FAU: Die „Graswurzelrevolution“ (GWR) gibt es nun seit dreißig Jahren. Du bist im Moment Koordinationsredakteur. Kannst du uns sagen wie die Zeitung entstanden ist?
Bernd Drücke: Ja, die Zeitung ist 1972 gegründet worden von Wolfgang Hertle und einigen anderen Anarchisten und Anarchistinnen aus Augsburg. Das war der Versuch, eine überregionale gewaltfreie, anarchistische Zeitung zu etablieren. Es gab vorher schon einige Vorläuferprojekte, in Hannover beispielsweise die „Direkte Aktion“ 1965/66 und auch verschiedene französischsprachige gewaltfrei-anarchistische Zeitungen, die eben das Ziel einer gewaltfrei-herrschaftslosen Gesellschaft hatten. Die Zeitung hat sich seitdem ganz gut etabliert, in der Hoch-Zeit in den 80er Jahren hat sie eine recht hohe Auflage gehabt und hatte einen großen Einfluss auf die neuen sozialen Bewegungen. Nicht nur auf die anarchistische Bewegung, sondern auch darüber hinaus als Sprachrohr auf die Friedens-, die Anti-Atom- und die feministische Bewegung unter anderem.
FAU: Wie hoch ist die Auflage zur Zeit und wer liest die GWR?
Zur Zeit haben wir eine Auflage von 3500 – 6000 Exemplaren. Früher war die GWR eine klassische Bewegungszeitung, die meist im Handverkauf unter die Leute gebracht wurde, da war die Auflage auch höher. Heute ist es eher eine Abonnementszeitung, die von unterschiedlichen Menschen gelesen wird, nur von libertären Aktivistinnen und Aktivisten.
FAU: Wie ist die Zeitung aufgebaut, wieviele Personen arbeiten mit und wie ist die Struktur?
Die Struktur ist ein dezentrales Netzwerk, es gibt über hundert, recht heterogene Gruppen die der Graswurzelbewegung nahe stehen oder dazugehören. Es gibt einen HerausgeberInnenkreis, der sich aus diesen Gruppen speist. Das sind ungefähr 20-30 Leute, die alle zwei Monate zusammenkommen. Dort werden alle Entscheidungen getroffen, welche die Zeitung anbelangen –Besprechung der letzten und Planung der nächsten Ausgaben – und auch Hauptamtliche gewählt. Zur Zeit gibt es nur einen hauptamtlichen Redakteur. Es gibt ein Redaktionsbüro in Münster, dann den Buchverlag der GWR in Heidelberg und Bremen,…
FAU: Arbeitet ihr auch international mit anderen Gruppen der gleichen Ausrichtung zusammen, wenn ja, mit welchen?
Ja, international gibt es seit 1921 die „War Resisters International“ (WRI), die Internationale der KriegsgegnerInnnen. Das ist ein Netzwerk von über 90 Gruppen und Organisationen aus 45 Ländern. Eine praktisch weltweite Vernetzung. Dieser Bewegung ist die GWR assoziiert, genauso wie die „Deutsche Friedensgesellschaft“ oder der „Versöhnungsbund“, also nicht nur anarchistische, sondern auch pazifistische, antimilitaristische Gruppen. Und das ist gut, daß wir miteinander vernetzt sind. International gibt es befreundete Gruppen in verschiedenen Ländern und Schwesterzeitungen wie z.B. „Peace News“ in London, „Nonviolent Activist“ in New York, „Réfractions“ in Frankreich. Daraus speist sich auch zum Teil die Zeitungsarbeit. Wir haben oft Artikel von libertären, antimilitaristischen und feministischen Gruppen z.B. aus den USA oder (Ex-)Jugoslawien, die wir übersetzen. Umgekehrt erscheinen viele Artikel, die in der GWR veröffentlicht werden, übersetzt in französisch- oder englischsprachigen anarchistischen und antimilitaristischen Publikationen. Bewegungen von unten, die in den bürgerlichen Medien nicht zu Wort kommen, finden sich in unserer Zeitung wieder.
FAU: Seit einiger Zeit erscheint in der GWR eine deutsch-türkische Beilage, die „Ötkökü Devrimi“, wie ist es dazu gekommen und was ist das eigentlich für eine Zeitung?
Das ist eine Dreimonatszeitung, die als GWR-Beilage und als Aktionszeitung zum verteilen erscheint. Die Idee dazu ist 1999 entstanden. Jeder Text steht in der Otkökü (türkisch: „Graswurzel“) auf deutsch und auf türkisch. Die Konzeption habe ich gemeinsam mit Osman Murat Ülke entwickelt. Das ist ein Graswurzelrevolutionär, der in der Türkei dadurch bekannt geworden ist, daß er den Kriegsdienst verweigert und seinen Wehrpass öffentlich verbrannt hat. Dafür hat er zweieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen. Momentan hat er nur einen halblegalen Status, kann jederzeit wieder inhaftiert werden, weil es in der Türkei kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt. Die Idee war, die kleine Graswurzelbewegung in der Türkei dadurch zu unterstützen, daß wir ein deutsch-türkisches Projekt machen. Globalisierung des Widerstands von unten. Das Konzept ist aber eigentlich schon bei der ersten Ausgabe im März 2001 gescheitert, von der in der Türkei direkt 450 Exemplare beschlagnahmt wurden. Die Gefährdung für unsere dortigen Mitarbeiter, insbesondere Osman Murat Ülke, ist zu groß, so daß wir jetzt sagen: Es gibt nur noch Einzelabos in der Türkei. Ansonsten wird die Zeitung nur noch im deutschsprachigen Raum verbreitet. Das ist sehr schade!
FAU: Die GWR wird nun dreißig Jahre alt. Dazu gibt es einen bundesweiten Kongress. Kannst du uns dazu etwas sagen? Was wird dort gemacht?
Ja, es wird viel angeboten. Es wird viele Arbeitskreise, Vorträge, Kabarett (Der Blarze Schwock), Konzerte von Klaus der Geiger, Pit Budde (Ex-Cochise), Petrograd u.a. geben. Zum Fest kommen auch hierzulande z.T. bekanntere Referenten und Referentinnen: Tobias Pflüger von der „Informationsstelle Militarisierung“, Alfred Schobert vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, Roberta Bacic von WRI London, Wolf-Dieter Narr vom „Komitee für Grundrechte und Demokratie“. Aber nicht nur Krieg und Antimilitarismus ist Thema, sondern auch Anarchismus, Gewaltfreiheit, Feminismus, Globalisierung, libertäre Gegenöffentlichkeit, Antisexismus, Gender, libertäre Anti-Pädagogik und vieles mehr. Das erste vorläufige Programm, Plakate und Flugblätter werden in den nächsten Wochen gedruckt und verteilt. Da werdet ihr dann einiges mehr lesen können. Alle Leserinnen und Leser der „da“ sind herzlich eingeladen.
FAU: Die wichtigste Frage zum Kongress, wann und wo findet er statt?
Der findet vom 21. -23. Juni 2002 in Münster statt. Es gibt ein dezentrales Konzept. Anlaufstelle ist die ESG, Breul 43. Aktuelle Infos können der Zeitung entnommen werden und finden sich auf der Homepage: www.graswurzel.net.
FAU: Uns als FAUistas interessiert natürlich auch ganz besonders euer Verhältnis zum Anarchosyndikalismus und der FAU im speziellen.
Da gibt es viele Überschneidungen. Im GWR-HerausgeberInnenkreis sind auch Leute aktiv, die gleichzeitig auch in der FAU sind. Ich denke, das ist eine Bewegung, die zusammengehört, also Anarchosyndikalismus und Graswurzelanarchismus. Nur gemeinsam sind wir stark!
FAU: Das war ein sehr schönes Schlußwort. Bernd, wir bedanken uns für das Gespräch.
Aus: DA (direkte aktion), anarchosyndikalistische Zeitung, Nr. 151, Mai/Juni 2002