30 jahre graswurzelrevolution

Bildung als Dialog und nicht als Belehrung

Tolstois libertäre Schule von Jasnaja Poljana

| Ulrich Klemm

Tolstoi wird im libertären Kontext vor allem hinsichtlich seines Antimilitarismus und Pazifismus sowie hinsichtlich seiner libertären Gesellschaftskritik diskutiert (vgl. z. B. GWR Nr. 138/November 1989; Nr. 200/September 1995). Er inspirierte dabei Generationen von (libertären) Menschen und motivierte zu gewaltfreiem Widerstand gegen Staat, Kirche und Ungerechtigkeit („Widerstrebe nicht dem Bösen mit Gewalt“). Nach wie vor relativ unbeachtet in der libertären und pädagogischen Diskussion bleibt jedoch sein pädagogisches Engagement.

Tolstoi zählt zu den wichtigsten libertären Reformpädagogen, die ganz wesentlich antiautoritäre Strömungen in der Pädagogik weltweit im 20. Jahrhundert beeinflusst haben. Der folgende Beitrag von Ulrich Klemm, der sich seit den 80er Jahren mit Tolstois Pädagogik befasst (vgl. z. B. „Die libertäre Reformpädagogik Tolstois und ihre Rezeption in der deutschen Pädagogik“, Reutlingen: Trotzdem Verlag 1984), legt den Schwerpunkt auf Tolstois Didaktik des Dialogs. Im Mittelpunkt steht dabei der bemerkenswerte Bericht seines ehemaligen Schülers Wassilij Morosow, der als Erwachsener seine Schülererfahrungen in Tolstois Schule aufschrieb und die 1919 in einer deutschen Übersetzung als Buch erschienen.

Tolstoi als Pädagoge

Als der Dichterphilosoph 1910 starb, hinterließ er nicht nur ein weltbewegendes dichterisches Werk, sondern auch eine Sozialethik und Pädagogik, die ihn weit über die Grenzen Rußlands hinaus bekannt machten.

Nachdem er seine literarischen Hauptwerke Krieg und Frieden (1864-1869) und Anna Karenina (1872-1877) vollendet hatte, wandte sich Tolstoi zunächst vom künstlerischen Schaffen ab und stellte seine Kraft in den Dienst libertärer und philantropischer Ziele zur Veränderung destruktiver und autoritärer gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit seiner „religiösen Krise“ (vgl. Tolstoi 1978a, erstm. russ. 1882) Ende der 1870er Jahre begann für Tolstoi ein neuer Lebensabschnitt. Von nun an verfaßte er zahllose politische und religiöse Traktate (vgl. Tolstoi 1983; Klemm 1995), die weltweit bekannt wurden. Dieser Bruch im Leben Tolstois bedeutete für ihn jedoch keinen Wandel im Sinne einer geistigen Kehrtwende. Ganz im Gegenteil: Dieser Bruch bedeutete für ihn Kontinuität und wurde zum Ausdruck einer konsequenten libertären Radikalität.

Tolstoi, dessen Wirken zeitlebens von einer freiheitlichen Gesinnung durchdrungen war, drückte diese Haltung erstmals als Erzieher und Pädagoge aus. Er wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zum Begründer einer pädagogischen Reformbewegung, die weit über Rußland hinaus wirkte (vgl. Wittig/Klemm (Hg.) 1988) und die wir heute als eine libertäre Reformpädagogik beschreiben können. Bereits mit 21 Jahren, 1849, richtete er erstmals auf seinem Familienerbe „Jasnaja Poljana“ (Lichte Wiese; etwa 100 Kilometer südlich von Moskau im Gouvernement Tula) eine Bauernschule für seine Leibeigenen ein. Im Jahre 1859 gründete er – nach einigen Jahren freiwilliger Militärdienstzeit, während derer er auch am Krim-Krieg (1853-1856) teilnahm – erneut auf seinem Bauerngut eine Bauernschule, die bis 1862 von ihm geleitet wurde Dieser Zeitraum von 1859 bis 1863 gilt heute als die Phase seiner intensivsten Beschäftigung mit pädagogischen Fragen. Neben dieser Schule, die als ein klassisches Beispiel einer antiautoritären Schule libertärer Prägung gilt, gab er auch eine eigene pädagogische Zeitschrift heraus, die von 1862 bis 1863 in zwölf Ausgaben erschien. Sie diente der Verbreitung seiner Erziehungs- und Bildungskonzeption und sollte in Rußland eine Reformdiskussion innerhalb der Pädagogik motivieren. In ihr erschienen u.a. die zentralen pädagogischen Aufsätze Tolstois aus dieser Zeit, die später von seinem Freund und Biographen Raphael Löwenfels 1907 ins Deutsche übersetzt und zu seinen Pädagogischen Schriften in zwei Bänden zusammengefaßt wurden (Tolstoi 1907, Neuausgabe 1994).

Von großer Bedeutung für Tolstoi während dieser Zeit war auch seine Auslandsreise 1860/61. Er reiste neun Monate durch Deutschland, Frankreich, Italien, England, Belgien und die Schweiz mit dem Ziel, sich über das westeuropäische Bildungssystem zu informieren. Er hospitierte an deutschen und französischen Schulen und Kindergärten, besuchte Vorlesungen an der Berliner Universität und kam mit bedeutenden Pädagogen zusammen. Über die Schulpädagogik in Deutschland schrieb er hierzu am 29. Juli 1860: „War in der Schule. Entsetzlich. Gebet für König. Prügel, alles auswendig, verängstigte, seelisch verkrüppelte Kinder“ (Tolstoi 1978b, S. 273).

Und wenige Tage später, sozusagen als Antithese, stellt er fest: „Montaigne hat als erster den Gedanken von der Freiheit der Erziehung klar ausgesprochen. Innerhalb der Erziehung wiederum ist das Wichtigste Gleichheit und Freiheit“. Anfang 1861 kehrte Tolstoi von seiner „Bildungsreise“ zurück mit der Überzeugung, „daß die einzige Grundlage der Erziehung die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist“ (Tolstoi 1985, S. 48). In seinem programmatischen Aufsatz „Gedanken über Volksbildung“ (Tolstoi 1985) führt er diesen Gedanken weiter aus und bemerkt: „Erst wenn die Erfahrung zur Grundlage der Schule gemacht werden wird, wenn die Schule sozusagen ein pädagogisches Laboratorium geworden ist, dann erst wird die Schule nicht hinter dem allgemeinen Fortschritt zurückbleiben und dann wird auch die Beobachtung im Stande sein, feste Grundlagen für die Wissenschaft der Erziehung zu schaffen“ (Tolstoi 1985, S. 34/35).

Tolstoi kommt damit nicht nur zu einer Kritik an der bestehenden pädagogischen Praxis, sondern ebenso zu einem theoretischen Konzept. Er verbindet seine Pädagogik mit einer Gesellschaftskritik, die deutlich zum Ausdruck kommt, wenn er fragt: „Woran liegt es, daß es eine Erziehung gibt? Wenn eine so unmoralische Erscheinung, wie Zwang in der Bildung, d.h. Erziehung (Tolstoi unterscheidet zwischen ‚Bildung’ als freien Unterricht und ,Erziehung’ als Zwangsmaßnahme; U.K.) Jahrhunderte existieren kann, so muß die Ursache dazu in der menschlichen Natur wurzeln. Diese Ursache glaube ich zu entdecken, erstens in der Familie, zweitens in der Religion, drittens im Staat und viertens in der Gesellschaft“ (Tolstoi 1907, S. 157). Tolstoi erweist sich hier als ein ideologiekritischer Pädagoge, dem es darum geht, Strukturen einer autoritären Erziehungswirklichkeit zu entlarven. Gleichzeitig versteht er Pädagogik als eine auf Erfahrung aufbauende Wissenschaft, die sich nach dem Grundsatz der Freiheit und Herrschaftslosigkeit neu konstituieren muß.

Zum Ende seiner ersten „pädagogischen Phase“ trugen wesentlich die Repressalien der zaristischen Regierung bei. Am 3. Oktober 1862 schrieb der russische Innenminister an das Unterrichtsministerium: „Die sorgfältige Prüfung der pädagogischen Zeitschrift ‚Jasnaja Poljana’, welche Graf Tolstoi herausgibt, führt uns zu dem Schlusse, daß diese Zeitschrift durch ihre Propaganda für neue Lehrmethoden und Volksschulgründungen häufig Ideen verbreitet, die nicht nur unrichtig, sondern auch schädlich sind …“ (Birukof (Hg.) 1906, S. 478). Tolstoi wurde außerdem einer Verschwörung gegen den Zaren beschuldigt, was man zum Anlaß nahm, sein Wohnhaus sowie seine Schule zu durchsuchen und zu verwüsten. 1863 zog sich Tolstoi daraufhin, verbittert über die politischen Verhältnisse in Rußland, aus der Pädagogik zurück und widmete sich seinem großen Roman Krieg und Frieden.

Die Schule von Jasnaja Poljana

Im Zentrum von Tolstois pädagogischen Tätigkeiten steht zweifellos in dem hier besprochenen Zeitraum seine Bauernschule in Jasnaja Poljana. Er setzte damit, aus heutiger Sicht, Zeichen für ein neues und libertäres Verständnis von Bildung und Erziehung, das nicht nur zu seinen Lebzeiten Anerkennung fand, sondern in gleichem Maße auch zum Vorbild für nachfolgende fortschrittliche Pädagogen wurde (z.B. Dennison 1971). Über seine Schule selbst existieren eine Reihe von Selbst- und Fremdzeugnisse, die sie für uns heute transparent machen. Neben seinem eigenen Erfahrungsbericht, der 1862 in seiner Zeitschrift erstmals erschien (vgl. auch Tolstoi 1976), sind es vor allem die „Erinnerungen“ seines Schülers Wassilij Morosow, die uns ein anschauliches Bild seiner Freiheitspädagogik vermitteln (Morosow 1919).

Tolstois Schul-Praxis, die sich bewußt zur damals gängigen abheben wollte und vom pädagogischen Grundsatz der individuellen Freiheit ausging, sollte kein Instrument zur Erziehung im Sinne einer Indoktrination sein, sondern ein Ort der selbsttätigen, freiwilligen und alltagsorientierten Bildung.

Tolstoi unterschied zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich zwischen Erziehung als Anwendung von Zwang und Bildung als eine freiwillige und freiheitliche Begegnung zwischen Lehrer und Schüler. Dieser Grundsatz führte zu einer Praxis von Freier Schule, die sich bis heute in der Zielrichtung nicht verändert hat und deutlich im Bericht von George Dennison über die „First Street School“ von 1964/65 zum Ausdruck kommt, wenn er schreibt, „daß man, wenn die herkömmliche Routine einer Schule aufgegeben wird (die militärische Disziplin, der Stundenplan. die Bestrafungen und Belohnungen, die Vereinheitlichung), weder mit einem Vakuum, noch mit einem Chaos konfrontiert wird, sondern vielmehr mit einer neuen Ordnung, die sich in erster Linie auf Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern gründet, und zwischen Kindern und den ihnen gleichgestellten, die sich letzten Endes jedoch auf solche Wahrheiten der menschlichen Natur gründet: daß der Verstand nicht unabhängig von den Gefühlen funktioniert, sondern daß das Denken am Fühlen und das Fühlen am Denken Anteil hat“ (Dennison 1971, S. 10).

Im Sommer 1859 verkündete Tolstoi in „seinem Dorf“ die Nachricht von der Eröffnung einer freiwilligen und kostenlosen Schule auf seinem Anwesen.

Über den ersten Schultag, an dem 22 Kinder mit ihren Eltern kamen, berichtet Morosow: „Wir verließen die Schule, nahmen Abschied von unserem teuren Lehrer und versprachen ihm, morgen in aller Frühe wieder da zu sein. Unser Entzücken kannte keine Grenzen. Wir erzählten einander, immer wieder und gerade so, wie wenn nicht jeder einzelne ohnehin dabei gewesen wäre, wie er herausgekommen sei, was er uns fragte, wie er gesprochen, wie er gelächelt habe“ (Morosow 1919, S. 17). Die ersten Monate verbrachten sie mit dem Erlernen des ABC: „Drei Monate waren noch nicht vergangen und unsere Schule gedieh vortrefflich. In dieser Zeit hatten wir schon fließend lesen gelernt und die Zahl der Schüler war von 22 auf 70 gestiegen. Es waren da Kinder aus allen Enden und Ecken unseres Landschaftskreises, Kinder von städtischen Kleinbürgern, kleinen Kaufleuten, Bauern und Leuten, die dem geistigen Stande angehörten“ (ebd., S. 21).

Das pädagogische Problem der Strafe

Obwohl Tolstoi jeglichen Zwang abschaffen wollte, weder Klassenarbeiten, Noten noch Hausaufgaben verteilte, entstanden Situationen, die aus der Sicht Tolstois zu Fehlhandlungen seinerseits führten und falsche, d. h. folgenschwere Reaktionen provozierten.

Einen besonders drastischen Fall beschreibt Morosow:

„In der Schule herrschte bei uns ein guter Geist. Wir lernten mit Lust. Aber mit noch größerer Lust lehrte Lew Nikolajewitsch. Sein Eifer war so groß, daß er nicht selten sein Mittagessen vergaß. In der Schule trug er eine ernste Miene zur Schau. Von uns verlangte er dreierlei: Reinlichkeit, Ordentlichkeit und Wahrhaftigkeit. Er sah es nicht gern, wenn sich einer von den Schülern dumme Scherze erlaubte, und liebte die Spaßvögel nicht, die sich gewöhnlich durch ein albernes Gelächter bemerkbar machen. Hingegen liebte er es sehr, daß man auf seine Fragen ohne Umschweife und wahrheitsgetreu antwortete. Einst sagte mir ein Knabe – ich entsinne mich nicht mehr, aus welchem Dorf er war, doch war er nicht aus dem unsrigen – das denkbar gröbste Schimpfwort ins Ohr und versteckte sein grinsendes Gesicht hinter den vorgehaltenen Händen, um sich den Blicken Lew Nikolajewitschs zu entziehen.

„Was ist dort los, Glinkin, worüber lachst du?“ fragte Lew Nikolajewitsch.

Der Knabe wurde still und beugte sich über seine Arbeit. Bald jedoch sah er mich wieder an und fing aufs neue an zu kichern. Lew Nikolajewitsch trat vor ihn hin und fragte ihn ärgerlich: „Was ist denn das, Glinkin? Worüber lachst du?“ „Ich…ich …weiß von nichts, Lew Nikolajewitsch!“ „Ich frage, worüber du lachst.“

Glinkin fängt an zu flunkern, bringt etwas ganz anderes vor, als was er mir ins Ohr gesagt hat, und an dem, was er vorbringt, ist nichts Lächerliches. Ich sehe auch, daß Lew Nikolajewitsch unzufrieden ist und daß er gern die Wahrheit wüßte.

„Morosow, komm einmal her! Sag, was hat dir Glinkin ins Ohr geflüstert? Was gab’s dabei zu lachen?“

Ich kam in einen inneren Zwiespalt. Sollte ich lügen oder die Wahrheit bekennen? Lew Nikolajewitsch sah mir in die Augen. Nach einigem Zögern sah ich Glinkin an und sagte zu Lew Nikolajewitsch: „Glinkin hat etwas Dummes gesagt, ich schäme mich, es Ihnen wiederzusagen.“ „Sag, was war es?“ „Er hat ein grobes Schimpfwort gebraucht.“ „Das ist nicht gut, das ist albern. Wie konntest du über eine solche Albernheit kichern?“ „Ich habe so was gar nicht gesagt. Morosow lügt.“

Lew Nikolajewitsch stand eine Weile und dachte darüber nach, was da zu tun sei, und dann wandte er sich an die Schüler: „Wißt ihr was? Wir wollen es einmal so probieren: Wenn jemand lügt, so wollen wir ihm einen Zettel mit der Aufschritt ‚Lügner’ auf den Rücken kleben und ihn so durchs Dorf führen. Die Sache ließe sich ja gleich bei Glinkin in Anwendung bringen.“

Alle waren damit einverstanden. Der Zettel wurde geschrieben und Glinkin auf den Rücken geklebt. Alle Schürer lachten. Sie traten herzu und lasen:

„Lüg-ner, Lüg-ner!“

Glinkin stand wie ein Geächteter da; er wurde verlegen, errötete bis zu Tränen. Dies dauerte übrigens nicht lange, da Lew Nikolajewitsch bald befahl, ihm den Zettel wieder abzunehmen.

Ein anderes Mal ereignete sich folgender schwerer Fall.

Eine wichtigere Angelegenheit mußte geschlichtet werden. Es geschah einst, daß ein Schüler seinem Kameraden ein Federmesser gestohlen hatte. Der Schuldige wurde des Diebstahls überführt. Sogleich beschloß die ganze Schule, unter dem Vorsitz Lew Nikolajewitschs, den Schuldigen zu bestrafen, d.h. ihm einen Zettel mir dem Aufschrieb „Dieb“ auf den Rücken zu kleben. Die Sache nahm jedoch plötzlich eine andere Wendung. Lew Nikolajewitsch stand da und sann nach, dann wandte er sich zu uns, als suche er diejenigen, die seiner Meinung beipflichten könnten. Er sah mich an und fragte: „Wie denkt ihr aber: Tun wir denn auch recht daran, einen Menschen der Schande preiszugeben, indem wir ihn mit einem solchen Zettel durchs Dorf führen? Alle werden ihn necken und verspotten. Und nicht nur jetzt, auch später, wenn er schon erwachsen sein wird, würde man über ihn spotten. Ihn aber so fürs ganze Leben zu verschimpfieren, das ist die Sache nicht wert.“

„Ist es auch nicht“, stimmten einige bei.

„Sein Vater würde ihn ja totschlagen!“ bemerkte Ignatka.

„Lew Nikolajewitsch, er wird doch mal heiraten und wird Kinder haben und dann würde man auch die Kinder verspotten und ihnen nachrufen: Euer Vater war ein Dieb!“ fügte ich hinzu.

Und so wurde denn beschlossen, Gnade für Recht ergehen zu lassen. Der Schuldige trug das Federmesser herbei und händigte es dem bestohlenen Kameraden ein (ebd., S. 36-39).

Schüler einer Freien Schule sind nicht braver, ordentlicher oder gerechter; was eine Freie Schule vielmehr auszeichnet, ist die Reaktion auf alltägliches, altersbedingtes oder scheinbar störendes Verhalten. Tolstoi hatte in diesem Sinne gerade wegen seines hohen Anspruchs, eine freiheitliche und nicht autoritäre Bildung zu praktizieren, mehr Probleme als Lehrer an Staatsschulen, deren Verhalten durch bestimmte Regeln vorbestimmt ist.

Tolstois moralischer Anspruch, die Kinder in ihren Rechten den Erwachsenen gleichzusetzen, machte seinen Unterricht zwar offener, freier, ungezwungener, stellte aber gleichzeitig auch ein höheres Maß an Menschlichkeit, Toleranz und Kraft voraus. Das obige Beispiel im Umgang mit Problemen zeigt, daß Tolstoi dabei keineswegs vor Fehlentscheidungen gefeit war. Was Jasnaja Poljana jedoch in solchen Fällen von anderen Schulen zur damaligen Zeit unterscheidet, ist der Umgang mit Entscheidungen und die Dynamik der Lehrer-Schüler-Interaktion.

Ein „Störfall“ wird vor der gesamten Klasse thematisiert; Tolstoi entscheidet nicht alleine, er wird nicht zum Herren über Lob und Strafe. Andererseits werden Fehlentscheidungen, die sich später als solche auch herausstellen, zu einem Beispiel für soziales Lernen. Wir müssen jedoch davon ausgehen – wenn wir den Berichten Tolstois und Morosows Glauben schenken wollen -, daß entsprechende Situationen in Jasnaja Poljana zur Ausnahme gehörten: „Für gewöhnlich wurde bei uns nie jemand gestraft. Für Ausgelassenheit, Ungehorsam, Faulheit strafte Lew Nikolajewitsch niemand“ (ebd., S. 42).

Bildung als Dialog

Ein wichtiges Merkmal, das sowohl von Tolstoi bewußt beabsichtigt als auch von Morosow so erfahren wurde, war der „pädagogische Bezug“, der sich grundlegend von den Traditionen eines autoritären, einseitigen und mit dem Ziel der Beeinflussung behafteten Lehrer-Schüler-Verhältnisses unterschied. Für Morosow und die Klasse stellte sich der pädagogische Bezug als ein Bildungserlebnis dar, das auf Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit beruht: „Unter solchen Freuden und Vergnügungen und schnellen Fortschritten im Lernen wurden wir mit Lew Nikolajewitsch ein Herz und eine Seele. Ohne ihn war die Welt uns leer, und auch er konnte nicht ohne uns sein. Wir waren unzertrennlich, und erst tief in der Nacht gingen wir von ihm fort“ (ebd., S. 47).

Bildung wird für Tolstoi zu einem gemeinsamen Erlebnis, zu einem Stück Leben mit dem Ziel, es erfahrbarer und begreifbarer zu machen. Die traditionelle Lehrerrolle verliert in Jasnaja Poljana an Dominanz, bilden und lehren kann nur der, der vom Lernenden akzeptiert wird. Die Lehrerrolle muß sozusagen delegiert, von den Betroffenen zugeschrieben werden. Tolstoi bemerkt hierzu: „Die Freiheit, plötzlich vom Unterricht wegzulaufen, ist etwas Nützliches und Notwendiges, und zwar nur als Mittel, den Lehrer vor den äußersten und gröbsten Fehlern zu bewahren“ (Tolstoi 1976, S. 15).

Demokratie in der Schule bedeutet für Tolstoi, Selbstbestimmung von Lerninhalten durch die Schüler und ein dialogisches Verhältnis in der Lerngemeinschaft. Daß die Schule Tolstois jedoch nicht nur die Lust am Lernen erhöhte, eine angenehme Atmosphäre schaffte, sondern auch mit Lernerfolgen verbunden war, dies beschreibt Morosow in einem Abschnitt, als seine Klasse ein Wettrechnen mit Gymnasiasten aus Tula veranstaltete: „In allem, was in unserer Schule gelernt wurde, maßen wir uns mit den Gymnasiasten und standen in keinem Gegenstand den Stadtherrlein nach. Wir verabschiedeten uns von ihnen freundschaftlich, als Gleichgestellte, und Lew Nikolajewitsch war sowohl mit uns wie auch mit ihnen zufrieden. Nur sagte er, als sie fort waren: ‚Sollen einmal nachdenken’“ (Morosow 1919, S. 68).

Ein zentrales Bildungsmittel für Tolstoi ist das Gespräch, nicht die Belehrung oder Unterweisung, nicht der didaktisch aufgearbeitete Stoff. Bei ihm wird Bildung zum Dialog. Diese Bildungsgespräche fanden statt beim Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Reisen und Wandern, aber auch im Unterricht selbst, wenn es um Rechnen, Schreiben usw. ging. Sie waren scheinbar zufällig, knüpften an spontane und momentane Stimmungen der SchülerInnen an, wurden von Tolstoi aufgegriffen. fortgeführt, prägten entscheidend das Klima der Schule und wurden auf diese Weise Ausdruck von Alltag, von Leben und von Begegnung.

Bildung als Begegnung von Menschen zum Zweck der Emanzipation, nicht als Akt der Formung – dies ist Tolstois Botschaft aus Jasnaja Poljana.

Bildung, Freiheit, Erfahrung

Für eine Geschichte der Alternativpädagogik ist bezüglich Tolstoi festzuhalten, daß es ihm nicht nur um die Trennung von Bildung und Erziehung geht. Es ist vor allem der Zusammenhang von Bildung, Freiheit und Erfahrung, den er als eine Einheit versteht.

Tolstoi wird damit zum Mentor einer libertären Alternativschulbewegung, dessen Spuren wir bis in die Gegenwart hinein verfolgen können, z.B. mit der „First Street School“ von George Dennison in New York 1964/65. Er propagierte eine freie Schulordnung, die zum Maßstab für ein freiheitliches Lernen in Institutionen wurde und versuchte, drei Leitideen miteinander zu verbinden:

  • Bildung statt Erziehung
  • Freiheit statt Zwang
  • Erfahrung statt Dogma.

Literatur

Birukof, P. (Hg.): Leo N. Tolstois Biographie und Memoiren. Band I.: Kindheit und frühes Mannesalter. Wien und Leipzig 1906

Dennison, G.: Lernen in Freiheit. Aus der Praxis der First Street School. Frankfurt a.M. 1971 (erstm. engl. New York 1969)

Klemm, U.: Leo Tolstois gewaltfreier Anarchismus. In: Graswurzelrevolution, Nr. 200/September 1995, S. 23/25

Morosow, W.: Erinnerungen eines Jassnopoljaner Schülers an Leo Tolstoi. Basel 1919

Tolstoj, L. N.: Die Schule von Jasnaja Poljana. Hg. von St. Blankertz. Westbevern 1976; erstm. russ. 1862; erstm. dt. 1907

Tolstoj, L. N.: Pädagogische Schriften, 2 Bände. Bd. 8 und Bd. 9 der Ausgabe Sämtliche Werke, I. Serie. Hg. von R. Löwenfeld. Jena 1907; Neuausgabe in 2. Bänden, Bd. 7 und Bd. 8 der Ausgabe Religions- und gesellschaftskritische Schriften. Hg. von P.H. Dörr. München 1994

Tolstoi, L.N. : Meine Beichte. Düsseldorf 1978a; erstm. russ. 1882

Tolstoi, L.: Tagebücher 1847-1910. 3 Bände. Hg. von E. Dieckmann. Berlin (Ost) 1978b

Tolstoj.: Rede gegen den Krieg. Hg. von P. Urban. Frankfurt a.M. 1983

Tolstoi, L. N.: Über Volksbildung. Hg. von U. Klemm. Berlin 1985; erstm. russ. 1862; erstm. dt. 1907

Wittig, H.E./Klemm, U. (Hg.): Studien zur Pädagogik Tolstois. München 1988

Anmerkungen

Der Artikel kann auch zur Vorbereitung auf den von Uli Klemm am 22. Juni im Rahmen des GWR-Kongresses angebotenen Arbeitskreis dienen.