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In Frankreich brennen Synagogen

Wo der militante Tsahalismus (*) auf arabischen und französischen Antisemitismus trifft, ist für Libertäre kein Ort, nirgends.

| Fang

Mit ca. 700000 Mitgliedern hat Frankreich die größte jüdische Gemeinde Europas. Seit Ostern sagen viele Juden und Jüdinnen, dass sie Angst haben und dass sie sich das erste Mal in Frankreich nicht mehr sicher fühlen. Innerhalb von wenigen Tagen wurden über das Osterwochenende hinweg drei Synagogen niedergebrannt, in Straßbourg, Lyon und Marseille. Auf eine weitere Synagoge in Montpellier wurde ein Molotowcocktail geworfen, in Aubervilliers brannte der Bus einer jüdischen Schule aus. Am 7.4., eine Woche nach den Osteranschlägen, wurden in Marseille weitere zwei Molotowcocktails gegen eine Synagoge geworfen, am gleichen Tag wurde in einer jüdischen Schule in Marseille Feuer gelegt (1).

Schon im Oktober letzten Jahres wurde auf die Synagoge „Or Aviv“ im östlichen Marseiller Stadtteil Caillol ein Anschlag verübt, der allerdings keinen größeren Schaden anrichtete.

Nun brannte die Synagoge völlig aus. Es war kein Anschlag vorbei fahrender Jugendlicher, sondern ein geplantes Attentat. Die Täter müssen den Hintereingang gekannt haben und haben das Feuer in der Bibliothek gelegt, um sofort einen möglichst großen Effekt zu erzielen. Ansonsten fehlt jede Spur, was Herkunft und Motive der Täter betrifft (2). Der signifikante Anstieg des Antisemitismus in Frankreich wird bereits seit einem Jahr von den jüdischen Gemeinden ebenso wie von antirassistischen Organisationen wie „SOS Racisme“ oder „MRAP (Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples“) beobachtet und kritisiert. Vom französischen Innenministerium wurden die Warnsignale aber ignoriert, der Antisemitismus wurde zu vereinzelten Akten orientierungsloser Jugendlicher in den Vorstädten banalisiert, noch jüngst veröffentlichte die Regierung eine Statistik, nach welcher antisemitische Akte im Jahre 2001 zurück gegangen seien (3).

Der jüdisch-arabische Mikrokosmos in Marseille

Marseille ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch für das, was sich in Frankreich abspielt und es ist auch kein Zufall, dass sich die Täter eine Synagoge dieser Stadt ausgesucht haben. Es gab 43 Synagogen, jetzt sind es noch 42 in Marseille, mit über 50000 hat die jüdische Gemeinde der Stadt die größte Mitgliederzahl Frankreichs, nach Paris. Im Stadtteil Caillol leben 600 jüdische Familien. Und in der Innenstadt Marseilles folgen die jüdischen und arabischen Viertel unmittelbar aufeinander. Oft genügt nur der Gang um eine Straßenecke und man/frau findet sich in einer anderen Welt. Françis und Anne, die beiden AnarchistInnen, die den Bürobetrieb und die Bibliothek des „CIRA“ (Internationales Zentrum zur Erforschung des Anarchismus) aufrecht erhalten, erzählen von französischen, arabischen und jüdischen Jugendlichen und Erwachsenen, die sich tagtäglich zusammen auf dem Platz vor dem anarchistischen Zentrum unterhalten oder ihren Kaffee trinken. Viele AntirassistInnen sahen lange im Mikrokosmos von Marseille ein beispielhaftes Modell, andere beobachten seit Beginn der zweiten Intifada Ende 2000 eine Reethnisierung der Stadtviertel, und die jüngste Anschlagsserie scheint ihnen recht zu geben. Wenn es denn ein Modell war, dann steht es jetzt auf dem Prüfstand.

Aus meiner Sicht darf man/frau sich keine Illusionen darüber machen, dass der Anstieg des Antisemitismus in Frankreich mit dem Krieg der israelischen Armee in Palästina zusammen hängt. Denn neben der stärksten jüdischen Gemeinde in Europa gibt es in Frankreich gleichzeitig die stärkste arabische und maghrebinische Exilgemeinde, besonders in Marseille. Und beide Seiten schenken sich nichts: ob arabische Jugendliche neuerdings Juden und Jüdinnen in der Innenstadt mit „dreckiger Jude“ anmachen, oder ob die jüdische Gemeinde eine Woche vor Ostern im großen Marseiller Kongreßzentrum eine Galaveranstaltung mit israelischen SängerInnen zur Unterstützung von Tsahal, der israelischen Armee, organisiert. So hat man/frau sich über Monate hinweg provoziert und gegenseitig beleidigt.

Bei einer Gegendemonstration, die PalästinenserInnen zusammen mit französischen Linken vor dem Eingang des Kongreßzentrums durchführten (ca. 500 TeilnehmerInnen), mischte auch eine minoritäre Gruppe unter dem Namen „Union juive française pour la paix“ (UJFP) mit, die israelische Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Befragt, wie er sich denn gegenüber antisemitischen Sprüchen der arabischen DemonstrantInnen wie etwa „Sharon nazi“ verhalte, erklärt ihr Sprecher, Michel Barak, er versuche durchzusetzen, dass sich die Verantwortlichen der Demonstration von antisemitischen Parolen distanzieren.

Doch zu sehen und zu hören sind sie immer wieder. Die CRIF (Conseil représentatif des institutions juives en France), die dominante Organisation der jüdischen Gemeinde, spricht der Gruppe kategorisch jede Berechtigung ab, für jüdische BürgerInnen zu sprechen, denunziert sie geradezu als antijüdisch (4).

Die jüdischen Libertären in Frankreich reagieren gespalten, je nachdem, ob sie pro- oder antizionistisch sind. Der Antizionist Pierre Stambul etwa meinte noch in einem im März erschienen Artikel, von Antisemitismus zu sprechen, wenn einige erhitzte Araber Steine gegen eine Synagoge werfen, sei pure Sharon-Propaganda. Die ersten Opfer des gesellschaftlichen und staatlichen Rassismus in Frankreich seien MaghrebinerInnen, AfrikanerInnen, Sinti & Roma, über die aber in den Medien nicht berichtet werde. Als Antizionist meint er, es sei Sharons Strategie, die jüdischen Exilgemeinden geschlossen hinter sich zu bringen, um sein zionistisches Ziel zu erreichen, palästinensisches Land für mehr jüdische EinwandererInnen zu erobern (aktuell vor allem argentinische Juden und Jüdinnen). Noch leben nach Stambul nur 40 Prozent aller Juden/Jüdinnen weltweit in Israel, Sharons Eroberungs- und Bevölkerungspolitik solle den Satz auf über 50 Prozent bringen. Dafür nehme er die jüdischen Exilgemeinden in die Geiselhaft der Zwangssolidarität, wobei es jüdischen Gruppen oder Einzelpersonen zunehmend schwerer gemacht werde, innerhalb der Gemeinde abweichende Meinungen zu formulieren (5).

Nun mag es den antiarabischen Rassismus in Frankreich sicherlich geben, das ist nicht neu, und vielleicht auch einen Solidarisierungsdruck Israels auf die jüdischen Gemeinden, aber beides kann nicht ernsthaft als Argument benutzt werden, die Existenz des Antisemitismus zu leugnen oder zu verharmlosen. Weniger stramm antizionistische französische libertäre Juden wie Jean-Marc Izrine warnen denn auch seit Jahren eindringlich vor der ansteigenden Welle des Antisemitismus in Frankreich, vor allem zu beobachten bei Anschlägen gegen jüdische Friedhöfe und dem permanent vorgetragenen, zum Teil offenen, zum Teil versteckten Antisemitismus der hoffähig gemachten extremen Rechten wie etwa der Front National. Und diese antisemitischen Akte sind allerdings rein französischer Herkunft und stecken tief in der französischen antisemitischen Tradition. Der gespannte arabisch-jüdische Mikrokosmos trifft nun auf diesen traditionellen Boden des französischen Antisemitismus und vermischt sich mit ihm zu einem unentwirrbaren Brei. Izrine arbeitet in Toulouse als Sozialarbeiter in arabischen Stadtvierteln und ist als Jude ständig mit den Problemen der jugendlichen NordafrikanerInnen konfrontiert. Er beschreibt seine Arbeit auch für sich selbst als zunehmend schwieriger, ja sogar existenzbedrohend. Um ein positives Gegenbild zum grassierenden Antisemitismus und auch zur seiner Meinung nach mangelhaften Auseinandersetzung damit in der französischen Linken und in libertären Kreisen Frankreichs zu schaffen, hat er schon 1998 ein Buch über den Zusammenhang von Judentum und Anarchismus veröffentlicht (6).

Kein Ort, nirgends?

10000 Menschen, darunter viele Menschen anderer Religionen und einige AtheistInnen kamen am 1.4., am Tag nach dem Brandanschlag auf die Synagoge von Caillol zur Trauerfeier, bei der die fünf bei dem Anschlag zerstörten oder verbrannten Thorarollen auf dem örtlichen jüdischen Friedhof symbolisch begraben wurden. Für kurze Zeit verdrängte die Trauer die Diskussion und die Konflikte um Israel/Palästina. Doch schon die Ankündigung der jüdischen Gemeinde, am kommenden Sonntag, 7.4., in Paris und in Marseille gegen Antisemitismus und für die Unterstützung des Staates Israel zu demonstrieren, sorgte wieder für Dissonanzen.

Seit der israelischen Militäroffensive gibt es in Frankreich immer wieder pro-palästinensische Demonstrationen, so auch in Marseille, unterstützt von PalästinenserInnen, arabischen Bevölkerungsteilen und der französischen Linken, vor allem der Kommunistischen Partei und den TrotzkistInnen. Einige französische Libertäre und die jüdische UJFP beteiligen sich daran, indem sie ihre Solidarität mit den israelischen Kriegsdienstverweigerern in den Vordergrund der Flugblätter rücken, andere bleiben fern. Gern würde ich mitmachen, aber Sharon-Hitler-Vergleiche sind bei der Demo gang und gäbe, auch noch nach den Anschlägen auf die Synagogen. Und es kommt niemand auf die Idee, wenigstens jetzt auch den Kampf gegen den Antisemitismus zu den Schwerpunkten der Demo (Rückzug der israelischen Armee aus den besetzten Gebieten, Bildung eines palästinensischen Staates) hinzuzuzählen. So bleibe ich fern.

Am 7. April demonstrierte die jüdische Gemeinde in Paris (ca. 100000), in Marseille (ca. 15-20000) und anderen Orten Frankreichs gegen Antisemitismus und für die Solidarität mit Israel. Menschenrechtsorganisationen und antirassistische Gruppen wie die MRAP protestierten gegen diese Vermischung und führten örtlich eigene Demonstrationen durch, die jedoch öffentlich kaum beachtet wurden. In Marseille konnte die jüdische Gemeinde erkennbar mehr Unterstützung aus ihren eigenen Reihen und in der französischen Bevölkerung mobilisieren als die arabische Gemeinde bei den propalästinensischen Demonstrationen, bei denen jeweils nur ca. 2-4000 Menschen beteiligt waren. Vorneweg gingen jüdische Deportierte aus der Zeit der deutschen Besatzung, die noch einmal ihren Judenstern anlegten. Gern würde ich mitmachen, wenn in Parolen „Stop dem Antisemitismus“ skandiert wird, aber es wird auch gerufen: „Solidarität mit Israel“ und sogar „Sharon Solidarität!“. Also bleibe ich fern. Es kommt zu Zwischenfällen: 250 arabische Jugendliche sammeln sich, von der französischen Sonderpolizei CRS abgeschirmt, als die Demo der jüdischen Gemeinde an ihnen vorbei geht. Sie rufen: „Die Araber sind da“, „Wir sind alle Kamikazes“, „Es lebe Bin Laden.“ Ein jüdischer Demonstrant wird von einem Jugendlichen mit einem Messerstich am Bein verletzt (7). In Paris wiederum haben junge extremistische Juden aus der Demo heraus pazifistische GegendemonstrantInnen und JournalistInnen körperlich angegriffen (8).

Wo der militante Tsahalismus auf den arabischen und französischen Antisemitismus trifft, ist für Libertäre kein Ort, nirgends. Warum, so frage ich, muss man/frau als AktivistIn immer irgendwo mitmachen, wo alle Bündnisse solch gravierende Regression, solch offensichtlich rücksichtslose Nationalismen aufweisen? Warum glauben alle, in dieser Kriegssituation könne man/frau entweder nur propalästinensisch (mit allen negativen Folgen, als da sind Unterstützung oder Verharmlosung der Attentate und des arabischen Antisemitismus) oder nur proisraelisch (mit allen negativen Folgen, als da sind Unterstützung und Verharmlosung der Militäroffensive und des antiarabischen Rassismus) sein? Es gibt nicht nur zwei Positionen, sondern drei, vier, viele! Und es ist für mich als Libertären eine Befreiung, mich weder dem einen noch dem anderen falschen Bündnis anzuschließen. Die militärische Unterdrückung der PalästinenserInnen ist eine Realität ebenso wie der palästinensische Terror gegen die israelische Zivilbevölkerung ebenso wie der Antisemitismus in Frankreich. Und alle diese Herrschaftsformen müssen bekämpft werden, ausnahmslos und kompromisslos. In dieser Hinsicht gab es zuletzt wenigstens einen Hoffnungsschimmer: ca. 50 maghrebinische Intellektuelle (SchriftstellerInnen, LehrerInnen, KünstlerInnen), die in Frankreich leben, haben in der Tageszeitung „Le Monde“ einen Appell gegen Antisemitismus verfasst. Unter dem Titel „Verirren wir uns nicht im Kampf“ schreiben sie:

„Als AraberInnen sagen wir, dass die antijüdischen Anschläge in Frankreich absolut intolerabel sind. Die Wut, die wir angesichts der Verbrechen Sharons empfinden, darf unter keinen Umständen falsche Angriffsziele und Vermengungen rechtfertigen. (…) Die jüdische Gemeinde ist nicht identisch mit der israelischen Bevölkerung. Und die israelische Bevölkerung ist schon gar nicht ineinszusetzen mit den Zielen Sharons. (…) Zu unseren PartnerInnen und wertvollsten MitkämpferInnen gehören Israelis und Juden/Jüdinnen, die an der Seite von PalästinenserInnen gegen die Besatzung und die Repression arbeiten (…). Ein Großteil von ihnen kennt eine tragische Familiengeschichte, die vom Holocaust gezeichnet ist. Ihr haben wir unseren Respekt entgegen zu bringen. (…) Verirren wir uns nicht im Kampf. Der Angriff auf einen Juden oder einen Araber wiegt gleich schwer.“ Und immerhin hat die offizielle PLO-Vertreterin in Frankreich, Leïla Shahid erklärt, die Angriffe gegen Synagogen und jüdische Einrichtungen seien „Verbrechen gegen die PalästinenserInnen.“ (9)

(*) Israelischer Militarismus; abgeleitet von Tsahal/israelische Armee

(1) vgl. Berichte in der Tageszeitung La Provence, 8.4., der Wochenzeitung Marseille l'Hebdo, 4.4. und der Tageszeitung La Marseillaise, 2.4.

(2) Fred Guilledoux: L'épreuve qui ressoude Marseille, in Marseille l'Hebdo, 4.4., S. 9.

(3) Sylvia Zappi: La banalisation des actes antijuifs, nouvelle cause de tensions urbaines, in Le Monde, 19.2.2002, S. 8.

(4) Vgl. G.G.: Une manifestation pro-palestinienne. Contre la gala de l'ABSI à Marseille, in Actualité Juive, 21.3.2002, S.34.

(5) Pierre Stambul: Ne jouez pas avec l'antisémitisme!, in Le RIRe, Bimestriel antimilitariste, Nr. 44, Mars/Avril 2002, S. 10f.

(6) Jean-Marc Izrine: Les Libertaires du Yiddishland. Alternative Libertaire & Le Coquelicot, Toulouse 1998, zu bestellen über: Alternative libertaire, BP 177, F-75967 Paris cédex 20, kostet 12 €.

(7) Vgl. mehrere Berichte in der örtlichen Tageszeitung La Provence, 8.4., S. 4 und 15.

(8) vgl. La Provence, 8.4., S. 15.

(9) Erklärung: "Ne nous trompons pas de combat", in Le Monde, 10.4.2002, S. 19.