Ernst Klee,"Deutsche Medizin im Dritten Reich", S. Fischer Verlag Frankfurt/M., Oktober 2001
Wenn man die anhaltende Debatte über die Zulässigkeit der Forschung an Embryonen verfolgt, gewinnt man den Eindruck, daß die beteiligten Mediziner, Humangenetiker und Biologen allein darüber entscheiden wollen, wann lebenswertes Leben beginnt. Als Argument führen sie die Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschungsfreiheit an, um schwere Krankheiten künftig heilen zu können. Verfassungsrechtler warnen vor einem abgestuften Lebensrecht, das nicht nur das Grundgesetz unterhöhlt sondern unmittelbar in unseren Alltag eingreift. „Was tun wir uns an?“ fragte Ernst Benda, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts anlässlich einer Tagung zum Thema. Eine scheinbar wertfreie Forschung instrumentalisiert die Rechtsprechung in ihrem Sinn und stellt unveräußerliche Grundwerte zur Disposition.
Wohin das führt, zeigt der Frankfurter Autor Ernst Klee in seinem jüngsten Buch „Deutsche Medizin im Dritten Reich“ auf, das im Oktober 2001 beim S. Fischer Verlag erschienen ist. Er beschreibt mit akribischer Präzision am Beispiel von ca. 750 Tätern, wie Wissenschaftler und Mediziner die theoretische Vorarbeit leisteten, die in ihrer praktischen Konsequenz zu den Mordanstalten der NS-Zeit führte. Dabei wird etwas deutlich, was in der Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte gern verschwiegen wird: Nicht die Nazis haben die Mediziner gebraucht, um ihren rassepolitischen Vorstellungen eine pseudowissenschaftliche Weihe zu geben, sondern deutsche Wissenschaftler auf den Gebieten der Anthropologie, Biologie, Medizin, Psychiatrie und Pädagogik haben die Nazis geradezu herbeigewünscht, um ihre Wahnvorstellungen von menschlicher Auslese und Ausmerze im Dienste der überlegenen weißen, nordischen Rasse grausame Wirklichkeit werden zu lassen. Wissenschaftliche Einrichtungen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), deren Nachfolger die Max-Planck-Gesellschaft ist, beteiligten sich an dem Rassehygiene genannten Rassenwahn. Max Planck, der Präsident der KWG an Innenminister Frick: „Dem Herrn Reichsminister des Innern beehre ich mich ergebenst mitzuteilen, daß die KWG zur Förderung der Wissenschaft gewillt ist, sich systematisch in den Dienst des Reiches hinsichtlich der rassehygienischen Forschung zu stellen.“
Klee rückt das verlogene Bild zurecht, das die Täter nach 1945 nicht müde wurden, von sich zu verbreiten: Sie seien die eigentlichen Opfer, die Nazis hätten sie mißbraucht. In den Entnazifizierungsverfahren traten sie als Gutachter auf und stellten sich gegenseitig „Persilscheine“ aus. Erstaunlich dabei ist, daß die zuständigen Richter es nicht der Mühe wert hielten, sich über die biographischen Hintergründe der Gutachter zu informieren. Mehrere Generationen Mediziner sind nach 1945 von diesen Tätern ausgebildet bzw. von ihren ungebrochenen rassehygienischen Überzeugungen beeinflußt worden. Der Psychiater Werner Villinger, im 3. Reich Erbgesundheitsrichter und Euthanasie-Gutachter, war ab 1946 Ordinarius und später Rektor der Philipps-Universität Marburg. Im Entnazifizierungsverfahren 1947 bescheinigte ihm sein Exassistent Helmut Ehrhardt „die von der Partei geforderte Euthanasie stets energisch bekämpft“ zu haben. Im Gegenzug schrieb Villinger in einer Eidesstattlichen Erklärung, daß Erhardt „aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet“ habe. Obwohl Zeugenaussagen bestätigen, daß Villinger als Gutachter an der Selektion von Patienten zur Ermordung beteiligt war, behauptete er noch 1961 kurz vor seinem Tod gegenüber der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft, niemals als Gutachter in Euthanasieverfahren tätig gewesen zu sein. Villinger arbeitete in den 30er Jahren auf dem Gebiet der Fürsorgeerziehung. Wenn Menschen sich nicht normgerecht verhielten, so mußte das seiner Überzeugung nach eine genetische Ursache haben. Villinger sprach zum Beispiel von endogen bedingter Arbeitslosigkeit und führte Leistungsfähigkeit und Lebensglück auf gute Erbanlagen zurück. Armut war nicht das Ergebnis ökonomischer Bedingungen sondern die Folge schlechten Erbguts. Erziehung scheiterte nach Ansicht Villingers am „Fehlen biologischer Voraussetzungen“ und die Jugendfürsorge und Wohlfahrtspflege sollte sich die Verhinderung der „Fortpflanzung und Vermehrung biologisch Unterwertiger“ zum Ziel setzen. Wobei ihm das Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses ganz offensichtlich nicht genügte. 1939 schreibt er: „Asoziale Debile und soziale Psychopathen und ihre mannigfaltigen Kombinationen können wir heute noch nicht oder nur im ungenügenden Maße aus dem Volkskörper aussondern und so unschädlich machen.“ Villingers ehemaliger Assistent Erhardt machte nach 1945 auf dem Gebiet der Psychiatrie eine außerordentliche Karriere. Er war Mitglied im Bundesgesundheitsrat und erhielt 1986 die Paracelsus-Medaille, die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft.
Werner Catel, Ordinarius für Kinderheilkunde, war an der systematischen Ermordung von behinderten Kindern beteiligt. Als Standartformulierung für den Mordauftrag galt: „Das Kind kann behandelt werden.“ Catel hat sein Leben lang bestritten, an der Ermordung von Kindern beteiligt gewesen zu sein. Nach erfolgreicher Entnazifizierung als „überzeugter Antifaschist“ erhielt er 1954 einen Lehrstuhl für Kinderheilkunde in Kiel. In der Todesanzeige der Universität Kiel heißt es, Catel habe „in vielfältiger Weise zum Wohle kranker Kinder beigetragen“. Im Stasi-Archiv lagerten jahrzehntelang Briefe Catels, die seine Euthanasie-Tätigkeit bestätigten. 1943 schlägt er vor, dem Personal der Euthanasie-Abteilung Sonderzuwendungen für ihre mörderische Arbeit zu gewähren. Eine der beteiligten Oberschwestern ist seine spätere Ehefrau Isolde Heinzel.
Die DDR hatte, wie Klee aufzeigt, ihre besondere Art, mit Verantwortlichen für medizinische Verbrechen umzugehen. Der 1953 gestorbene Kinderarzt Jussuw Ibrahim erhielt 1950 für seine Verdienste um das Wohl des Kindes den Nationalpreis der DDR1. Klasse. Zahlreiche Straßen, Kindereinrichtungen und Krankenhäuser wurden nach ihm benannt. Heute ist bekannt, daß er Kinder in die Mordanstalt Stadtroda schickte und persönlich ein mongoloides Kleinkind durch eine Spritze tötete. Das scheint für viele BürgerInnen in Jena kein Hindernis zu sein, ihn weiterhin als Retter der Säuglinge und Wohltäter der Menschheit zu verehren. Professor Eggert Beleites, Präsident der Thüringer Ärztekammer und Mitglied der Ethikkommission der Bundesärztekammer gibt in einer Sendung des MDR eine Ehrenerklärung für Professor Ibrahim ab, die ungeheuerlicher nicht ausfallen könnte: „Ich kann mir auch gut vorstellen, daß Herr Ibrahim ein Schiff in Not war, der sich auf der einen Seite so verhalten hat, daß er Menschen gerettet hat, und daß er immer wieder versucht hat, menschlich zu sein, daß er auf der anderen Seite gesagt hat – könnte ich mir auch vorstellen – hier ist keine Rettung mehr möglich, hier ist der Gnadentod das Sinnvolle, Richtige.“
Im Mai 2000 leitete die Staatsanwaltschaft Gera ein Ermittlungsverfahren gegen die frühere Dekanin der medizinischen Fakultät der Universität Jena ein: Die 85jährige Dr. med. habil. Rosemarie Albrecht war von 1940 bis 1942 Leiterin der Frauenseite der Mordanstalt Stadtroda und soll in dieser Funktion Kranke in den Tod geschickt haben. Bereits 1966 untersuchte das Ministerium für Staatssicherheit unter dem Decknamen „Ausmerzer“ die Vorgänge in Stadtroda. Der „Operative Vorgang“ wurde vorzeitig beendet: „Die Aufdeckung der mutmaßlichen Euthanasie-Verbrechen in Stadtroda bedeutet, daß die …. national anerkannte und international bekannte Dr. Albrecht in das Untersuchungsverfahren einbezogen werden muß….Da ….Beschuldigte aus der DDR in höheren Positionen des Gesundheitswesens (Frau Dr. Albrecht, Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Jena) …..stehen, könnte bei Auswertung ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden. Aus diesem Grund wird vorgeschlagen, die Bearbeitung des Vorganges mit einer Sperrablage im Archiv des MfS abzuschließen.“
SA- und NSDAP-Mitglied Albert Ponsold war ab 1941 Professor für Vererbung und Rassenkunde an der Reichsuniversität Posen. Nach dem Krieg wurde er Gerichtsmediziner an der Universität Münster und erlangte durch einige aufsehenerregende Fehlgutachten in bekannten Mordprozessen der 50er und 60er Jahre (Der „Rohrbach-Fall“) traurige Berühmtheit. Das hinderte die Deutsche Gesellschaft für Gerichtliche Medizin nicht, ihn zu ihrem Präsidenten zu machen. Einer seiner Schüler war Gerhard Wendt, der zur Nachwuchsgeneration der Rassehygieniker gehörte. 1972 wird Wendt Begründer der ersten Genetischen Beratungsstelle der BRD und ist von 1974 bis 1979 Vorsitzender der Stiftung für das behinderte Kind. Nach Wendt besteht das größte Problem der Behindertenhilfe darin, daß sie „die Lebenserwartung dieser Mitmenschen erhöht und so die Anzahl der Behinderten ansteigen läßt.“ Eugeniker wie Wendt denken in Kategorien von höher- und minderwertigen Menschen. Abweichende Verhaltensweisen werden auf biologische Defekte zurückgeführt. Wenn es nach Wendt gehen würde, dann wäre, wie Klee mit einem drastischen Beispiel aufzeigt, der von den Nazis und anschließend in der BRD und DDR als größter deutscher Geist verehrte Johann Wolfgang Goethe zwangsweise sterilisiert worden. Zwei seiner Geschwister galten als geistig nicht normal, das trifft auch für Goethes einzigen überlebenden Sohn und dessen beide Söhne zu, die kinderlos starben.
In der aktuellen Debatte um die Frage, ab wann der Embryo ein Recht auf Menschenwürde hat, wird von den Befürwortern der Embryonenzüchtung mit einem abgestuften Lebensschutz argumentiert. Damit ist der pseudowissenschaftlichen Bewertung eines ansteigenden und absteigenden Lebensrechts Tor und Tür geöffnet. Wer alt und hilflos wird, bzw. wer behindert ist und sich nicht wehren kann, verwirkt sein Lebensrecht. Auf diese mörderische Dimension der auf ethischer, juristischer und medizinischer Ebene geführten Diskussion kann gar nicht deutlich genug hingewiesen werden. Hinter der wissenschaftlichen Forderung einer Einschränkung des Lebensschutzes verbirgt sich die Kontinuität eugenischen Gedankengutes, das die Deutschen in die größte Katastrophe ihrer Geschichte gestürzt hat. Diesen historischen Zusammenhang mit zahllosen Belegen und Nachweisen zu begründen ist der größte Verdienst der Recherchen von Ernst Klee. Ungeachtet eines von außen nur schwer durchschaubaren Streits zwischen ihm und dem Sozialhistoriker Michael Kater, der einige wichtige Bücher über die NS-Zeit veröffentlicht hat, bin ich der Meinung, daß „Deutsche Medizin im Dritten Reich“ auf jeden Schreibtisch eines angehenden Mediziners gehört.
Anmerkungen
Der Soziologe Dr. Robert Krieg (geb. 1949) ist Autor und Regisseur von zahlreichen Dokumentarfilmen und Fernsehberichten mit den Schwerpunkten "Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts" und "Dritte Welt".
Sein gemeinsam mit Paul Wulf und Dagmar Wünnenberg produzierter Film "Die nicht vorhersehbare Spätentwicklung des Paul W." (1979) ist als VHS-Kopie erhältlich bei:
World TV
Constantinstr. 80
50679 Köln
Sehr sehenswert.