medienschau

Sperre

Trau einer über dreißig!

Die systemkritische Zeitung Graswurzelrevolution hat Geburtstag

| Sperre, Monatsmagazin für Arbeit und Soziales

Wie ging doch gleich der Refrain von dem Lied, das wir in Gorleben, Wackersdorf und anderswo so oft, so laut und so falsch gesungen haben? "Unter dem Pflaster liegt der Strand - komm, reiß auch du ein paar Steine aus dem Sand"? So ungefähr jedenfalls. Mag sein, das ist eine Weile her. Mag sein auch, daß das damals gruppendynamisch geflügelte Gefühlsduselei war. Mag sein. Trotz alledem: Die tiefere Wahrheit, die hinter diesen schlichten Versen steckt, hat im Zeitalter der globalisierten Machtkartelle und der individualisierten Ohnmachtsperspektiven nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil! Das wissen natürlich auch die Macher der Graswurzelrevolution, einer antiautoritären, pazifistischen Monatszeitung, die seit nunmehr dreißig Jahren wider den Stachel der veröffentlichten Meinung löckt. Kein Wunder: Das Gras ist schließlich eine verdammt widerstandsfähige Pflanze. Und Graswurzeln finden immer ihre Nische. Am liebsten zwischen Pflastersteinen ...

Bernd Drücke, hauptamtlicher ‚Koordinationsredakteur‘ der deutschlandweit in einer Auflage von jeweils 3.500 bis 6.000 Exemplaren erscheinenden Graswurzelrevolution, hat eine Menge zu tun. Wer sein kleines, helles Büro im Dachgeschoß der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) am Breul 43 betritt, begreift das sofort: Bücher, Papiere, Manuskripte, wohin das Auge blickt. Regale, die sich unter ihrer lesenswerten Last biegen; Kartons, die vor purem, zu bedrucktem Papier gewordenen Wissen nur so überquellen; beängstigend hohe Zeitschriftenstapel in akrobatischer Schieflage. „Nur keine Bange“, lacht Drücke, „hier ist noch nie jemandem etwas auf den Kopf gefallen!“ Auf den Kopf gefallen ist auch Bernd Drücke nicht. Er ist Soziologe und Doktor der Philosophie. Seine 1997 verfaßte Dissertation beschäftigt sich mit dem Thema ‚Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland‘. Sie wird von Kritikern als „Meilenstein der deutschen Anarchismusforschung“ gewürdigt und ist inzwischen auch als Buch erhältlich (‚Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?‘, Verlag Klemm & Oelschläger, 1998).

Unlängst war Drücke in Hannover und hielt dort einen Vortrag über die Hintergründe und Perspektiven der Graswurzel-Bewegung. „Da“, erinnert er sich, „erzählte ein siebzehnjähriger Zuhörer: Er hatte mein Buch gelesen und so erfahren, daß sein eigener Vater damals bei der ‚Direkten Aktion‘ mitgemacht hat.“ Damals, das war Mitte der sechziger Jahre. Die ‚Direkte Aktion‘ mit ihren ‚libertär-pazifistischen Blättern‘ war der unmittelbare Vorläufer der Graswurzelrevolution. Und seinen Vater hatte sich der Siebzehnjährige kurzerhand gegriffen und in Drückes Vortrag mitgeschleppt. „Das war schon ein tolles Aha-Erlebnis“, schmunzelt der, „und es hat mich nochmal mit der Nase darauf gestoßen, über welch langen Zeitraum unser basisdemokratisches Projekt schon funktioniert.“ Die rasanten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen taten der Kontinuität des Graswurzel-Projektes keinerlei Abbruch. Wolfgang Zucht zum Beispiel, ehemals Herausgeber der ‚Direkten Aktion‘, ist noch heute im Herausgeberkreis der Graswurzelrevolution aktiv. „Unser Friedens- und Umweltprojekt“, so Drücke, „ist mit den Generationen gewachsen. Und umgekehrt.“ Von siebzehn bis siebenundsiebzig sind alle Altersgruppen in der Projektarbeit vertreten.

Die erste Augabe der Graswurzelrevolution erschien – inspiriert durch vergleichbare Anti-Atomkraft- und Anti-Kriegsbewegungen in England, Frankreich und den USA – im Sommer 1972. Die Ziele der Bewegung kann man schwarz auf weiß in ihrer Satzung nachlesen, die in jeder Graswurzel-Ausgabe abgedruckt ist: „Wir kämpfen für eine Welt, in der die Menschen nicht länger wegen ihres Geschlechtes oder ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeugung, wegen ihrer Behinderung, aufgrund rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert und benachteiligt werden. Wir streben an, daß Hierarchie und Kapitalismus durch eine selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesellschaft ersetzt werden.“ Machen sich da nicht – angesichts der weltweit eskalierenden zwischen- wie innerstaatlichen Kriege und angesichts der enormen normativen Kraft faktischer Globalisierungszwänge – Desillusionierung und Resignation bei den Graswurzel-Aktivisten breit? „Nein“, antwortet Bernd Drücke fest: „Wir sind uns bewußt, daß wir mit unseren Idealen einer gewaltfreien und herrschaftslosen Gesellschaft einen sehr langen und steinigen Weg eingeschlagen haben. Und auf langen, steinigen Wegen darf man vor allem eines nicht: sich entmutigen lassen!“

Die Graswurzelrevolution versteht sich als Sprachrohr für Gruppierungen der außerparlamentarischen Opposition und für soziale oder ökologische Interessen, die sonst kaum eine Chance haben, sich Gehör zu verschaffen. „Während des Jugoslawienkrieges beispielsweise haben wir in unserer Zeitung eine antimilitaristische Frauenorganisation aus Jugoslawien, deren Mitglieder dort unter großem Druck standen, mit ihren Forderungen nach einem sofortigen und bedingungslosen Friedensschluß zu Wort kommen lassen“, erzählt Bernd Drücke. Ein anderes Beispiel ist die alle drei Monate in deutscher und türkischer Sprache als Beilage der Graswurzelrevolution erscheinende ‚Otkökü‘, die neben sozialen und ökologischen Mißständen in Deutschland und der Welt eben auch die verquere Menschenrechtssituation in der Türkei auf’s Korn nimmt. Prompt wurde die erste ‚Otkökü‘-Lieferung vom türkischen Sicherheitsdienst beschlagnahmt. Drücke weiß um die Gefahren für Leib und Leben, denen Regimegegner in der Türkei und anderswo ausgesetzt sind: „Unser türkischer Redakteur saß dort wegen Kriegsdienstverweigerung zwei Jahre im Knast. Um ihn nicht weiter zu gefährden, versenden wir die ‚Otkökü‘ in die Türkei derzeit nur noch an Abonnenten.“

Bernd Drücke weiß aber auch um die ökonomischen Risiken, die die Graswurzelrevolution selbst mit ihrer systemkritischen Berichterstattung tagtäglich eingeht: „Unser Anzeigenaufkommen ist doch eher spärlich. Und während des Jugoslawienkrieges trudelten uns gerade von den Grünen, die ja bekanntlich für die Kriegsbeteiligung der Deutschen waren und sind, zahlreiche Abo-Kündigungen ins Haus.“ Umso mehr ist man auf ehrenamtliches Engagement, auf Abonnenten und natürlich auf Spenden angewiesen (Spendenkonto und weitere Infos: siehe Kasten). Finanzielle Engpässe sind etwas, womit die Graswurzelrevolutionäre im Laufe vieler magerer Jahre zu leben gelernt haben. Für Bernd Drücke jedoch kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken: “ Die Graswurzelrevolution wird dreißig Jahre alt, und das werden wir im Juni mit einem Kongreß und einem großen Fest ordentlich feiern!“ (Termine: siehe Kasten) Gab es da nicht mal so ein Lied? „Jetzt wollen wir feiern, sieben Tage lang“ …

Aus: Sperre, Monatsmagazin für Arbeit und Soziales, Juni 2002