Keine guten Zeiten für Revolutionäre: Der Sozialismus ist tot, die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die parlamentarische Demokratie haben einen weltweiten Siegeszug angetreten. Die Systemfrage stellt längst niemand mehr. Niemand? Nicht ganz, denn wenn man genau hinschaut, findet man auch heute noch Zeitgenossen, die an die Möglichkeit einer tief greifenden Veränderung der Gesellschaft glauben, die nahezu jede freie Minute für ihre Sache opfern und dabei auch den Konflikt mit den Staatsorganen nicht scheuen. Aber wo findet man die bloß? Man sollte es kaum glauben: im westfälischen Münster. In der beschaulichen Beamtenhochburg wird die Monatszeitung Graswurzelrevolution (GWR) herausgegeben, die seit 1972 einen gewaltfreien Anarchismus propagiert, der das kapitalistische System durch „Macht von unten“ in eine herrschaftslose Gesellschaft der Selbstverwaltung verwandeln soll. Das 30-jährige Bestehen feierten die Macher unlängst mit einem Party- und Kongresswochenende.
Ansätze zur Polit-Kritik sieht die Graswurzelrevolution auch in Zeiten, da eine rot-grüne Bundesregierung das Land führt – denn das Blatt und die dahinter stehende Bewegung verstehen sich als Kritik des Parlamentarismus überhaupt. Macht korrumpiert nach ihrer Theorie immer, weswegen sie die Parteien durch basisdemokratische Netzwerke ersetzt wissen wollen. Im aktuellen Doppelheft Sommer 2002 wird die bisherige Arbeit der Regierung Schröder komplett verrissen: „Kein Atomkraftwerk geht auch nur einen Tag früher vom Netz“, „Polizei- und Überwachungsapparate werden aufgerüstet“, „Deutschland führt Kriege“, heißt es zur Begründung der „Keine-Wahl-Kampagne“. Die Artikel sind lang, teilweise trocken geschrieben und mit Fußnoten versehen. Sie kommentieren das politische Geschehen im In- und Ausland aus konsequent systemkritischer Perspektive – seien es Bush-Besuch in Deutschland, brennende Synagogen in Frankreich oder Friedensverhandlungen in Kolumbien.
Auch organisatorisch ist bei der Graswurzelrevolution manches anders als bei herkömmlichen Zeitungen: Alle Redakteure fungieren gleichzeitig als Mitherausgeber. Und der Chefredakteur soll hier kein Chef sein – er heißt daher „Koordinationsredakteur“ und wird, ebenso wie der Erscheinungsort, alle drei bis fünf Jahre gewechselt. Seit 1998 laufen die GWR-Fäden bei Bernd Drücke zusammen. Der 36-jährige promovierte Soziologe ist im Hauptberuf Lehrbeauftragter an der Uni Münster, aber die meiste Zeit steckt er in die Koordination der Graswurzelrevolution. „Das kann schon mal zu einer 60-Stunden-Woche führen“, sagt Drücke, der im Stadtzentrum von Münster in einem ehemaligen Arbeiterhaus wohnt, mit Blockheizkraftwerk im Keller und Regenwasser-Auffanganlage auf dem Dach. Sein Büro liegt ein paar Meter weiter in derselben Straße – ein etwa 20 Quadratmeter kleines Zimmer unterm Dach. Hier stapeln sich Literatur- und Zeitschriftenberge, hier befinden sich die beiden Computer, an denen Drücke im Alleingang die Artikel redigiert und das Layout der Zeitung gestaltet.
Redaktionssitzungen finden nur alle zwei Monate statt, immer an verschiedenen Orten in Deutschland. Der Hauptteil der Kommunikation läuft über das Internet und über das Telefon. Hat ein Autor eine Artikelidee, reicht er einen Entwurf bei Bernd Drücke ein, der diesen dann via Mail an die anderen Redakteure weiterleitet. Basisdemokratie radikal: Denn gibt es innerhalb der 20 bis 30 Redakteure, die über das ganze Bundesgebiet verteilt sind, auch nur eine einzige Stimme gegen die Veröffentlichung eines Artikels, dann muss diskutiert werden. Ausführlich. Drücke ruft in der Regel den Autor an, teilt die Bedenken mit, wägt die Positionen gegeneinander ab. Manchmal erscheint ein strittiger Artikel dann gar nicht, oder man behandelt das Thema in Form eines zweigeteilten Pro-und-Contra-Beitrages, wie kürzlich bei der Kontroverse um die Gründung eines Palästinenserstaates.
„Das ist so ein Beispiel, wo man mit guten Gründen sowohl die eine als auch die andere Position vertreten kann“, meint Drücke, der die undifferenzierte Einseitigkeit als die große Schwäche der herkömmlichen „staatsnahen“ Medien empfindet. Aber glauben die Graswurzelrevolutionäre wirklich, dass sie mit ihrer zuweilen als „Bleiwüste“ karikierten Zeitung eine Chance haben, die auf inhaltslosen Christiansen-Smalltalk gedrillte breite Öffentlichkeit zu gewinnen? Bernd Drücke räumt ein, dass die GWR – die in einer Auflage von 4000 Stück erscheint und überwiegend von Abonnenten bezogen wird – zunächst nur Leser erreiche, die ohnehin die dort vertretenen Positionen teilten. Doch er setzt auf das Schneeballprinzip: „Ein guter Gedanke kann sich manchmal auf ungeahnte Weise weiterverbreiten.“
Dabei scheint ihm bewusst zu sein, dass ein Projekt wie die GWR nur als Opposition funktionieren kann – als herrschendes Leitmedium würde sie sich schließlich selbst ad absurdum führen. Die Notwendigkeit einer wirkungsvollen außerparlamentarischen Bewegung sieht Drücke „größer denn je“, obwohl er es bemerkenswert findet, dass einige Bundestagsabgeordnete der PDS, der Grünen und sogar der SPD noch Abonnenten der GWR seien. Deutlich abgekühlt ist besonders das einst enge Verhältnis zu den Grünen: „Die sind ja im Grunde weder basisdemokratisch noch ökologisch noch sozial.“ Aber auch der PDS kauft Drücke ihr neues Friedens-Image nicht so recht ab: „Wenn die mit an der Regierung wären, würden die auch sofort staatstragend werden.“ Die nächsten 30 Jahre GWR können also anbrechen.
Michael Ridder
Serie „Wildwuchs“: In loser Folge stellen wir außergewöhnliche Zeitschriften vor.
Aus: Frankfurter Rundschau, 10. Juli 2002, S. 19