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„Zyklus der Dummheit“

Angriff auf die Freiheit? Die Anschläge in den USA und die "Neue Weltordnung"

| Bernd Drücke

Hg. Wolfgang Haug: Angriff auf die Freiheit? Die Anschläge in den USA und die "Neue Weltordnung". Hintergründe, Analysen, Positionen. Trotzdem-Verlag, Grafenau, Dezember 2001, 128 Seiten, 12 €, ISBN: 3-931786-25-0

„Die Fernsehbilder waren herzzerreißend. Brennende Menschen, die aus dem hundertsten Stockwerk in den Tod sprangen, (…) Danach sahen wir unsere Politiker im Fernsehen. Wieder war ich erschrocken und wie gelähmt. Die Politiker sprachen von Vergeltung, Rache und Bestrafung. Wir sind im Krieg, sagten sie. Ich dachte, sie haben aus der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, aus den hundert Jahren der Vergeltung, des Kriegs und der Rache nichts gelernt, absolut nichts – den hundert Jahren des Terrorismus und Anti-Terrorismus, den hundert Jahren der Gewalt und Gegengewalt und dem unendlichen Zyklus der Dummheit.“ (Howard Zinn, in: Angriff auf die Freiheit?, S. 32)

„Das Böse eliminieren? Was wäre das Gute ohne das Böse? Es sind nicht nur die religiösen Fanatiker, die Feinde brauchen, um ihren Irrsinn zu rechtfertigen. Die Waffenindustrie und der riesige Militärapparat der Vereinigten Staaten brauchen ebenfalls Feinde, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Gut und Böse, Böse und Gut, die Akteure wechseln ihre Masken, Helden werden zu Monstern und die Monster werden zu Helden, je nach den Anforderungen der Dramaturgen.“ (Eduardo Galeano, a.a.O., S. 35)

In den letzten Monaten haben viele bürgerliche Verlage Bücher herausgebracht, die im Zusammenhang mit dem 11.September und dem Krieg gegen Afghanistan stehen. Die Regale in den Buchläden sind voll mit Bin-Laden-Biographien und anderen oft fragwürdigen Druckwerken, die nach schnell verdientem Geld riechen.

Auf ein gutes, wirklich lesenswertes Buch zum Themenkomplex 11. September und „Kreuzzug gegen den Terror“ mussten wir lange warten. Jetzt ist es da!

Während Mitte Dezember 2001 US-Piloten über Afghanistan „Daisy Cutter“ (Gänseblümchenschneider)- Bomben abwarfen, die im Umkreis von 600 Metern alles Leben vernichten, während afghanische Kinder von Streubomben zerfetzt wurden, die von den ebenfalls abgeworfenen gelben „Tagesrationspäckchen“ kaum zu unterscheiden waren, und während gleichzeitig in westlichen Wohnstuben „Freue dich, oh Christenheit“ gesungen wurde, erschien in Grafenau ein Buch, das das Zeug dazu hat, viele Menschen aufzurütteln und ihnen die Augen zu öffnen: „Angriff auf die Freiheit? Die Anschläge in den USA und die ‚Neue Weltordnung’. Hintergründe, Analysen, Positionen“.

Herausgeber dieser gut und schnell lesbaren Textsammlung ist Wolfgang Haug, Trotzdem-Verleger und Redakteur des Schwarzen Fadens, „Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit“. In seinem ausführlichem Vorwort (S. 7-31) greift er die verschiedenen Konfliktlinien und Aspekte der Ereignisse auf und ordnet sie in eine übersichtliche Form.

Beiträge von international bekannten Intellektuellen aus Asien, Lateinamerika und den USA hat er in „Angriff auf die Freiheit?“ ausgewählt.

Ein herausragender Text ist „Die Algebra der Grenzenlosen Gerechtigkeit“ von Arundhati Roy. Dieser Artikel der bekanntesten Autorin Indiens („Der Gott der kleinen Dinge“) wurde international diskutiert und hat in Deutschland für Furore gesorgt. Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert hatte aus der ersten deutschsprachigen Version, abgedruckt am 28. September 2001 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, folgenden Satz zitiert:

„Osama bin Laden ist das amerikanische Familiengeheimnis, der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“.

Wickert fügte hinzu: „Bush ist kein Mörder oder Terrorist. Aber die Denkstrukturen sind die gleichen“.

Kampagne zur Eliminierung kritischen Denkens aus den Medien

Was dann folgte, war eine u.a. von der BILD-Zeitung und bellizistischen PolitikerInnen angezettelte, ehrabschneidende Medienkampagne gegen den Abweichler Wickert. So unter Druck gesetzt, sah sich der TV-Moderator gezwungen in einer Tagesthemen-Sendung den Vergleich zurückzunehmen und eine öffentliche Entschuldigung auszusprechen. Eine aufschlussreiche Posse, angesichts der Tatsache, dass die dichotome Weltsicht des Kampfes zwischen dem Guten und dem Bösen von Bin Laden und dem US-Präsidenten gleichermaßen geteilt wird und Roys These vom „dunklen Doppelgänger“ deshalb plausibel ist.

Jetzt bietet das Buch „Angriff auf die Freiheit?“ auch den vielen Nicht-FAZ-LeserInnen die Möglichkeit den umstrittenen Arundhati Roy-Artikel in voller Länge zu genießen.

Zudem finden sich 17 weitere, bemerkenswerte Analysen und Diskussionsbeiträge.

Die Liste der „Angriff auf die Freiheit?“-Autorinnen und -Autoren reicht von Vandana Shiva (siehe Nachdruck in dieser GWR, S. 3), Trägerin des alternativen Nobelpreises, über den libertären US-Wissenschaftler Noam Chomsky, vom bekannten Kriegsgegner Uri Avnery aus Israel, über Eduardo Galeano, Saskia Sassen, Robert Fisk, Uri Tariq Ali, Ariel Dorfman, George Montbiot, Howard Zinn und Martin A. Lee bis zu Human Rights Watch.

Auf der Suche nach differenzierten Antworten fragen die Autorinnen und Autoren nach den Ursachen der Anschläge und dem Sinn, Unsinn oder der Legitimität des Krieges einer internationalen Allianz gegen Afghanistan. Die einfältige Logik von Vergeltung und Rache wird abgelehnt, die Rolle der USA als einziger „Supermacht“ und die Situation in vielen Ländern der südlichen Hemisphäre analysiert. Den weit verbreiteten Theorien, die die Anschläge als Glaubens- oder Kulturkonflikt interpretieren, wird widersprochen. Mögliche Antworten auf die aktuelle Situation in der Politik werden formuliert:

„Soll die Spirale der Gewalt gestoppt werden, dürfen die Reaktionen auf die Anschläge nicht länger militärisch geprägt sein. Sie müssen auf die Fähigkeit des Westens zur Selbstreflexion und auf der Korrektur von Fehlentwicklungen und falschen Handlungen beruhen.“ (Haug, S. 3)

Mit ihren Fragen und der Suche nach Lösungen unterscheiden sich die AutorInnen wohltuend von der von Kanzler Schröder, den meisten PolitikerInnen und Medien propagierten „bedingungslosen Solidarität“, der „Anfang November (…) 50% der Bundesbürger einen Blankoscheck ausstellten.“ (ebd.)

Fesselnd wird die Textsammlung auch durch die detaillierten Hintergrundinformationen über die Situation in Afghanistan, über die Taliban, über Bin Laden und al-Qaida, über die Nordallianz und ihre Anführer, über den Israel-Palästina-Konflikt, über die Zielsetzung US-amerikanischer Außenpolitik und die Vorgeschichte der Anschläge.

„Wer die Frage nach den Hintergründen stellt, beschäftigt sich (..) zwangsläufig mit verschiedenen Verbrechen der USA in aller Welt. Deshalb soll an dieser Stelle betont sein, dass alle erwähnten Verbrechen die Anschläge am 11. September keinesfalls rechtfertigen!“ (S. 7)

Es gehe dieser Auswahl nicht um eine Relativierung der Ereignisse, sondern darum, den Nährboden zu verstehen, aus dem sich die gegenwärtige Situation entwickelt hat, so Haug.

Aus der Geschichte des Libanon und Israel/Palästinas hätten die Islamisten gelernt, dass es gelingen kann, „mit fortwährendem Terror jeden Dialog zu torpedieren, Gegenschläge herauszufordern, den Gegner zu neuem Unrecht zu verleiten und den sogenannten ‚Heiligen Krieg’ zu eskalieren.“ (S. 15)

Als Bush den „Krieg gegen den Terror“ ausgerufen hat, erklärte er jeden zum Feind, der terroristische Anschläge plant, ausführt und verteidigt, der wissentlich Terroristen Unterschlupf gewährt oder sie fördert. Terrorismus wird dabei verstanden als Angriff auf unschuldige ZivilistInnen. Die konkrete Kriegsrealität offenbare den unfreiwilligen Zynismus, der in solchen Definitionen stecke, so Haug. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ stelle einen Ersatz für den Verlust des Kalten Krieges dar. „D.h. ein Mittel, um jederzeit Aufrüstung und ein ‚Mehr an innerer Sicherheit’ der eigenen Wählerklientel zu ‚verkaufen’.“ (S. 16)

Das Buch „Angriff auf die Freiheit?“ soll Material an die Hand geben, um eindimensionalen Argumentationsweisen zu kontern. „Es handelt sich, wie die Schriftstellerin Susan Sontag geschrieben hat, nicht um einen ‚Angriff auf die Freiheit’, sondern um ‚einen Angriff auf die Vereinigten Staaten als Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen’ der einzig verbliebenen Supermacht. Die vorliegenden Texte sollen öffentliches Bewusstsein schaffen und ‚bedingungslos solidarische’, politische Entscheidungsträger dazu bringen, auch eine andere Sicht der Dinge wahrzunehmen und einzubeziehen.“ (S. 30)

Kritik

Eine Kritik, die mir zu Ohren gekommen ist: „Es wurden ausschließlich prominente ‚Mainstream’-AutorInnen ausgewählt“. Tatsächlich fehlen Texte weniger prominenter PublizistInnen, die sich z.B. konkret mit der von Re-Militarisierung und Abbau von Rechten geprägten Situation in Europa beschäftigen. Sieben der 18 Beiträge kannte ich schon, z.B. aus diversen E-Mails, aus dem Z-Magazine (www.zmag.org), dem Rundbrief KDV im Krieg, der Contraste, der GWR,… Aber bekanntlich haben nur wenige Menschen Zugang zu Alternativmedien und von daher bin ich in gewisser Weise privilegiert.

In den tagespolitisch geprägten Aufsätzen finden sich auch Passagen, die Widerspruch auslösen. Etwa, wenn die Soziologin Saskia Sassen die staatsfreundliche Behauptung aufstellt, dass die „Regierungen wieder etwas mehr regieren müssen.“ (S. 79) Auch das Fazit ihres Aufsatzes über „Unentrinnbare Fallen für die reichen Länder“ stößt bei mir nicht auf Zustimmung:

„Nachdem die Unterdrückten und Verfolgten in vielen Sprachen versucht haben, uns ihre Botschaft zu übermitteln, haben sie mit ihren Angriffen zur letzten noch verfügbaren Sprache gegriffen.“ (S. 81)

Die gut ausgebildeten Massenmörder von New York wurden durch eine menschenverachtende Ideologie inspiriert. Sie als „Unterdrückte und Verfolgte“ bzw. als Rächer der „Unterdrückten und Verfolgten“ zu verklären ist absurd und ärgerlich.

Fragwürdig sind auch historische Vergleiche, wie sie Robert Fisk zieht: „Mehr als 6.000 Tote; das ist ein Srebrenica des Massakers.“ (S. 100).

Mittlerweile schätzen die US-Behörden die Zahl der am 11. September in New York und Washington getöteten Menschen auf „weniger als 2.900“.

Einiges in „Angriff auf die Freiheit?“ ist aufgrund der sich täglich überschlagenden Ereignisse mittlerweile Geschichte. Anderes wurde bestätigt; etwa, wenn Human Rights Watch befürchtet, „dass die Fraktionen der Vereinten Front Vergeltungsaktionen gegen die Taliban und die ethnischen Paschtunen im allgemeinen anstreben könnten, wenn es der Vereinten Front zum Beispiel gelingen würde, Mazar-i Sharif zurückzuerobern.“ (S. 119)

Diese Befürchtungen waren berechtigt. Nordallianz-General Dostam hat im November/Dezember mit seinen Truppen Mazar-i-Sharif erobert. Presseberichten zufolge massakrierte er ca. 300 Menschen nach deren Kapitulation. Die US-Luftwaffe hatte seine Truppen mit Bombenangriffen unterstützt. Nach der anschließenden Eroberung von Kunduz wurden gefangene Taliban in die Festung Qala-e-Janghi gebracht und machten dort angeblich einen Gefängnisaufstand. Mit Unterstützung der US-Luftwaffe verübte der für seine in vorangegangenen Kriegen begangenen Grausamkeiten bekannte Kriegsverbrecher Dostam erneut ein Massaker. Westliche Journalisten zählten hier mehr als 600 Leichen.

Das ist nur die Spitze des Leichenbergs!

Wieviele zivile Opfer die am 7. Oktober begonnenen US-Luftangriffe bisher gefordert haben, ist unbekannt. Der US-Ökonom Marc Herold von der US-Universität New Hampshire kommt nach Auswertung verfügbarer Berichte auf mindestens 4.050 Tote bis zum 3. Januar (vgl. taz, 15.1.2002). Darin sind keine indirekten Opfer der Angriffe enthalten. Wieviele der Millionen afghanischen Flüchtlinge verhungert sind (und in diesem Winter noch verhungern werden), ist unbekannt.

„Die Hungernden werden lautlos sterben, auf den vergessenen Pfaden, die durch die Berge führen, zusammengekauert hinter Felsen, bei der Suche in den Straßen verlassener Städte, nach Wurzeln grabend auf leeren Feldern.

Die Satelliten können jedes einzelne Geschoß, das hinter einer Haubitze aufgestapelt ist, erkennen. In die Gesichter der Verhungernden können sie nicht spähen.“ (George Montbiot, S. 106)

Fazit

Die Detailkritik an einzelnen Passagen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es der libertären Trotzdem-Verlagsgenossenschaft gelungen ist, das bisher wichtigste Buch zu den Themen herauszubringen, die seit dem 11. September überall und alles dominieren.

„Wenn Präsident Bush der ganzen Welt das Ultimatum stellt ‚Entweder ihr seid für uns oder für die Terroristen’, dann beweist er damit nur seine arrogante Selbstüberschätzung. Vor dieser Wahl möchten die Menschen nicht stehen. Sie müssen es auch nicht. Und sie dürfen es auch nicht.“ (Arundhati Roy, S. 69)

„Angriff auf die Freiheit?“ ist ein ausgezeichneter Beitrag, der gute Argumente liefert, um den BellizistInnen, der Re-Militarisierung und dem Abbau demokratischer Freiheiten entgegenzutreten. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch weit verbreitet wird. Unbedingt lesen!

Anmerkungen

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