Jamal

| Michael Schiffmann

Am Abend des 18. Dezember 2001 platzte die Bombe, und auf der ganzen Welt liefen die Telefone heiß. Es war die Nachricht des Tages, die viele jubeln und die Law-and-order-Fanatiker in den USA schäumen ließ: "Das Todesurteil gegen Mumia Abu-Jamal ist aufgehoben".

Der Jubel wich allerdings bald großer Ernüchterung, denn bei genauerem Hinsehen zeigte sich, daß die Aufhebung des Todesurteils gegen Mumia durch Richter William Yohn Jr. vom in Philadelphia ansässigen 3. Bundesbezirksgericht nur vorläufig ist und der Richter die beiden Habeas-Corpus-Anträge (1)  Mumias (bei denen es um die Überprüfung der verfassungsmäßigen Berechtigung seiner Inhaftierung geht) ansonsten vollständig abgelehnt hat.

Mumias Leben – immer noch in der Schwebe

Die wichtigsten Forderungen der internationalen Solidaritätsbewegung – Anhörung der Beweise für Mumias Unschuld, Wiederaufnahme des Verfahrens und Freiheit für Mumia – bleiben damit unerfüllt. Von Hunderten von Seiten juristischer und faktischer Argumentation in den Eingaben der VerteidigerInnen Mumias bleibt nur der eine magere Punkt 25 übrig, bei dem es darum geht, ob in der Phase des Prozesses, in der das Strafmaß festgelegt wurde, die Anweisungen des Richters an die Geschworenen und die von diesen verwendeten Formulare in unzulässiger Weise verwirrend waren.

Yohn gab der Beschwerde der Verteidigung recht, diese Anweisungen und Formulare hätten den irrtümlichen Schluß aufgedrängt, mildernde Umstände dürften bei der Strafzumessung nur dann eine Rolle spielen, wenn die Geschworenen einstimmig der Meinung sind, daß solche Umstände vorliegen.

Aber damit ist das Todesurteil noch nicht endgültig aufgehoben. Statt dessen gewährt die Entscheidung Yohns der Staatsanwaltschaft Philadelphias eine Frist von 180 Tagen, innerhalb derer sie erneut vor einer Jury die Verhängung der Todesstrafe gegen Mumia beantragen kann. Bei dieser Juryentscheidung würde es ausschließlich um das Strafmaß gehen, wobei die Alternativen Tod bzw. Lebenslänglich heißen.

Diese Frist von 180 Tagen hat mit der Entscheidung vom 18. Dezember noch nicht begonnen, denn sowohl die Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft haben vor dem ebenfalls in Philadelphia ansässigen 3. Bundesberufungsgericht Widerspruch eingelegt.

Dort wird der Widerspruch vor einem Kollegium von drei Bundesrichtern verhandelt, die darüber zu befinden haben werden, ob sie

  • die Entscheidung Yohns aufrechterhalten
  • dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederinkraftsetzung des Todesurteils stattgeben
  • oder die Berechtigung der in den Habeas-Corpus-Anträgen Mumias erhobenen Forderungen nach erneuter Beweisanhörung, Wiederaufnahme des Verfahrens und Freilassung Mumias anerkennen.

Seit Mai 2001: neue VerteidigerInnen, neue Verteidigungsstrategie

Weitgehend unter den Tisch gefallen bei dem Wirbel um die Aufhebung des Todesurteils ist die Tatsache, daß Richter Yohn nicht nur über einen Habeas-Corpus-Antrag zu befinden hatte, sondern über zwei.

Mumia hatte sich im März 2001 von seinen langjährigen Verteidigern Len Weinglass und Dan Williams getrennt, als er von der unmittelbar bevorstehenden Veröffentlichung eines „Insiderberichts über den Fall Mumia Abu-Jamals“ durch Williams erfuhr, in dem nicht nur interne Diskussionen und Streitigkeiten innerhalb des Verteidigerteams ausgeplaudert, sondern auch diverse Entlastungszeugen Mumias angegriffen und demontiert wurden. (2)

Bereits im Mai 2001 nahm dann Mumias jetziges, von der Anwältin Marlene Kamish geleitetes neues Verteiderteam offiziell seine Tätigkeit auf. Das Team Weinglass/Williams hatte in seiner Verteidigungsstrategie immer auf das Prinzip „im Zweifel für den Angeklagten“ gesetzt, und genau diesem Prinzip war auch der Habeas-Corpus-Antrag (HC I) gefolgt, den sie am 15. Oktober 1999 im Namen Mumias bei Richter Yohn einreichten. (3)

Das neue Verteidigerteam dagegen setzte von Anfang auf eine radikal neue Strategie, die die Unschuld Mumias in den Mittelpunkt stellte, und trat sofort mit einer Reihe höchst explosiver neuer Aussagen und Beweise zur Entlastung Mumias an die Öffentlichkeit. Dementsprechend reichte die Verteidigung am 6. August 2001 einen „überarbeiteten und erweiterten Antrag auf Habeas Corpus“ (HC II) (4)  bei Richter Yohn ein, in dem diese neue Herangehensweise ihren Niederschlag fand.

Während Yohn seinen Bescheid über die weitestgehende Ablehnung von HC I auf 272 Seiten ausbreitet, widmet er der Ablehnung von HC II ganze 27 Seiten, auf denen der Antrag summarisch und auf rein formaljuristischer Ebene abgeschmettert wird.

Warum der Bundesrichter, der noch unter Reagan ernannt wurde und vor seiner Amtszeit als Richter republikanischer Politiker war, gerade mit diesem Antrag nichts zu tun haben will, läßt sich leicht aus dem in ihm enthaltenen neuen Beweismaterial erklären, das ein höchst unerfreuliches Licht auf die Strafverfolgungsbehörden der fünftgrößten Stadt der USA wirft.

„Mumia Abu-Jamal ist unschuldig“ (5)

Im Mai 2001 machten Mumia und sein Bruder William („Billy“) Cook erstmals eine Aussage zu den Geschehnissen vom 9. Dezember 1981, die zum Tod des Polizeibeamten Daniel Faulkner, der Verhaftung Mumias und später dann zu dessen Verurteilung zum Tode geführt hatten. Mumia besteht in seiner Aussage darauf, weder als Angreifer noch in Notwehr oder in irgendeiner sonstigen Form auf Faulkner geschossen zu haben. Statt dessen sei er selbst, noch bevor er in das Geschehen am Tatort überhaupt habe eingreifen können, durch einen Schuß lebensgefährlich verletzt worden. Beide Feststellungen Mumias werden von Billy Cook bestätigt.

Die brisanteste Aussage aber stammte von dem 51-jährigen Berufskiller Arnold Beverly, der in einer eidesstattlichen, später auf Video (6)  aufgenommenen Erklärung aussagte, er, Arnold Beverly, nicht Mumia Abu-Jamal sei derjenige gewesen, der Faulkner erschoß. Beverly sagte weiter, Mumia habe nichts mit der Erschießung Faulkners zu tun gehabt. Er, Beverly, sei von einem Ring korrupter Polizisten im Bezirk Center City der Stadt Philadelphia beauftragt worden, Faulkner zu beseitigen, „weil er dem Fluß von Schmier- und Bestechungsgeldern im Wege stand, mit denen die Nichtverfolgung illegaler Aktivitäten wie Prostitution, Spiel und Drogenhandel im Gebiet des Stadtzentrums erkauft wurde“. (7)

Ein Sumpf von Korruption und Bestechung

Untermauert wurde Beverlys Erklärung von einer eidesstattlichen Versicherung des ehemaligen FBI-Agenten Donald Hersey, in der dieser u.a. darüber berichtet, wie er im Auftrag des FBI Nachtclubs und Bordelle in der Innenstadt Philadelphias betrieb, um „schmutzige Cops“ der Schutzgelderpressung zu überführen. Die Ermittlungen Hersings führten dazu, daß etliche Polizisten ihren Hut nehmen mußten und gerichtlich belangt wurden. Betroffen waren neben dem Leiter der Mordkommission (!) James Carlini etliche weitere Beamte:

„Die Ermittlung, an der ich teilnahm, führte Anfang der achtziger Jahre zu weiteren, zusätzlichen Korruptionsanklagen und zur Verurteilung von etwa zwei Dutzend weiteren Beamten der Polizei von Philadelphia, darunter der ehemalige stellvertretende Polizeikommissar John Martin und der ehemalige Inspektor Alphonso Giordano, wegen Korruption.“

Aber die Aussage Hersings belegt nicht nur die weitverbreitete Korruption bei der Polizeitruppe Philadelphias, sondern auch die Tatsache, daß jeder, der seine Nase allzu tief in diesen Sumpf steckte, gefährlich lebte. In diesem Zusammenhang berichtet er über ein Treffen, an dem neben dem Assistenten des Leiters der Zentrumsabteilung der Polizei Philadelphias auch dieser selbst teilnahm:

„Ebenfalls anwesend bei diesem Treffen waren John Smith und DeBenedetto, und ich wurde vor diesem Treffen im März 1982 physisch durchsucht. Mir war klar, daß ich in ernsthafte physische Gefahr geriete und vielleicht sogar getötet würde, wenn meine Rolle als vertraulicher Informant des FBI offenbar würde.“

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, was Hersing über Alphonse Giordano zu sagen hat. Giordano hatte am 9. Dezember 1981 als ranghöchster anwesender Beamter die Ermittlungen am Tatort geleitet. Darüber hinaus war er einer der wichtigsten Zeugen bei den Vorverhandlungen gegen Mumia, bei denen er aussagte Mumia habe in seiner Anwesenheit den Mord an Faulkner gestanden. (8)  Wenn die Aussage Arnold Beverlys zutrifft und es sich bei der Erschießung Faulkners tatsächlich um einen von der Clique korrupter Polizisten in Philadelphias Center City bestellten Auftragsmord gehandelt hat, dann hatte gerade Giordano ein nur zu triftiges Motiv, den Mord dem schwer verletzt am Tatort aufgefundenen Mumia in die Schuhe zu schieben. Hersing schreibt:

„Ich kannte Giordano persönlich, weil er oft in den Nachtclub Morning Glory kam. Er war Teil einer Gruppe von Polizeibeamten, die ‚durch und durch schmutzig’, waren, d.h. sich mit korrupten Aktivitäten beschäftigten. Als Giordano mich bei der Abteilung Ost sah, wurde er ganz aufgeregt und sagte Schwartz [einem weiteren korrupten Polizisten], er habe mich nicht herbringen sollen und daß ‚er (gemeint war ich) wahrscheinlich für das verdammte FBI arbeitet’“. (9)

Auf dem Hintergrund des beispiellosen Sumpfs von Korruption und Bestechung in der Polizeitruppe von Philadelphias Center City zur Zeit des Mordes an Daniel Faulkner ist die von Mumias Verteidigung aufgestellte These, daß Faulkner an Ermittlungen gegen seine korrupte Polizisten beteiligt war und deswegen von Kollegen aus seiner eigenen Polizeitruppe bzw. in deren Auftrag aus dem Weg geräumt wurde, alles andere als unplausibel. Aber es gibt noch eine Reihe weiterer von der Verteidigung Mumias neu ins Feld geführter Gesichtspunkte, die eine Täterschaft Mumias so gut wie ausschließen.

Schüsse ohne Kugeln, Polizistenmord ohne Polizeiermittlungen

Nach der Theorie der Anklage soll Mumia, der zufällig vorbeikam, als Faulkner in der Locust Street in Philadelphias Center City am Auto von Mumias Bruder Billy Cook eine Verkehrskontrolle vornahm und dabei in ein Handgemenge mit Cook geriet, über die Straße gelaufen sein, um seinem Bruder zu Hilfe zu kommen, Faulkner zuerst aus nächster Nähe in den Rücken geschossen haben, um dann über dem zu Boden gefallenen, auf dem Rücken liegenden Faulkner stehend drei bis vier Schüsse auf diesen abzugeben, von denen einer Faulkner tödlich traf.

Gemäß ihrer Strategie, Beweise für die Unschuld Mumias zusammenzutragen, haben Mumias neue VerteidigerInnen nochmals sämtliche Prozeßakten sorgfältig durchgekämmt und sind in der Tat fündig geworden:

Von den Löchern, die diejenigen der angeblich von Mumia auf Faulkner abgefeuerten Kugeln, die ihr Ziel verfehlten, im Bürgersteig hinterlassen haben müßten, findet sich in den Akten keinerlei Spur. Gleichzeitig geht aus den Prozeßakten klar hervor, daß sehr wohl Projektilteile und -spuren am Tatort – Locust Street Nr. 1234 – gefunden wurden: allerdings bis auf eine Geschoßhülse allesamt hinter der Stelle, von der aus Mumia Faulkner laut Anklage erschossen haben soll! (10)

Die Fundorte dieser Kugelspuren passen weitaus besser zu der Schilderung, die Arnold Beverly von den Ereignissen gibt als zu der Tattheorie, aufgrund derer Mumia zum Tode verurteilt wurde: Tatsächlich sind sie mit letzterer völlig unvereinbar.

Es ist längst bekannt, daß es bei dem Mord an Faulkner höchst seltsame Ermittlungspannen gab: Die Waffe, die Mumia zum Schutz gegen Raubüberfälle auf sein Taxi bei sich hatte, wurde nicht darauf untersucht, ob sie abgefeuert worden war; seine Hände wurden nicht auf Schmauchspuren überprüft, und von der Kugel, die Faulkner in den Kopf getroffen und ihn getötet hatte, verschwand ein Teil, was dazu beigetragen haben könnte, daß es sich als unmöglich erwies, das übriggebliebene Bruchstück einer bestimmten Waffe zuzuordnen. (11)

Mumias neue VerteidigerInnen weisen darüber hinaus darauf hin, daß auch keine polizeiliche Angaben darüber vorliegen, daß Mumias Kleidung auf Spuren von Faulkners Blut untersucht wurde – wobei Mumia doch immerhin aus nächster Nähe auf Faulkner geschossen und ihm – so die Staatsanwaltschaft – „das Hirn herausgeblasen“ haben soll. Wir hätten es demnach also nicht nur mit Schüssen ohne Kugeln, sondern auch mit einer Erschießung zu tun, bei der kein Blut fließt.

Wenn man zu all dem noch die eidesstattliche Erklärung des langjährigen Journalisten Linn Washington hinzu nimmt, der in seiner damaligen Funktion als Kriminalreporter nur wenige Stunden nach Faulkners Ermordung am Tatort eintraf und den Tatort unbewacht und unabgesperrt vorfand (12),  erhält man ein Bild von den polizeilichen Ermittlungen im „wichtigsten Mordfall der letzten 25 Jahre“ (so damals die Lokalzeitung Philadelphia Inquirer), das den Verdacht, daß die Polizei hier die wahren Tatbestände vertuscht hat, geradezu aufdrängt.

Mögliche Unschuld? Ohne Interesse!

Und was macht Bundesrichter Yohn mit diesen neuen Beweisen? Er wischt sie in Bausch und Bogen vom Tisch.

In den 27 Seiten, auf denen er den Antrag des neuen Verteidigerteams auf Zulassung ihres überarbeiteten und erweiterten Habeas-Corpus-Antrags ablehnt, sind ganze zwei Sätze dem Inhalt des abgelehnten Antrags gewidmet.

Darin erklärt Yohn die vier Belastungszeugen im ursprünglichen Prozeß gegen Mumia – von denen zwei wenig gesehen haben und die anderen beiden, die Prostituierte Cynthia White und der wegen Brandstiftung zu einer Bewährungsstrafe verurteilte und ohne Führerschein fahrende Taxifahrer in hohem Maß erpreßbar waren – summarisch für zuverlässig:

„Angesichts der Tatsache, daß die Anklage die Aussagen von vier Augenzeugen präsentiert hat, von denen keiner die Geschichte Beverlys bestätigt, könnte ein vernünftig urteilender Geschworener den Angeklagten immer noch jenseits vernünftigen Zweifels für schuldig befinden. Daher kann der Antragsteller die Hürden, die seinem Anspruch auf Anhörung Beverlys aufgrund der Verfahrensordnung entgegenstehen, nicht überwinden.“ (13)

Dabei geht Yohn mit keinem einzigen Wort darauf ein, daß die Verteidigung in ihrem abgelehnten Antrag vorbringt, einer der beiden Hauptbelastungszeugen, Robert Chobert, habe seine Zeugenaussage 1995 gegenüber einem Ermittler der Verteidigung widerrufen. Statt dessen enthält der Ablehnungsbescheid am Schluß eigens einen Punkt, in dem das Gericht die Entgegennahme der beeidigten Aussage (14)  eben dieses Ermittlers verweigert!

Wie ist das möglich? In beiden Entscheidungen beruft sich Yohn gebetsmühlenartig immer wieder auf das „Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Effektivierung der Todesstrafe“ (AEPDA) von 1996, das eine drastische Einschränkung der Berufungsmöglichkeiten zum Tode verurteilter Gefangener vorsieht, unter anderem durch ein rigides Zeitlimit für das Einbringen neuer Beweise (sie müssen den Gerichten spätestens ein Jahr nach Bekanntwerden vorgelegt werden).

Schon auf den ersten Seiten seiner Entscheidung zu Mumias ursprünglichem Habeas-Corpus-Antrag von 1999 kommentiert Yohn dazu enthusiastisch:

„Früher waren viele zum Tode verurteilte Angeklagte der Meinung, ihren Interessen sei am besten damit gedient, daß sie die Einreichung von Habeas-Corpus-Anträgen hinauszögerten, bis sie durch einen Hinrichtungsbefehl dazu gezwungen wurden. Die Durchsetzung von Zeitlimits wird auch dieser Taktik einen Riegel vorschieben.“ (15)

Daß sich mittlerweile ein anderer Mann unter nicht unbeträchtlichem Risiko für sein eigenes Leben zum Mord an Daniel Faulkner bekannt hat und daß diese Selbstbezichtigung durch eine Vielfalt weiterer Beweise untermauert wird, ficht Yohn in keiner Weise an: „Jamal kann seinen Antrag nicht um diesen neuen Beweis erweitern, weil dieser Beweis sich in keiner Weise auf den ursprünglichen Antrag bezieht. (…) Diesen Bezug zu gestatten, (…) würde bedeuten, Jamal eine Ausweitung der Zeitlimits im Rahmen des Gesetzes zur Effektivierung der Todesstrafe zu gestatten, wovor das Dritte Bundesbezirksgericht ausdrücklich gewarnt hat.“

Mit anderen Worten: Nur weil die Beweise für Mumias Unschuld größtenteils schon älter als ein Jahr sind und weil seine früheren Verteidiger Weinglass und Williams eine defensivere Verteidigungsstrategie für sinnvoll hielten, die an der rechtsstaatlichen Maxime „Der Angeklagte ist unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils“ ausgerichtet war, soll Mumia nun für immer daran gehindert sein, diese Beweise vorzulegen. Eine Ausnahme, so Yohn, liege allein dann vor, wenn „der Antragsteller beweisen kann, daß bei Präsentation des Zeugen Beverly im ursprünglichen Verfahren im wahrscheinlicheren Fall kein vernünftig urteilender Geschworener ihn schuldig gesprochen hätte.“ (16)

Daß dies keinesfalls hätte sein können, weiß Richter Yohn ganz genau; warum also mehr als zwei Sätze auf die mögliche oder wahrscheinliche Unschuld eines Angeklagten verschwenden, wenn der Staat die Möglichkeit zur „Effektivierung der Todesstrafe“ hat und das Fließband zur staatlichen Produktion von Toten schneller laufen lassen kann?

AEDPA: Du hast keine Chance, aber nutze sie

Aber auch dem noch von den Anwälten Weinglass und Williams eingereichten Habeas-Antrag von 1999 ist kein besseres Schicksal beschieden. Noch bevor er auf die 29 Einzelpunkte dieses Antrags eingeht, erläutert Yohn die Leitlinie für seine Entscheidung. Die Antragsteller müßten sich darüber im klaren sein, „daß das AEDPA von den für Habeas Corpus zuständigen Bundesgerichten eine stärkere Orientierung an der Rechtsinterpretation der Staatsgerichte verlangt als dies im bis dahin gültigen Recht der Fall gewesen war“. Die für die Bearbeitung von Habeas-Corpus-Anträgen zuständigen Bundesrichter seien nunmehr dazu aufgefordert, „von einer Richtigkeit der faktischen Beurteilungen durch die Staatsgerichte auszugehen“. (17)

Das hat in Yohns Entscheidung die praktische Konsequenz, daß sämtliche Anträge Mumias auf Beweisanhörung abgelehnt werden, weil ja davon auszugehen sei, daß die „Beurteilungen durch die Staatsgerichte“ richtig seien: „Es ist also am Antragsteller, klare und überzeugende Beweise dafür vorzubringen, daß die faktischen Beurteilungen der Staatsgerichte falsch sind.“ (18)

Mit anderen Worten: bevor es eine Beweisanhörung geben kann, muß der Angeklagte erst die Beweise vorlegen, die die Beweisanhörung überhaupt erst erbringen soll. Es versteht sich dann von selbst, daß Yohn dann die einzelnen Punkte, mit denen die Forderung nach Wiederaufnahme des Verfahrens unterstützt wird, mit der Begründung zurückweist, daß keine „klaren und bezeugenden Beweise“ vorlägen.

„Nicht zu beweisen“ und keine Beweisanhörung erforderlich machend also, daß das „Geständnis“ Mumias, das drei Polizisten mehr als zwei Monate nach der Tatnacht „wieder einfiel“, erfunden war, „nicht zu beweisen“ ebenfalls, daß der Prozeßanwalt Mumias Anthony Jackson 1982 über keinerlei Erfahrung in Mordprozessen verfügte (was sich im Rahmen einer Beweisanhörung anhand der Gerichtsakten leicht überprüfen ließe), „nicht zu beweisen“ schließlich auch, daß die Kronzeugen der Anklage Cynthia White und Robert Chobert vielfältige staatliche Vergünstigungen erhalten haben, die sich anders als durch ihre Aussagen im Prozeß gegen Mumia kaum plausibel erklären lassen.

Wie sollten diese Dinge je „klar und überzeugend“ bewiesen werden können, wenn die Gerichte sich weigern, die Beweise dafür zu hören und zu prüfen?

„Gerechtigkeit ist nur eine emotionale Regung“

Bei den Anhörungen zur Wiederaufnahme des Verfahrens auf Staatsebene („PCRA-Hearings“) 1995 vor Richter Sabo befragte Mumias damaliger Anwalt Dan Williams u.a. einen Zeugen namens Robert Harkins, der nach eigener Auskunft die Geschehnisse in der Tatnacht aus nächster Nähe beobachtet hatte.

Merkwürdigerweise hatte die Staatsanwaltschaft, die auch nach amerikanischem Recht nicht nur der Verurteilung des Angeklagten, sondern auch der Suche nach der Wahrheit verpflichtet ist, diesen Zeugen bei Mumias ursprünglichem Verfahren 1982 nicht präsentiert. Wie sich 1995 herausstellte, mit gutem Grund: Er gab eine Version von der Erschießung Daniel Faulkners, die mit der Version der Starzeugen der Anklage Cynthia White und Robert Chobert völlig unvereinbar war.

Mit der Begründung, Harkins sei nicht zu dem Zweck vorgeladen worden, über die Ereignisse am Tatort zu sprechen, gab Sabo sämtlichen Einsprüchen der Staatsanwaltschaft statt und hinderte den damaligen Verteidiger Mumias Dan Williams an allen Versuchen, die Aussagen von Harkins zum Tathergang gerichtsöffentlich und damit aktenkundig zu machen. Daraus entspann sich folgender Wortwechsel:

Williams: Euer Ehren, auf welche Weise dient Ihre Entscheidung der Sache der Gerechtigkeit?
Sabo: Was meinen Sie mit Gerechtigkeit?
Williams: Dafür zu sorgen, daß ein unschuldiger Mann nicht hingerichtet wird.
Sabo: Und was ist, wenn er schuldig ist?
Williams: Ich könnte mit Hilfe dieses Zeugen seine tatsächliche Unschuld demonstrieren.
Sabo: Diese Frage ist schon von einer anderen Jury [nämlich der bei Mumias ursprünglichem Verfahren 1982] gelöst worden. Herr Anwalt, Gerechtigkeit ist nur eine emotionale Regung. Sonst gar nichts. Wenn ich meinen Fall gewinne – Ruhe da drüben im Saal, oder ich lasse räumen. (…) Gerechtigkeit ist eine emotionale Regung. Wenn ich meinen Fall gewinne, ist es Gerechtigkeit. Wenn ich meinen Fall verliere, habe ich keine Gerechtigkeit bekommen. Sehen Sie es einmal von daher. (19)

„Sabos langer Arm“ war der treffende Titel des Artikels der Mitautorin des Films über Mumia Hinter diesen Mauern Heike Kleffner in der Jungle World zur Entscheidung Yohns. (20)  Dem muß allerdings hinzugefügt werden, daß Richter Yohn sich nur allzu willig von diesem Arm hat führen lassen. Richter Yohn ist sicher ein kompetenterer, weniger von persönlichem Fanatismus geleiteter Jurist als der „König des Todestrakts“ Albert F. Sabo. Aber die insgesamt 299 Seiten, mit denen er seine Ablehnung eines Wiederaufnahmeverfahrens für Mumia begründet hat, lassen den Schluß zu, daß auch für ihn Gerechtigkeit nicht viel mehr ist als „eine emotionale Regung“.

Jetzt erst recht: Freiheit für Mumia!

Diese bittere Erkenntnis ändert jedoch nichts daran, daß die (wenn auch nur vorläufige) Aufhebung des Todesurteils der erste wichtige Sieg im Kampf um das Leben und die Freiheit Mumias ist. Der afroamerikanische Anwalt Sam Jordan, der von 1997 – 2000 Direktor des Anti-Todesstrafen-Programms von amnesty international in den USA war und maßgeblich an dem Amnesty-Report über Mumia Ein Leben in der Schwebe mitgewirkt hat, sagt dazu, die Entscheidung Yohns müsse „als wichtiger und bedeutsamer Riß in der monolithischen Opposition der Strafverfolgungsbehörden der USA gegen jede erneute Überprüfung des Falls von Abu-Jamal“ angesehen werden. (21)

Zum ersten Mal seit langer Zeit war Mumias Fall wieder weltweit überall in den Medien präsent, und bei dieser Gelegenheit hat sich erneut gezeigt, daß die Anteilnahme daran enorm ist. Die Entscheidung Yohns wirft erneut ein grelles Schlaglicht auf die besonders perverse Form von Machtausübung und staatlichem Mord, die sich „Todesstrafe“ nennt.

Für die internationale Solidaritätsbewegung mit Mumia Abu-Jamal bedeutet die Entscheidung Yohns zunächst einmal, den „Löffel Honig in einem Faß voll Teer“, nämlich die vorläufige Aufhebung des Todesurteils, mit Zähnen und Klauen zu verteidigen und die Tür zu Mumias Freiheit, die damit einen winzigen Spalt breit geöffnet worden ist, weiter aufzustoßen. Gleichzeitig enthält sogar der Beschluß Yohns selbst einen winzigen Silberstreifen Hoffnung, da Yohn darin der Verteidigung ausdrücklich gestattet hat, Berufung gegen seinen abschlägigen Bescheid zu Punkt 16 des Habeas-Antrages einzulegen. (22)

In besagtem Punkt 16 wird der Schuldspruch gegen Mumia auf Basis der Tatsache angegriffen, daß die Anklage bei der Auswahl der Geschworenen, die über Mumias Schuld zu befinden hatten, eine systematische Diskriminierung gegen schwarze Geschworene betrieben hatte. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, müßte die Verteidigung mit ihrer Berufung in diesem Punkt leichtes Spiel haben. Ob es indes „mit rechten Dingen zugeht“, wird natürlich nicht in erster Linie im Gerichtssaal entschieden.

Das „Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Effektivierung der Todesstrafe“, mit dem Mumias Bemühungen um eine Wiederaufnahme seines Verfahrens „legal“ abgewürgt wurden, betrifft keineswegs nur ihn, sondern auch Tausende von anderen Gefangenen in den USA und steht in organischem Zusammenhang mit reaktionären Gesetzen wie dem jüngst lancierten, Militärgerichtshöfe für Ausländer vorsehenden „Patriot Act“. Es fügt sich ein in das neoliberale Bild vom Staat, in dem letzterer für den Bau von genügend Gefängnissen, nicht aber für das Wohlergehen seiner Bürger zu sorgen hat.

Der Kampf um Leben und Freiheit Mumias sollte als ein wichtiger Bestandteil der Auseinandersetzung um diese Fragen gesehen werden. Eine Niederlage in diesem Kampf wäre eine eben solche Katastrophe wie es eine Niederlage im Kampf gegen die Einkerkerung und Hinrichtung von Angela Davis zu Beginn der siebziger Jahre gewesen wäre.

Jetzt ist der Zeitpunkt, erneut eine wirklich breite Bewegung für Mumia zu schaffen, eine Solidaritätsbewegung, die sich voll darüber bewußt ist, daß es letztlich nicht um Mumia allein geht, sondern auch um die anderen politischen Gefangenen, um die Todesstrafe als extremstes Terrorinstrument des Staates, um die explosionsartig wachsende US-amerikanische Gefängnismaschinerie – und um die reaktionäre Formierung der westlichen Gesellschaften insgesamt, für die die USA nur ein besonders krasses Beispiel sind.

(1) Petition for Writ of Habeas Corpus (im folgenden HC I), www.refuseandresist.org/mumia/ 1999/101699petitiontoc und First Redrafted and Amended Petition for Habeas Corpus Relief (im folgenden HC II), erhältlich beim Autor. Die Beschlüsse Yohns dazu tragen lediglich den Titel Memorandum and Order (Meomorandum und Beschluß; dementsprechend im folgenden MO I bzw. MO II) und sind zu finden auf der Website www.mumia2000.org.

(2) Dan Williams, Executing Justice. An Inside Account of the Case of Mumia Abu-Jamal, St. Martin’s Press, 2000.

(3) Petition for Writ of Habeas Corpus (HC I).

(4) First Redrafted and Amended Petition for Habeas Corpus Relief (HC II).

(5) Mit diesem Satz beginnt der überarbeitete und ergänzte Habeas-Corpus-Antrag (HC II, § 0.1).

(6) Erhältlich über "Freiheit für Mumia Abu-Jamal Heidelberg e.V.", Kontakt siehe Ende des Artikels.

(7) "Eidesstattliche Erklärung von Arnold R. Beverly", abgedruckt in 20 Jahre hinter Gittern, Beilage der Tageszeitung junge Welt, 5. Dezember 2001, S. 3 und in dem im Februar 2002 im Atlantik Verlag erscheinenden, Dokumente und Analysen zur aktuellen Lage enthaltenden Band Free Mumia!.

(8) Dazu HC II, §§ 27.14-27.15.

(9) Zitate aus "Eidesstattliche Erklärung von Donald Hersing", (s. Free Mumia!, a.a.O). Giordano trat bei Mumias Prozeß nicht als Zeuge auf, was angesichts der damals bereits laufenden Ermittlungen gegen ihn wenig erstaunlich ist.

(10) Siehe dazu HC II, § 77.53 und § 27.79.

(11) Siehe hierzu u.a. amnesty international, Ein Leben in der Schwebe. Der Fall Mumia Abu-Jamal, ai, Oktober 2000.

(12) Abgedruckt in Free Mumia1, a.a.O.

(13) MO II, S. 24.

(14) Siehe Free Mumia!, a.a.O.

(15) MO I, S. 3.

(16) MO II, S. 11, S.23.

(17) MO I, S. 20 und S. 23, Hervorhebung von mir.

(18) So und ähnlich: MO I, S. 49, 77, 128, 135, 150, 268.

(19) Executing Justice, S. 269 und PCRA-Protokolle, Hearing vom 2. 8.1995, S. 215-216.

(20) Jungle World Nr. 2, 2. Januar 2002, S.

(21) Zitiert nach Linn Washington Jr., "Ruling Contradicts Amnesty Report", Kommentar vom 23. Dezember 2001 auf der Website www.mumia.org.

(22) MO I, S. 272; siehe dazu auch den Artikel von Linn Washington "Silver Lining in Dark Denial of New Trial for Abu-Jamal" vom 21. Dezember 2001 auf der Website www.mumia.org. Die durch das AEDPA enstandene Rechtsunsicherheit ist so groß, daß noch nicht einmal klar ist, ob Yohns ausdrückliche Erlaubnis, gegen seine Entscheidung zu Punkt 16 Widerspruch einzulegen, bedeutet, daß gegen die anderen Punkte seiner Entscheidung kein Widerspruch möglich ist. Siehe dazu Clark Kissinger, "Free Mumia! New court ruling upholds conviction, challenges death sentence", Revolutionary Worker Nr. 1133, 6.1.2002, www.rwor.org.

Anmerkungen

Die bundesdeutschen Solidaritätsgruppen für Mumia planen für März oder April zu diesen Fragen eine Aktionskonferenz, zu der alle Leute eingeladen sind, die in irgendeiner Weise zu einer solchen Bewegung beitragen wollen. Die graswurzelrevolution wird in ihrer nächsten Ausgabe ausführlich Näheres über diese Konferenz berichten.

Lose geplant im Anschluß an die Konferenz sind eine öffentliche Tagung, zu der wir Angela Davis und andere Experten aus den USA einladen wollen, sowie eine bundesweite Demonstration. Die Entscheidung darüber wird natürlich letztlich der Konferenz selbst vorbehalten sein.

Kritiken, Kommentare und Kontaktaufnahme aufgrund dieses Artikels sind ausdrücklich erwünscht. Hier die Adresse:

"Freiheit für Mumia Abu-Jamal Heidelberg"
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In der Neckarhelle 72
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