30 jahre graswurzelrevolution

Graswurzelrevolution oder Empire?

Mit Hardt/Negri auf dem Weg zur transnationalen Revolution

| Fang

Die transnationale Revolution ist mir eine Herzenssache. Ich lasse mich gerne von einer revolutionären Begeisterung mitreißen, und der in der weltweiten Widerstandsbewegung vielerorts diskutierte Ansatz „Empire“ reißt mich mit: Michael Hardt und Antonio Negri sind libertär, auch wenn sie peinlich darauf achten, sich als Neomarxisten darzustellen und in alter marxistischer Manier den kapitalistischen Markt mitunter als „anarchistisch“ bezeichnen. Sie sind so sehr libertär, dass sie selbst um den Vorwurf wissen: „Ihr seid ein Haufen Anarchisten“ (S. 350 (1)), und sie verteidigen sich: „Einige mögen einwenden, dass wir die Staaten nicht zerstören, sondern sie erobern sollten. Aber wir müssen mit solchen Illusionen aufhören, die die sozialistische und kommunistische Tradition so lange heimgesucht haben. (…) Nein, wir sind nicht Anarchisten, sondern Kommunisten, die wissen, wie viel Repression und menschliche Opfer durch sowohl liberale als auch sozialistische Regierungen herauf beschworen wurden.“ (S. 349f.) Sei’s drum, so einen Kommunismus kann ich als Anarchist schon noch ab. Wenn sich alle KommunistInnen auf der Welt wie Hardt/Negri gleichzeitig auf Etienne de la Boétie, die Industrial Workers of the World (IWW) und den Heiligen Franz von Assisi stützen, dann werde ich auch noch Kommunist!

Noch eine Kostprobe? „La Boétie hat die politische Macht der Verweigerung erkannt, die Macht, uns selbst von den Bezügen der Herrschaft abzuschneiden, und durch unseren Exodus die souveräne Macht, die auf uns sitzt, zu unterminieren.“ (S. 204)

„Multitude“ als neues Subjekt der Geschichte

Wenn es auch nicht das zentrale Thema ihres Ansatzes ist, so legen Hardt/Negri doch viel Wert auf die ökonomische Analyse, die hin zu ihrer Analyse des Empire führt. Ich muss sagen, die ökonomischen Analysen von Hardt/Negri finde ich zwar interessant, aber darum streiten würde ich nicht. Sollen das doch die MarxistInnen unter sich ausmachen: ob sich nun „Proletariat“ dadurch definiert, dass damit alle gemeint sind, die vom Kapitalismus ausgebeutet werden und eben nicht nur die industriellen LohnarbeiterInnen, und ob es somit legitim ist, von der „Multitude“ als einem „neuen Proletariat“ zu sprechen? Geschenkt. Haben Hardt/Negri Foucaults Theorie der „Biomacht“ als „Produktion des Lebens“ falsch interpretiert und für ihre Zwecke instrumentalisiert? Ist mir nicht so wichtig. Ob es gerechtfertigt ist, von der Tätigkeit der KommunikationsarbeiterInnnen vor dem Computer von einer „immateriellen Produktivität“ zu sprechen? Schert mich nicht. Ob man/frau überhaupt vom tertiären Sektor, dem Dienstleistungssektor, als einem produktiven Sektor sprechen kann? Hm! Ob man/frau von „pflegender (affectionate) Arbeit“ als produktiver Arbeit sprechen kann, die heute, komplementär zur immateriellen Arbeit immer wichtiger werde, wie es Feministinnen für Be- und Erziehungsarbeit schon lange analysiert haben? Also, da würde ich eher mit ja antworten.

Dass sich die Arbeitsverhältnisse Ende des 20. Jahrhunderts radikal verändert haben, scheint mir offensichtlich. Hardt/Negri sagen, dass vor der industriellen Revolution die Landwirtschaft die Arbeitsverhältnisse dominiert habe und die bäuerliche Produktion noch lange die industrielle überformt habe (siehe die verstädterten Bauern als Basis des frühen Anarchosyndikalismus!). Als dann nach Hardt/Negri der industrielle Sektor die Produktivität dominiert habe, sei die Landwirtschaft industriell überformt worden, zum Teil sogar selbst industrialisiert. Und heute überformt nach Hardt/Negri der Kommunikations- und Dienstleistungssektor den industriellen.

Hardt/Negri gehen nun in marxistischer Manier davon aus, dass diese Übergänge historisch allesamt von den produktiven ArbeiterInnen eingeleitet und vollzogen wurden. Die Herrschaftsformen haben sich immer nur darauf konzentriert, wie dieser ungeheuer kreative, produktive Prozess der Arbeit so geformt, gesteuert und angeordnet werden kann, dass der Kapitalismus daraus Profite abschöpfen kann. In dem Moment, wo ein produktiver Prozess eine Grenze erreicht hatte, war es nach Hardt/Negri die produktive Arbeit, die diese Grenze überwunden hat. So hat nach Hardt/Negri in der Nachfolge Rosa Luxemburgs der kapitalistische Imperialismus seine Grenze mit der Ausweitung der kapitalistischen Produktion auf die ganze Welt erreicht. Dadurch bricht der Kapitalismus aber nicht zusammen, wie Luxemburg noch glaubte, sondern die produktive Arbeit hat sich eine neue Form gegeben: nicht mehr die disziplinierte Arbeit, die für den industriellen Imperialismus (ob Ost oder West) prägend war, sondern eben die kreative Arbeit der KommunikationsarbeiterInnen und die affektive Arbeit vielfältiger Dienstleistungen, die nach Hardt/Negri gar nicht mehr in Zahlen messbar ist, wie das Marx immer wieder versuchte. Daher auch die Möglichkeit des Neoliberalismus, prekäre und ungleiche Lohnverhältnisse durchzusetzen.

Empire ist nach Hardt/Negri die neue weltweite Herrschaftsform, die nach dem Ende des klassischen Imperialismus kein territoriales Außen mehr kennt und diese neue Produktivität so kontrolliert, dass sie weiter die immensen Profite abschöpfen kann. Einzig kreativ ist aber nicht Empire, sondern bleibt nach Hardt/Negri diese produktive Arbeit.

Dabei sind Hardt/Negri keine Arbeitsfetischisten. Entscheidend ist ihr Begriff der „Multitude“, deren Übersetzung mit „Menge“ im Deutschen mir irreführend erscheint. Hardt/Negri grenzen den Begriff explizit von homogenisierenden Begriffen wie „Volk“ oder „Nation“ ab. Und dadurch gibt es endlich wieder eine – von AnarchistInnen in den jüngsten Diskussionen der Linken so sehr vermisste – Vorstellung vom produktiven, kreativen Unten der Weltgesellschaft im Gegensatz zu einem unterdrückenden, statisch agierenden Oben (Empire). Bei „Multitude“ ist eher die „Vielheit“ gemeint, eine sich selbst in Wert setzende Vielfalt von Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, aus unterschiedlichen Kulturen, die ihre kreative Energie in die neuen Produktionsverhältnisse einbringen, dabei kooperieren, neue Kulturen hervor bringen, sich vermischen und sich den geforderten Imperativen des Empire auch immer wieder verweigern, entziehen. Die flexibilisierte Produktion von Empire braucht nomadisierende Menschen, aber der Nomadismus der modernen ArbeiterInnen entzieht sich gleichzeitig auch immer wieder der Kontrolle des Empire. Empire ist daher ständig in der Krise, und die „Multitude“ ist für Hardt/Negri gerade in ihrer Vielheit und hybriden, undurchschaubaren, unkontrollierbaren Produktivität das neue revolutionäre Subjekt, das Gegen-Empire.

Politische Souveräntität: was ist Empire?

Hardt/Negri lehnen es ab, den Nationalstaat in den Kämpfen der sogenannten „Dritten Welt“ immer wieder gegen die Macht der neoliberalen Multis in Stellung zu bringen. Das ist für uns AnarchistInnen zwar keine neue Erkenntnis, aber es tut so gut, solches einmal aus dem Munde von Neomarxisten zu hören. Es gibt nach Hardt/Negri im entstehenden Weltstaat kein Außen mehr und alle Nationalstaaten sind inzwischen korrumpiert. Daher ist kein Nationalstaat mehr fähig, irgendetwas Emanzipatives oder gar Ursprüngliches gegen den ihm angeblich äußerlichen Metropolenkapitalismus zu verteidigen. Ein ähnliches Verhältnis haben Hardt/Negri zum Sozialstaat. Abwehrkämpfe unterstützen sie zwar, aber sie haben für sie keine Perspektive. Das Gemeinschaftsfördernde („Common“), das einmal im Sozialstaat verborgen war, suchen sie heute woanders, in sozialen Netzwerken etwa, die dafür sorgen, dass ein Nomade im Ankunftsland abgesichert wird. Für die Zeit des Übergangs fordern sie ein soziales, garantiertes Einkommen für alle, fertig.

Für Hardt/Negri ist zwar der traditionelle Nationalstaat nicht mehr die Regelungsinstanz für das Kapital, aber damit ist politische Souveränität nicht untergegangen. Viele nationalstaatliche Funktionen und Aufgaben sind heute auf supranationale, staatenähnliche Institutionen übergegangen, seien es UN, IWF, EU, NATO und natürlich die USA, die Polizeimacht des Empire.

Neu ist m.E. deshalb Hardt/Negris Ansatz, die gegenwärtig entstehende Form weltweiter politischer Herrschaft als entstehenden Weltstaat zu denken und von diesem Gedanken her alles zu untersuchen. Hardt/Negri fordern dabei „global citizenship“ als Recht der NomadInnen von heute, zu leben und zu arbeiten, wo sie wollen oder wo ihre Flucht sie hinverschlagen hat und sie beziehen sich dabei auf die gegenwärtigen Bewegungen der „sans papiers“.

Hardt/Negri beschreiben den im Entstehen begriffenen Weltstaat als eine Pyramide, in der oben (wie früher der König) immer noch ein Nationalstaat hockt, nämlich die USA. Die USA reklamieren für sich nach Hardt/Negri die Polizeigewalt des Weltstaates. Die Kriege der neunziger Jahre bis heute beschreiben Hardt/Negri denn auch nur noch als Polizeieinsätze der USA im Auftrag weltweiter Aufrechterhaltung von Herrschaft. Es geht nicht mehr um territoriale Besatzung, sondern um Ruhigstellung von Konflikten und Krisen, um die weltweite Produktivität nicht zu gefährden. Es folgen in der Herrschaftspyramide nach unten die wichtigen Industriestaaten, die G7, sowie die mächtigsten multinationalen Konzerne der Welt, die ebenfalls politische Macht haben. Danach kommen die untergeordneten Nationalstaaten, die zwar in der UN Sitz und Stimme, aber keine Macht haben. Und mit ihnen folgen auch die unzähligen NGO’s (18000 weltweit zu Beginn der 90er Jahre), die Hardt/Negri zufolge äußerst widersprüchlich zu bewerten sind, bestenfalls als VerteidigerInnen von Leben und Basisrechten, und schlimmstenfalls als tentakelartige Fortsätze des Empire in die Multitude hinein, etwa wenn Interventionen von Menschenrechtsorganisationen in manchen Gegenden nur die Vorläufer einer militärischen Intervention bilden. Das alles basiert auf der Multitude, die sich somit im Empire kaum oder falsch repräsentiert fühlt. Das Bild der Herrschaftspyramide weckt auch hier Erinnerungen an de la Boétie, und Hardt/Negri sehen es als ihre Aufgabe, darin Risse und Möglichkeiten revolutionärer Veränderung zu sichten. Das Empire, die weltstaatlichen Instanzen, sind in dieser Darstellung immer unkreativ, unproduktiv, rein negativ. Empire ist im wesentlichen nichts als modernisierte Kontrolle, so dass die Kreativität der immateriellen und gemeinschaftsstiftenden Arbeit als Profit verwertet werden kann. Das würde Empire als Sammelsurium supranationaler juristischer Institutionen und militärischer Weltpolizeien nie schaffen, wenn es nicht zusätzlich eine Selbstdisziplin, eine Selbstunterdrückung innerhalb der Multitude geben würde, wenn die Menschen nicht die Logik des Weltmarktes selbst verinnerlicht hätten. Das einzelne Individuum schreckt vor einem Ausbruch eher zurück und passt sich selbst den Logiken des Empire an, aus Furcht vor Verarmung, Marginalisierung. Der Ausbruch ist nur kollektiv möglich und äußert sich in immer wieder kehrenden Revolten gegen Empire, gegen den Neoliberalismus, wie zuletzt etwa in Argentinien. Aber auch in Arbeitsverweigerungen und einem anderen Verhältnis zur Arbeit, wie es nach 1968 in den Metropolen typisch war. Revolution ist für Hardt/Negri deshalb nur noch transnational denkbar. Gegen weltweite Herrschaft kann es nur noch weltweiten Widerstand und die weltweite Revolution geben.

Es gibt viele Gemeinsamkeiten zu dem Transnationalismus-Ansatz des Libertären Nigel Young (2), der die Herrschaft der modernen Nationalstaaten gleichzeitig lokal untergraben wie transnational überschreiten wollte. Auch für Hardt/Negri war 1968 eine erste transnationale Erhebung gegen das entstehende Empire. Das arbeitsdisziplinäre Regime wurde kulturell durchbrochen, Nicht-Arbeit, Kreativität, Sinnlichkeit des Lebens waren Werte der Hippie-Generation, die die Imperative des damaligen industriellen Kapitalismus untergruben. Der Kapitalismus musste sich nach dieser neuen Produktivität der Multitude ausrichten und nicht umgekehrt. Wo das äußerlich aufoktroyierte Disziplinarregime aufrecht erhalten blieb, wie im staatssozialistischen Osteuropa, war es zum Tode verurteilt. Für Hardt/Negri wie für Nigel Young zeigte sich in den Revolten von 1968, sei es in Osteuropa, in Paris, in Mexico-City oder bei der Anti-Vietnambewegung ein neues transnationales, revolutionäres Subjekt. Die internationale Frauenbewegung, die internationale Ökologiebewegung führten dies fort. Auch 1989 läßt sich als transnationale Revolte in diesem Sinne deuten: es gab nicht nur Tienanmen in China und die Massenbewegungen in Osteuropa, auch Marcos wurde gestürzt, in Südafrika fand die klassische Apartheid ein Ende, ebenso die Militärdiktaturen in Lateinamerika. Den damaligen Begriff der „Peoples Power“ würden Hardt/Negri heute durch „Power of the Multitude“ ersetzen, aber ihre grenzüberschreitende Kreativität würden sie unterstreichen. Nach Hardt/Negri ist der Weltstaat eben erst im Entstehen, aber schon jetzt zeigen sich seine Schwächen, seine Krisen, seine Korruption, seine Machtlosigkeit gegen massenhafte Basisbewegungen. Empire hat nichts Attraktives mehr, wenn sich die Menschen einmal der Selbstdisziplinierung ihrer kreativen Arbeit entledigt haben und ihre hybride Kreativität entdecken, die in der Kraft grenzüberschreitender Aktion und Kommunikation liegt.

Natürlich ist das zu euphorisch. Es fragt sich, ob die Arbeit am Computer, die zentral für die neue Produktivität im Empire ist, die Menschen nicht eher voneinander isoliert als ihre Kooperation fördert. Trotzdem: Hardt/Negri bieten viele, oft provokative Thesen, mit denen man/frau sich als Libertäre/r fruchtbar auseinander setzen kann. Sie tragen zu einer libertären Vorstellung dessen bei, wie politische Herrschaft heute weltweit funktioniert und wie dagegen die Utopie der Revolution aktualisiert und aufrecht erhalten werden kann.

(1) Achtung, ich zitiere die englische Ausgabe! Hab’s in Englisch gelesen und nicht mit der dt. Ausgabe verglichen, die angegebenen Seitenzahlen sind sicher nicht mit der deutschen Übersetzung identisch.

(2) Vgl. Nigel Young: Transnationalismus und Kommunalismus, in: Wege des Ungehorsams. Jahrbuch für gewaltfreie & libertäre Aktion, Politik und Kultur I, Weber, Zucht & Co., Kassel 1984. Vgl. auch: Transnationalismus neu betrachtet. Denkversuche zur Überwindung des weltweiten Systems souveräner Nationalstaaten, in GWR 211, Sept. 1996, S. 15f.