Die redaktionelle Planung für das Thema "PISA" in dieser Ausgabe der Graswurzelrevolution war dialogisch. Ulrich Klemm legt vor. Ich lege nach. So soll es sein. Keine Talkshow, sondern Dialog in Print - vielleicht mit Fortsetzung und in neuen Rollen.
Das Kind als Standortfaktor und Schule als Trainingslager?
Mit dem von Ulrich Klemm genannten wichtigen Gesichtspunkt der Funktionalität der in der Studie untersuchten Kompetenzbereiche und des in dieser Funktionalität erkennbaren Menschenbildes möchte ich beginnen und diesen Gesichtspunkt verbinden mit der Frage: Wer wird handeln?
Der BDA und dessen Präsident haben sich für fortlaufende Diagnosetests ausgesprochen.
Nach der Grundschule soll begonnen werden. „Assessment-Center für Schüler“ sollen eingerichtet werden. Jedes Kind soll einen Bildungspaß bekommen. Dies alles ist selbst der FAZ nicht geheuer. Sie stellt fest: „Die Wirtschaft verwechselt die Schule mit einem Trainingslager.“ (1) Solche Positionen bestätigen die Notwendigkeit dessen, was Ulrich Klemm fordert, nämlich nach dem Menschen- und Weltbild und nach dem Politikverständnis dieser Studie zu fragen.
Der ideologiekritische Blick auf die Studie in Ulrich Klemms Beitrag wäre aber zu ergänzen durch eine Analyse, die die herrschende Bildungs- und Gesellschaftspolitik der BRD nicht an ihren Proklamationen und Rückbezügen auf das Grundgesetz mißt, sondern diese in ihrer Herrschaftsfunktionalität begreift. In diesem Sinne ist die Bildungspolitik, die seit Jahrzehnten gemacht wird, immer schon Gesellschaftsreform. (2) Insofern sind die Ergebnisse der PISA-Studie nicht Ausdruck von Unfähigkeit, sondern illustrieren die ganz besondere Fähigkeit des BRD-Staates, Bildungspolitik im Sinne der Herstellung „sozialer Disparitäten“ (PISA) so machen, daß die Zementierung gesellschaftlicher Ungleichheiten auch mit Mitteln der Bildung als Versagen von Individuen, Gruppen oder Schichten erscheinen kann. Zudem macht, wie Ulrich Klemm hervorhebt, die Studie deutlich, worum es nicht nur in der BRD geht: „Die ökonomische Verwertbarkeit humaner Ressourcen steht im Mittelpunkt.“ Fragen der Kompetenzen und ihrer Entwicklung werden in der Studie also nicht verkürzt, sondern in ihrer systemspezifischen Qualität benannt – sowohl mit Blick auf den miserablen Zustand der in der BRD erreichten Kompetenzniveaus wie mit Blick auf die gegenüber alten Lernzielformulierungen geradezu „fortschrittliche“ Formulierung einer zeitgemäßen „corporate mission“ von Schule.
Daher wäre das, was ideologiekritisch mit Blick auf das Menschen- und Weltbild und auf das Politikverständnis erkannt werden kann, auf eine, sagen wir es anspruchsvoll, materialistische Staatskritik zu beziehen. Aus der Kapitalperspektive ist das, was ich mit Ulrich Klemm geneigt bin für eine „Bildungskatastrophe“ aus der Sicht der Jugendlichen zu halten, Ausdruck einer hochfunktionalen Aufgabenerfüllung des BRD-Staates mit allen Widersprüchen. Das, was PISA offenlegt, ist Teil der sich seit Jahrzehnten vollziehenden „gesamtgesellschaftlichen Veränderung“ mit Hilfe staatlicher Bildungspolitik. Es ist ein Wandel, in dem weder die Demokratieperspektive eine Rolle spielt, noch ein Bildungskonzept, das die Realisierung einer optimalen Massenalphabetisierung für alle Menschen zum Ziel hat. Erst die Zusammenschau der Dimensionen „Alphabetisierung/Analphabetisierung“ und „Demokratie“ macht die Qualität der Veränderungen, die in der alten BRD seit Jahrzehnten und seit 1989 für Großdeutschland stattfinden, erkennbar. Wie soll man es bewerten, daß, so die Stiftung Lesen schon 1997, über 34% der Erwachsenenbevölkerung als hochfunktionale Analphabeten gelten müssen, die sich keine Texte von auch nur geringer Komplexität erschließen können?
Kein Vertrauen in den Staat – wer wird handeln?
Können also vom Staat qualitative Verbesserungen der Bildungsverhältnisse für alle Menschen erwartet werden, die mehr und anderes wären als eine noch frühere und konsequentere Ausbeutung des Standortfaktors Kind?
Und was kann von einem öffentlichen Schulwesen erwartet werden, das Jugendliche als funktionale Analphabeten ins „Leben“ entläßt?
Was von einer Erziehungswissenschaft, die alles vergessen zu haben scheint, was sie bis Mitte der 1980er Jahre über diese Zusammenhänge wußte? (3)
Wer also wird handeln? Und wie?
Auch hier stimme ich Ulrich Klemm zu: „Neue Maßstäbe braucht die Schule, nicht neue Maßnahmen!“ Nur würde ich die neuen Maßstäbe nicht vom Staat und von staatlicher Bildungspolitik erwarten. Der Staat hat seinen Kredit verspielt und ist der Zockerei anzuklagen.
Die, die auf Grund ihrer sozialen, ökonomischen und kulturellen Gesamtlage im Interesse einer optimalen Förderung ihrer Kinder auf ein gutes, öffentliches Bildungswesen angewiesen sind, wären schlecht beraten, wenn sie weiterhin dem Staat vertrauten. Die Organisationen, die vorgeben, daß sie die Interessen dieser Menschen vertreten, werden nach schärferen Kriterien öffentlich zu beurteilen sein als bisher.
Doch es gibt keinen einfachen Weg, der aus dem Dilemma herausführte, in das staatliche Politik die Kinder und Eltern der unteren Schichten dieser Gesellschaft seit Jahrzehnten hineingeführt hat – mit der Illusion der Chancengleichheit, mit Kulturkämpfen und einer Ideologisierung von Strukturproblemen (z.B. Gymnasium versus Gesamtschule/Rahmenrichtlinien), mit drastischen Reduktionen der Bildungsinvestitionen, mit Berufsverboten und Berufsverbotsdrohungen gegen LehrerInnen, mit Einstellungsstops, mit der gesellschaftlichen Abwertung des LehrerInnenberufs, mit einer Fortschreibung der Hierarchisierung dieses Berufs in Ausbildung, Bezahlung und gesellschaftlicher Reputation, mit der Hinnahme sogar des baulichen Verfalls von Schulen – alles „Maßnahmen“ einer demokratiegefährdenden staatlichen Zockerei, die nur als Verschleuderung gesellschaftlicher Ressourcen bewertet werden kann. Wie sollte sich also das Vertrauen in den Staat begründen lassen? Wer würde wohl über die Ergebnisse der PISA-Studie reden, wenn diese keine internationale Vergleichsstudie wäre?
Eine basisdemokratische bildungspolitische Bewegung als Teil des Kampfes gegen den Neoliberalismus und für eine andere Welt
Mein Facit ist so nüchtern wie meine Prognose: was PISA offengelegt hat an Widersprüchen und Problemen im Umgang dieser Gesellschaft mit ihren jungen Generationen hat eine systemspezifische Qualität, liegt in der Logik staatlichen Handelns und ist allen, die es wissen wollten, schon lange bekannt. (4) Offenbar rechnet sich alles, was, jenseits eines notwendigen Minimum, nicht in öffentliche Bildung investiert wird. Wurde etwa der „Standort“ eines der kapitalistischen Hauptländer und dessen globale Konkurrenzfähigkeit durch die Verhältnisse gefährdet, die die PISA-Studie benennt – oder geht es darum, weltweite Imageprobleme von der Deutschland AG abzuwenden und die systemfunktionale kulturelle und soziale Polarisierung der BRD-Gesellschaft, auch über Bildungspolitik, voranzutreiben?
Meine Prognose ist, daß staatliche Bildungspolitik im Kontext weiterer Privatisierungsprozesse und in Verbindung mit Planungen des Kapitals auf der Ebene der EU (z.B. European Round Table), zu einer Verschärfung der Widersprüche und Probleme des öffentlichen Bildungssektors beitragen wird und daß eine Konzentration auf die ordnungspolitische Kontrolle der sozialen Implikationen dieser Politik stattfinden wird. Eine Bildungspolitik, die die ideologiekritischen Befunde der Analyse von Ulrich Klemm aufzunehmen in der Lage wäre, würde dem Staat von gesellschaftlichen Akteuren aufgezwungen werden müssen – und zwar durch eine basisdemokratische Bewegung, die nicht von bürgerlich-liberalen Illusionen und Versprechen ausgeht, sondern die eine hohe Massenalphabetisierung für alle als politische Alphabetisierung in der Demokratie fordert und durchsetzt, um die Menschen, Jugendliche wie Erwachsene, in die Lage zu versetzen, sich aktiv und öffentlich an der Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse und der gesellschaftlichen Austauschprozesse, den Arbeitsmarkt eingeschlossen, zu beteiligen. So würde ein Demokratieverständnis praktisch, das sich nicht in Wahlen erschöpfte und damit ein Menschenbild, das der neoliberalen Logik, Kinder und Schule als Standortfaktoren zu definieren, mit einer humanen Perspektive individueller wie kollektiver Entwicklung begegnete.
Mit Blick auf den Zustand der Welt, auf den Terror eines globalen Krieges und die diesen begleitenden Maßnahmen der Manipulation der öffentlichen Meinung und der bewußten Verdummung der Menschen, will mir das Maß an funktionalem Analphabetismus, insbesondere dokumentiert durch das niedrige Niveau an Lesekompetenz, als hochgradig systemfunktional erscheinen – hier wie in den USA. PISA sei gedankt: die öffentliche Debatte über Ursachen und Implikationen eines demokratiegefährdenden funktionalen Analphabetismus in der BRD und damit über den Zustand und die Perspektiven der Veränderung der kulturellen Gesamtverhältnisse dieses Landes hat begonnen: Bildungspolitik als Gesellschaftspolitik (5) – und zwar nicht länger als nationales Projekt, sondern im Kontext der globalen Widerstandsprozesse gegen die neoliberale Globalisierung der Welt. Ulrich Klemm danke ich für die Steilvorlagen. Carry on.
(1) Jürgen Kaube, "Janz domm - Standortfaktor Kind: Arbeitgeber zur Pisa-Studie", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Februar 2002, Seite 49.
(2) Vgl. zu Entwicklungen und Zusammenhängen: Dieter Keiner, Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik. Frankfurt: Peter Lang 1998.
(3) Siehe: Dieter Keiner, "The World Would Change". Alphabetisierung, Analphabetisierung, Erziehungswissenschaft - oder: Das Erinnern von Wissen in den Zeiten der Ungleichheit. In: Jahrbuch für Pädagogik 2001: "Zukunft". Herausgegeben von Ulla Bracht und Dieter Keiner. Frankfurt: Peter Lang 2002.
(4) Vgl. zum Beispiel: Bildung und Soziales in Zahlen. Statistisches Handbuch zu Daten und Trends im Bildungsbereich. Herausgegeben von Wolfgang Böttcher, Klaus Klemm, Thomas Rauschenbach. Weinheim und München: Juventa 2001.
(5) Dieter Keiner, "Neue deutsche Bildungskatastrophe? Zur Kontinuität definitiver Schieflagen in den kulturellen Verhältnissen der BRD - Anmerkungen zur PISA-Studie", Forum Wissenschaft 19 (2002), Nr. 1, 52-56.