bücher

Baukästen für eine andere Wirklichkeit

Die Gemeinschaft der Lüge, Medien- und Öffentlichkeitskritik sozialer Bewegungen in der Bundesrepublik

| Der Boris

Gottfried Oy, Die Gemeinschaft der Lüge, Medien- und Öffentlichkeitskritik sozialer Bewegungen in der Bundesrepublik, Westfälisches Dampfboot, Münster 2001, 48 DM, 292 S.

Um Herrschafts- und Gewaltstrukturen zurückzudrängen und zu zerstören, setzen wir gewaltfreie Aktionsformen ein. In diesem Sinn bemüht sich die anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution, seit 1972, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreitern und weiterzuentwickeln.

Die nun dreißigjährige Graswurzelrevolution gehört zu jenen Zeitungen, die im Zuge der Entwicklungen in den späten 60er Jahren, der herrschenden veröffentlichten Meinung eine andere Wirklichkeit, eine Gegenöffentlichkeit, entgegensetzen wollten. Gottfried Oy beschreibt in Die Gemeinschaft der Lüge wie sich Medien- und Öffentlichkeitskritik der sozialen Bewegungen seit den späten sechziger Jahren gewandelt haben. Er geht dabei nicht sosehr auf einzelne Projekte ein, vielmehr zeigt er drei Theorie-Achsen an denen sich diese Kritik und die daraus folgenden Praktiken orientierten.

Zunächst ist dort die wahrscheinlich dominante Achse eines repressiven und manipulativen Machtbegriffs zu nennen. Nach Anfängen, die sich in den 20er und 30er Jahren finden lassen, wird sie in den 60er Jahren im Zuge von kritischer Theorie und Neomarxismus dominierend. Grundlegend wurde dabei Adornos und Horkeimers These der Kulturindustrie über die Unfähigkeit des Einzelnen, sich der durch die Kulturindustrie fabrizierten und ihnen eingeblasenen Stimme ihres Herren zu widersetzen. Eine andere Linie innerhalb dieser Theorieachse geht auf Walter Benjamin zurück, der dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit durchaus emanzipatorische Kraft zurechnet, da eine elitäre Hochkultur zugunsten einer Wortergreifung durch die Massen abgelöst werden könne. Von hier aus entwickelten sich eine Vielzahl von Ansätzen von Habermas über Negt, Kluge hin zur kritischen Medientheorie. Der Manipulation durch die übermächtige Bewusstseinsindustrie gilt es authentische und basisnahe Informationen und Wirklichkeitserfahrungen entgegenzusetzen. Alternative Medienarbeit war angesagt. Nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen, sondern jeden zum Manipulateur zu machen forderte Enzensberger in seinem Baukasten zur Theorie der Medien“ von einem revolutionären Konzept.

Die zweite Achse rückt das in den Mittelpunkt, was bei Vertretern des manipulativen Machtbergriffs nicht vorgesehen war, die Vielschichtigkeit des Produkts, Intertextualität und die Kreativität der RezipientInnen. Subversivität, elektronischer Dissens, Kommunikationsguerilla. Nicht die Frage was die Medien mit den Menschen anstellen (das war die Frage des Manipulationsansatzes), sondern was die Menschen mit den Medien machen, ist das Interessante. Auf dieser Achse treffen sich dann Umberto Eco, Stuart Hall und die cultural studies, die sich, Gramsci weiterdenkend, auf die Suche nach hegemonialen Deutungen begeben und die Möglichkeiten der dissidenten und subversiven Spiele und Kämpfe um eben diese finden wollen.

Eine dritte Achse bezieht sich maßgeblich auf die französischen Poststrukturalisten, Foucault, Deleuze und Guattari. Nicht Herrscher und Unterworfene stehen sich in einer monolithischen Konfrontation gegenüber und gewinnen tut der mit den besseren Informationen und der effektiveren Vermittlung, vielmehr werden Begriffe wie Netzwerk, Mannigfaltigkeit, Rhizom oder Multitude zu Termen mit denen die Beweglichkeit und Veränderlichkeit von Kommunikationsstrukturen aufgezeigt werden sollen. Diese Strukturen, deren wachsende Komplexität, Universalität und Totalität zugleich eine lückenlose Überwachung und Kontrolle verhindert, bieten immer wieder, an unerwarteten Orten und oft nur für kurze Zeit, Fluchtmöglichkeiten aus den totalitären Strukturen einer kapitalistisch überbauten Medien- und Bewusstseinsindustrie. Ihr braucht keine richtigen Ideen zu haben, nur habt eine Idee. Habt kurzlebige Ideen… Seid weder eins noch viele, seid Vielheiten!

Mit dem Aufkommen und der massenhaften Verbreitung des Internets schienen die technischen Möglichkeiten vielförmiger und unkontrollierbarer Bewegung möglich. Die Struktur des Internet schien eine herrschaftliche und hierarchische Durchdringung unmöglich zu machen. Jeder und jede könne über relativ einfache Mittel Sender und Empfänger werden und das Verhältnis von vielen HörerInnen und einem Sender der klassischen Massenmedien zugunsten vieler Stimmen auflösen. Hierarchien und Herrschaftsstrukturen wie Geschlecht oder Ethnizität würden in dieser körperlosen Welt aufhören relevant zu sein. Brechts Idee des Rückkanals lässt sich so in der Interaktivität des Weltweitennetzes finden.

Nach aller anfänglichen Euphorie, die eine Weile unter einem bestimmten Teil der Linken bestand und die es ganz ähnlich auch im Bereich neuer elektronischer Musiken eine kurze Zeit lang gab, und zu Experimenten wie com.une.farce oder Netzkritik führte, ließe sich heute für das Internet, genau wie für andere Medien konstatieren, dass, um es mit der Mutter aller Manipulationstheorien zu sagen, der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist. Auch zeigen sich beispielsweise im Zusammenhang mit der Antisemitismusdiskussion bei indymedia (siehe Artikel dazu in dieser GWR) die Probleme offener und unkontrollierter Strukturen. Doch sollte diese Ernüchterung nicht dazu führen Netzwerkphilosophien für den Bereich der Alternativen Öffentlichkeit aufzugeben, zumal sie auf der Ebene sozialer Bewegungen am aussichtsreichsten erscheinen.

Das Ganze kann als ein Abgesang auf das Konzept der Gegenöffentlichkeit gelesen werden. Doch bleiben gegenöffentliche Medien, da sie auf demokratische Strukturen und nonkonforme soziale Identitäten verweisen können, für eine Weiterentwicklung dissidenter Theorie und Praxis wichtig. Abstand muss aber wohl von dem aufklärerischen Anspruch genommen werden, dass die Massen nur die entsprechenden Informationen brauchen um zu rebellieren. Denn Informationen alleine ändern nichts. Das Modell Alternative Öffentlichkeit als gesellschaftskritisches Konzept kann seine Wirkung nur entfalten, indem es nicht als isolierte Medientheorie, sondern als umfassende Gesellschaftstheorie begriffen wird.

Alles in Allem ein sehr gelungener und notwendiger Versuch der Aufarbeitung linker Öffentlichkeitskritik und hoffentlich eines Anstoßes ihrer Weiterentwicklung. Auf jeden Fall aber wird ein wichtiger Überblick über Medien- und Öffentlichkeitstheorien von Brecht bis in die verzweigten Netze des Cyberspace geschaffen, der immer wieder die Verbindung dieser zu einer kritischen Praxis zwischen taz und radikal, Piratensendern und alternativer Stadtteilarbeit schafft. Berechtigt ist sicherlich die Kritik, dass in Oys Buch die Vielzahl auch heute noch bestehender Projekte einer klassischen Gegenöffentlichkeit und deren Bedeutung für die Reste und Anfänge sozialer Bewegungen, zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht, nicht in gebührendem Maße berücksichtigt wird.

Anmerkungen

Libertäre Publikationen wie z.B. die "graswurzelrevolution" und ihre 1965/66 erschienene Vorgängerin "Direkte Aktion" (siehe Abb.) kommen in Gottfried Oys Buch "Die Gemeinschaft der Lüge" leider nicht vor. Wer sich für die Geschichte libertärer Gegenöffentlichkeit interessiert, dem/der sei der beim "30 Jahre Graswurzelrevolution" (21.-23.6. in Münster) stattfindende Arbeitskreis zum Thema emfohlen, sowie das Buch von Bernd Drücke: "Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland" (Verlag Klemm & Oelschläger, Pappelauer Weg 15, 89077 Ulm. Für GWR-LeserInnen 12,50 € statt 29 €.