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Argentinien: Die Revolte der Frauen

Erfahrungsbericht einer libertären Feministin über die Dezember-Bewegung und die direkte Demokratie der Stadtviertel

| Orquidéa, 25.2.2002 (übersetzt aus Le Monde Libertaire, 28.3.2002: Lou Marin)

Spätestens seit den erfolgreichen Demonstrationen der "Mütter der Plaza del Mayo" in Buenos Aires Anfang der achtziger Jahre gegen die damalige Militärdiktatur wissen wir um die Stärke der argentinischen Frauenbewegung. Auch bei der jüngsten Revolte im Dezember und dem spontanen Entstehen direktdemokratischer Volksversammlungen spielten Frauen eine prägende Rolle. Auf Anfrage der französischsprachigen anarchistischen Wochenzeitung "Le Monde libertaire" berichtet Orquidéa, eine libertäre Feministin aus Argentinien, von der Beteiligung der Frauen an der Dezemberrevolte (Le Monde Libertaire, Ausgabe 28.3.2002). Es ist ein Erfahrungsbericht einer an den Protesten selbst beteiligten Aktivistin. Wir haben ihren Text übersetzt, ihn dabei aus Platzgründen um einen historischen Einleitungsabschnitt gekürzt, der sich nicht direkt mit den Protesten beschäftigt. (Red. France-Sud)

(…) Die heutige argentinische Frauenbewegung, die seit Jahren wächst und wächst, vereinigt Frauen verschiedener sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und ideologischer Herkunft in Frauengruppen, die im ganzen Land zu finden sind. Diese Frauen engagieren sich in unterschiedlichen Bereichen: Gewalt in der Familie, Frauen im öffentlichen Bereich, Frauengesundheitsberatung, Menschenrechte, Internet, Medien, Untersuchungskommissionen. Trotz ihrer ideologischen Unterschiede und ihrer verschiedenen Herangehensweisen kann ihre Arbeit nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ohne sie hätte es weder auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene noch im Parlament selbst eine Veränderung gegeben. Nichts hat sich im argentinischen Alltag so verändert wie die Frauen selber.

Die feministische Bewegung in Argentinien ist gespalten, weil es noch viele Frauen in ihr gibt, die sich zwar in Aktionen und von ihren Standpunkten her feministisch verhalten, jedoch nach wie vor nicht gerne die Vokabel „feministisch“ benutzen. Außerdem gibt es eine Tendenz der Intellektualisierung in der Frauenbewegung, die manchmal dazu führt, dass theoretische Überlegungen ohne Realitätsbezug, ohne Bezug zu den alltäglichen Kämpfen der Frauen in den Armenvierteln, den feministischen Gruppen oder den Frauen in gemischtgeschlechtlichen Gruppen geäußert werden.

Seit der Wiederzulassung der Demokratie 1983 gab es unzählige Demonstrationen und Proteste in Argentinien. Unzählig sind auch die Opfer einiger Repressionsorgane, die immer den Finger leicht am Abzug, immer wieder auf DemonstrantInnen geschossen hatten. So gab es auch während der jüngsten Märsche, Mahnwachen, während den „Plünderungen“ („mises à sac“, wörtlich: Einsacken, Taschen füllen, also eher gemeint: Selbstbedienung in Einkaufsläden) und den „Cacerolazos“ (Rebellion der Kochtöpfe) viele Opfer der Repression.

Danach haben wir uns immer wieder gefragt, was denn der Auslöser der Proteste gewesen war? Es war mit Sicherheit die jüngste regierungsamtliche Plünderung unserer Geldbeutel, ihr Anschlag auf die argentinische Lebensqualität, sowie die Ausrufung des Ausnahmezustands, der allerdings nur exakt 10 Minuten gedauert hat. Zusammen mit Duhalde hatten wir während der Proteste zwischen Ende Dezember und Anfang Januar fünf verschiedene Präsidenten in rascher Abfolge.

Die Volksversammlungen

Das Phänomen der „Cacerolazos“ und der sie begleitenden Volksversammlungen ist absolut neuartig und nicht zu vergleichen mit den „Cacerolazos“, die damals den linken Präsidenten Allende in Chile angriffen (1). Die Ziele, die wir verfolgen, sind denen der chilenischen Rechten aus den siebziger Jahren diametral entgegen gesetzt. Die ersten Proteste gegen die „Corralito“ (Name für ein Gesetz, nach welchem die Auszahlung von Geldern aus Banken an PrivatkundInnen eingeschränkt wurde) haben sich sofort radikalisiert zu Manifestationen für die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen in den Armenvierteln, gegen die exzessiven Tarife (die teuersten der Welt) in den privatisierten früheren Staatsunternehmen (Elektrizität, Telefon, Gas, Wasser), gegen die Korruption der politischen Klasse, der Gewerkschaftsfunktionäre und der Manager der großen Unternehmen, gegen die totale Abwesenheit einer repräsentativen Vertretung unserer Interessen in unserem demokratischen System, gegen die Ungerechtigkeiten der Justiz. Und die Liste ist noch länger.

Die Volksversammlungen sind die Praxis einer direkten anarchistischen Demokratie, auch wenn die Mehrheit der dabei Beteiligten das nicht so bezeichnen würde, und auch wenn viele AktivistInnen der linken Parteien das abstreiten wollen. Alle Protestierenden können sich in diesen direktdemokratischen Versammlungen zu gleichen Bedingungen beteiligen. In der Stadt Rosario gibt es in diesem Moment (25. Februar 2002) bereits 27 solcher direkter Versammlungen, davon sind einige Versammlungen eine Art Plena der Stadtviertel, andere haben den Charakter von Bezugsgruppentreffen. Die Menschen diskutieren in ihren lokalen Versammlungen. Jeden Sonntag gibt es einen stadtviertelübergreifenden Delegiertenrat, in welchem sich Delegierte und Beiräte aus den verschiedenen Versammlungen der Stadtviertel einfinden. Manche kommen mit imperativem Mandat, manche ohne, je nach den Gegebenheiten der jeweiligen Versammlung im Stadtviertel. Manche Delegierte bringen konkrete Vorschläge mit, manche kommen nur, um mitzuteilen, dass es sie gibt und worüber sie diskutieren. Diese neue Form der sozialen Organisation macht es möglich, dass sowohl PolitaktivistInnen mit langer Erfahrung wie wir, als auch völlige NeueinsteigerInnen gleichberechtigt teilnehmen können; dass Leute aus dem Mittelstand ebenso wie Menschen aus marginalisierten Milieus zu sehen sind, Erwachsene ebenso wie Alte, kleine Ladenbesitzer, LehrerInnen, öffentlich auftretende Frauen, StudentInnen, Arbeitslose, Angestellte etc.

Die Aktionen der Frauen

Alle Frauen können sich gleichberechtigt einbringen, keine Ältere fährt während der Versammlung einer jungen Frau über den Mund, ebenso wenig umgekehrt. Die Beteiligung der Frauen an der gesamten Bewegung ist lang anhaltend und oft sehr stark: sie sind Delegierte der Versammlungen oder dominieren die Proteste der Kochtöpfe, sie führen direkte Aktionen durch (Besetzungen leer stehender Wohnungen) oder sind in bestimmten Arbeitsgruppen aktiv (ich arbeite zum Beispiel im Pressekomitee einer Volksversammlung). In den Versammlungen kommt niemand auf die Idee, eine Delegierte sei nicht qualifiziert, weil sie etwa eine Frau wäre. Und wenn jemand auf die Idee käme, einer Frau zu verbieten, auf die Versammlung zu gehen, würde er sofort eine schlimme Viertelstunde erleben. Die Frauen, die die leer stehenden Wohnungen besetzt haben, sind in der Mehrzahl Familienmütter mit Kleinkindern oder Schwangere. Sie haben in der Regel eine Arbeit. Sie und ihre Familien fordern menschenwürdige Wohnverhältnisse und sind bereit, eine vernünftig angesetzte Miete zu zahlen. Sie wollen keine Geschenke. Andere Frauen, denen Mietzahlungen oder der Kauf eines Hauses unmöglich ist, haben sich entschieden, diese Wohnungen zu besetzen.

Die Ziele der gesamten Bewegung lassen sich zusammen fassen in den Forderungen nach einer besseren Lebensqualität für alle (nicht nur für die Mittelklassen), einer gerechteren Verteilung des Reichtums und nach einer ganz anderen Form der Machtausübung als in den bestehenden Institutionen. Die Bevölkerung ist auf die Straße gegangen und nicht mehr bereit, sich zurück zu ziehen oder nichts zu tun. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass jede weitere Frustration nunmehr eine zuviel wäre. Wir wissen aber auch, dass der Bewusstseinswandel Zeit braucht, dass es notwendig ist, vorsichtig voran zu gehen. Wir müssen auf unsere Ängste achten, denn wir haben unsere Erfahrungen gemacht. Wir müssen entschlossen, aber Schritt für Schritt vorgehen, uns der erkämpften besseren Bedingungen bewusst werden, bevor wir uns noch Wichtigerem zuwenden. Alles muss auf der Praxis der direkten Demokratie basieren, damit unser Wille wirklich repräsentativ zum Ausdruck kommt. Die Beteiligung variiert je nach der Eigenart des Ortes oder der politischen Kultur jeder Stadt. Alle Strömungen der Linken sollen vertreten sein und es ist sicher, dass das nicht der traditionellen Formelhaftigkeit entspricht, die wir kennen. Wir sind dabei, eine neue Kultur der sozialen Beteiligung zu schaffen, die unbewusst das ganze Alltagsleben beeinflusst. Als AnarchistInnen kennen wir die Bündnisse mit sozialen Bewegungen, wir stehen Seite an Seite mit Nicht-AnarchistInnen, wir sind nicht überrascht darüber, im Gegenteil: eher hoch erfreut.

In letzter Zeit gibt es zunehmend stärker werdende Gerüchte über einen Staatsstreich. Tatsächlich gibt es Gespräche zwischen militärischen Kadern und den Großunternehmern, zwischen Seineldin und den Sicherheitskräften der verschiedenen Städte, auch unter bestimmten Politikern. Die Volksversammlungen haben bereits ihre demonstrative Ablehnung dieser Manöver zum Ausdruck gebracht und fordern gleichzeitig Aufklärung und juristische Verfolgung der Verantwortlichen für die landesweit rund 30 Toten bei der Repression der Bewegung vom 19. und 20. Dezember 2001, die zum Sturz des neoliberalen Präsidenten de la Rúa führte.

Auch wenn die Medien und die Herrschenden nicht darüber berichten, auch wenn sie diesen neuen politischen Prozess der Basisbeteiligung disqualifizieren oder die Bewegung als okkult oder sektiererisch hinstellen, sie schreitet voran. Die Realität ist nichts weiter als das, was in der Gegenwart geschaffen wird, und hinter diese Erkenntnis führt uns kein Weg zurück.

(1) Eine im Dezember oft vorgetragene Kritik bürgerlicher
JournalistInnen gegen die Proteste war, dass sie ähnlich der Destabilisierung
Allendes in Chile Anfang der siebziger Jahre, wo Reiche und Mittelschichten
mit Kochtöpfen auf der Straße gegen die beginnende Warenknappheit demonstriert
hatten, nur dazu führen würden, einer Militärdiktatur Vorschub zu leisten
(d. Übersetzer).