Es war einmal…
„Ich bin der festen Überzeugung, dass deutsche Soldaten dort, wo im Zweiten Weltkrieg die Hitler-Soldateska gewütet hat, den Konflikt anheizen und nicht deeskalieren würden.
Wenn sich die Deutschen erst einmal militärisch einmischen, wird es völlig andere Reaktionen geben. All diese Einsätze und die Debatten darum werden von der [Kohl-, WK] Bundesregierung als Türöffner benutzt. Das vereinigte Deutschland soll in seinen außenpolitischen Optionen voll handlungsfähig gemacht werden.
Ich wäre froh, wenn die, die das wollen, sich wenigstens nicht andauernd hinter der Humanität verstecken würden, um eben diese Position durchzusetzen.“
Joschka Fischer, aus einem Streitgespräch Joschka Fischers mit Daniel Cohn-Bendit, taz 30.12.1994.
„Unter dem Deckmantel supranationaler Organisationen wie Nato, WEU, EU findet derzeit der Rückfall ins 19. Jahrhundert statt. Was ich im Moment sehe, sind massive Bestrebungen in Deutschland für größeren militärischen Handlungsspielraum … Das ist mein großes Problem, wenn ich sehe, wie die Bundesregierung den Bundestag an der Nase, an der humanitären Nase, in den Bosnienkrieg führen will…“
Joschka Fischer, „Analyse der deutschen Außenpolitik“, 1994
Heute
„Wir haben unsere amerikanischen Freunde nicht zu kritisieren.“
Joschka Fischer in einer Rede anlässlich der Bombenangriffe der USA auf Afghanistan, 2001
Viele 68erInnen und Ex-KommunistInnen, die 1980 und später auf den losfahrenden Parteizug der Grünen aufgesprungen sind, sprachen damals in Anlehnung an Rudi Dutschke von einem „langen Marsch durch die Institutionen“. Als Ziel wurde damals noch die grundlegende Veränderung des Systems durch parlamentarische Beteiligung genannt. Am Beispiel der Grünen kann exemplarisch gezeigt werden, dass genau dieses Ziel durch parlamentarische Politik nicht verwirklicht werden kann. Geworden ist daraus ein „Sprint“ zur parlamentarischen Integration ins System, der seines gleichen sucht und zum Beispiel den historischen Prozeß der Systemintegration der SPD, der immerhin vierzig Jahre (von den 1870ern bis 1914) dauerte, glatt in den Schatten stellt.
Bei einer libertären Analyse des Parlamentarismus ist wichtig festzuhalten, dass solche Parlamentarisierungsprozesse strukturell bedingt sind, unabhängig von den jeweils auftretenden Individuen. Die Personen sind Charaktermasken der parlamentarischen Struktur, sie geben dem Entwicklungsprozess sicherlich eine unverwechselbare Note, aber sie sind letztlich nicht entscheidend. Entscheidend sind die strukturellen Prozesse. Persönlicher Hass oder gar Neid etwa auf Joschka Fischer oder andere Realos ist deshalb noch lange keine radikale und libertäre Parlamentarismuskritik, verführt gar zu der Illusion, mit einer anderen dominanten Person oder Strömung wäre eine systematische Parlamentarisierung der Grünen zu verhindern gewesen. Wäre sie nicht, sie hätte nur anders ausgesehen, hätte ein anderes individuelles Gesicht bekommen! Wer sich in der Kritik allein auf einzelne PolitikerInnen und ihren angeblichen Verrat früherer Positionen kapriziert, hat noch nicht den Schatten radikaler Parlamentarismuskritik erfasst, die eine Kritik parlamentarischer Strukturen sein muss!
Grundpfeiler Gewaltfreiheit
Erinnern wir uns an die Anfänge: weil die direkte gewaltfreie Aktion damals als Alternative zu perspektivlos gewordenen militanten Zaunschlachten in der Anti-AKW-Bewegung erschien, übernahmen die Grünen das Wort „gewaltfrei“ als eines ihrer vier Grundprinzipien. Sehr schnell aber ging es bei der grünen Gewaltfreiheit nicht mehr um direkte gewaltfreie Aktion als Kampfmittel einer außer- und antiparlamentarischen sozialen Bewegung. Spätestens nach der Friedensbewegung der achtziger Jahre, wo sich grüne Ortsgruppen noch an direkten Aktionen wie etwa Blockaden von Militäreinrichtungen beteiligten, wurde in den grünen Diskussionen „gewaltfrei“ von „Aktion“ getrennt. Dadurch wurde ein Verständnis von Gewaltfreiheit ins Abseits gedrängt und schließlich vergessen, das aus der anarchistischen Bewegung herrührte und ihre Bedeutung als Kampfmittel hervor hob (Clara Wichmann z.B. nannte sie „Gewaltlosigkeit als Aktionsmittel im revolutionären Kampf“, Pierre Ramus „sozialwirtschaftliches Kampfmittel“, Tolstoi „passiver Widerstand“, Gandhi „Festhalten an der Wahrheit“). „Gewaltfreiheit“ war in dieser Sicht überhaupt nicht an den Parlamentarismus gekoppelt und war als revolutionäres Kampfmittel ein Gegenkonzept zum Reformismus. Gewaltfreie Aktion wurde noch in den siebziger Jahren von den ersten Graswurzel- und gewaltfreien Aktionsgruppen praktiziert, gerade weil sich reformistische Wege (etwa unter der Brandt-Regierung seit 1972) als unfähig zu radikaler Gesellschaftsveränderung erwiesen hatten. Durch die Trennung der Gewaltfreiheit von der Aktion konnten die Grünen den Begriff mit neuen Inhalten aufladen und von ihrer unabdingbaren Verbindung mit sozialen Bewegungen abkoppeln. Bald wurde „Gewaltfreiheit“ von vielen Grünen – etwa von Antje Vollmer in den achtziger Jahren – so verwendet, dass plötzlich auch die Diskussion in den Parlamenten als „gewaltfrei“ bezeichnet wurde, während sie in der anarchistischen Tradition als Beteiligung an der Staatsgewalt abgelehnt wird.
Schließlich dient die angeblich „gewaltfreie“ Diskussion in den Parlamenten nur dazu, Abstimmungen z.B. über Haushaltsmittel für Polizei und Militär vorzubereiten – aus anarchistischer Sicht eine gewaltsame Politik.
Diese ideologische Verwässerung der Grünen setzte sich in den achtziger Jahren fort mit einer immer wieder aufflackernden Diskussion um die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Ab einem bestimmten Punkt der Parlamentarisierung einer Partei ist es unumgänglich, das staatliche Gewaltmonopol anzuerkennen.
Wie das geschieht, ist aber egal. In der Regel erfolgt das erst praktisch, bevor dann die üblichen ideologischen, immer kontrovers geführten Diskussionen folgen. Meist bricht die innerparteiliche Diskussion über solche Themen ergebnislos ab, während sich die Praxis durchsetzt und damit die Inhalte bestimmt. Eine strukturelle Kritik würde das die „normative Macht des Faktischen“ nennen. So konnten die Fundamentaloppositionellen innerhalb der Grünen lange Zeit Abstimmungssiege auf Parteitagen erringen, der parlamentarische Integrationsprozess der grünen Partei jedoch gleichzeitig ständig voran schreiten. Individuell ist es keineswegs eine logische Konsequenz, dass nur die damaligen BefürworterInnen des Gewaltmonopols heute als Grüne in der Regierung sitzen: ein Otto Schily etwa trat damals aus den Grünen aus und der SPD bei, weil er meinte, die Realos hätten in der damaligen innerparteilichen Diskussion verloren; während Ludger Vollmer heute als Staatssekretär im Außenministerium Kriegseinsätze propagiert und den Pazifismus diffamiert oder ein Jürgen Trittin einen staatskonformen Atomkompromiss vertritt, die damals beide gegen die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols argumentierten.
Als die Grünen nach ihrer Regierungsbeteiligung seit 1998 nicht weniger als drei (!) Kriegen (Kosovo, Mazedonien, Afghanistan) zugestimmt hatten, schafften sie in einem Akt heroischer Ehrlichkeit endlich das ideologische Standbein „Gewaltfreiheit“ auch in ihrem Programmstatut ab. Die Idee und damit das gesellschaftliche Ziel wird zuletzt einer Praxis geopfert, die längst andere Mittel benutzte und damit selbstverständlich auch andere Ziele verfolgte.
Die „Antiparteien-Partei“
Der gleiche Sprint beim Grundpfeiler „Basisdemokratie“. Der Zusatz „Basis“ implizierte bei den Grünen zwar nicht unbedingt eine anarchistische Alternative zur parlamentarischen Demokratie, wie sie von manchen AktivistInnen in den sozialen Bewegungen interpretiert wurde. Aber Basisdemokratie beinhaltete auch bei den Grünen anfangs Elemente, die mit der parlamentarischen Struktur unvereinbar waren: imperatives Mandat, Rotation der Gewählten nach halber Legislaturperiode (ja, ganz am Anfang sogar die Auflage, Abgeordnete nach einmaliger Erfüllung ihrer Funktion nicht wieder wählen zu können), keine Ämterhäufung, inhaltliche Demokratie statt parlamentarischem Personenkult (kein Entstehen einer Politikerkaste), Wahlkampf mit Inhalten und ohne Porträts von Personen, Versuche Konsens- statt Mehrheitsentscheidungen zu treffen. Damit fingen die Grünen selbst bewusst als „Antiparteien-Partei“ (Petra Kelly) an. Aber sie mussten notwendig Stück für Stück basisdemokratische Elemente aufgeben, weil sie der parlamentarischen Praxis als Hindernis im Weg standen. Ideologisch hiess es dann, Basisdemokratie sei nicht realitätstüchtig, nicht realistisch, nicht effektiv. Und richtig: im Parlament kann Basisdemokratie allerdings nicht effektiv sein. AnarchistInnen setzten dagegen: nur im Parlament funktioniert Basisdemokratie nicht, außerhalb sehr wohl und belegten das mit vielen Beispielen aus Geschichte und Gegenwart (von Rätesystemen aller Art bis zu Entscheidungsstrukturen in Kommunen). Ironie des grünen „Sprints“ durch die Institutionen, einem geradezu rasanten Parlamentarisierungsprozeß von radikaler Opposition zur Regierung innerhalb von nur zwanzig Jahren, die viel mit der Zeitknappheit und Schnelligkeit der Abläufe zu tun hat: wie wohl kaum eine andere Partei sind die Grünen heute auf Gedeih und Verderb an die Popularität und die Führungsstärke der Person gebunden, die sich durchgesetzt hat: Joschka Fischer. Aus der Antiparteien-Partei und der Ablehnung des Personenkults ist geradezu eine „Führer-Partei“ geworden, deren Existenz auf „Gedeih und Verderb“ an die Person Fischers gekoppelt ist! Interessant ist dabei ebenfalls: in der bürgerlichen Presse wurde im Wahlkampf über viele grüne Defizite diskutiert, um Rot-Grün zu schwächen; Skandale wurden herbei zitiert über grüne Miles & more – aber über dieses ganz offensichtliche Faktum, über die innerparteiliche Degeneration dieser Partei zu einer „Führerpartei“, dominiert von einer Person wie sonst keine andere Partei (und zwar trotz eines absolut gegenteiligen Gründungsprogramms!), und welche strukturellen Ursachen das haben könnte, wird nicht diskutiert, auch bei den Grünen nicht (im Falle der PDS wird sogar öffentlich bedauert, dass eine ähnlich populäre Führungsperson, Gregor Gysi, nun abtritt). Die Partei, die den Personenkult innerhalb der Partei abschaffen wollte, hat ihn heute auf die Spitze getrieben! Gibt es ein größeres Desaster, einen schlagenderen Beweis für die Vergeblichkeit, über Parlament und Parteienpolitik Strukturen radikal ändern zu wollen?
Wie bei allen Parlamentarisierungsprozessen gab es auch bei den Grünen im Laufe ihres Sprints durch die Institutionen einen strömungspolitischen Ausleseprozeß: zunächst gab es eine ökosozialistische Strömung (Trampert/Ebermann oder die GAL Hamburg), eine radikalökologische Strömung (Dithfurt/Zieran, Ortsverband Frankfurt), eine ökofundamentalistische Richtung (Bahro, trat 1984 aus) und eine realpolitische Strömung (Fischer, Schily). Da der Parlamentarismus als Institution immer dem sogenannten Konzept der „Realpolitik“ entspricht und nur diese Tendenz fördert, während alle anderen Tendenzen in seinem Rahmen dysfunktional und unrealistisch sind, setzen sich in der Regel bei Parlamentarisierungsprozessen von Parteien realpolitische Strömungen gegenüber ihrer radikaleren innerparteilichen Konkurrenz durch (faktisch, aber lange Zeit nicht bei innerparteilichen Abstimmungen!). Mitte/Ende der achtziger Jahre blieben bei den Grünen die sogenannten „Fundis“ und „Realos“ übrig, bei deren gnadenlosem Taktieren in vielen Auseinandersetzungen sich letztlich mit Notwendigkeit die Realos unter Fischer durchsetzten. Bei den Parteiströmungen, die solche Auseinandersetzungen verlieren, wird die dann folgende Parlamentarismuskritik dadurch verwässert und entradikalisiert, dass sie ihr Scheitern nicht dem parlamentarischen Parteiensystem anlasten, sondern es bestimmten Personen zuschreiben. Bestimmend wird allzu oft der persönliche Neid, gespeist aus der Frustration, die (auch nur in ihren Augen) entscheidende Abstimmung verloren zu haben (nachdem man/frau vorher zigmal gewonnen hat!). Die Kritik spezieller Personen ersetzt so die radikale Kritik der Struktur des Parlamentarismus. Verkannt wird, dass in Parlamentarisierungsprozessen immer und mit Notwendigkeit irgendwann ein „Joschka Fischer“ auftritt, der sich als Realo dann auch durchsetzt, wie immer er auch heißen mag. Deshalb gingen erschreckend viele gescheiterte Ex-Grüne wie Jürgen Reents (und andere aus der Mehrheitsfraktion des früheren Kommunistischen Bundes) zur PDS, wo sie nur mit denselben Strukturen konfrontiert werden, oder gründeten neue Parteien wie Jutta Ditfurth zum Beispiel die „Ökologische Linke“, die sich derzeit an kommunaler Parlamentspolitik beteiligt.
Bei der PDS sind genau dieselben strukturellen Mechanismen am Werk. Der realpolitische Flügel um Gregor Gysi und Lothar Byski (heute Gabi Zimmer) hat sich gegenüber angeblich fundamentalistischen Flügeln um Sahra Wagenknecht oder Winfried Wolf bei allen wichtigen Fragen, von der Regierungsbeteiligung in Bundesländern wie Sachsen-Anhalt oder Berlin über die Zustimmung zu militärischen Einsätzen unter UN-Flagge faktisch durchgesetzt.
Veranstaltungshinweis
13.9.2002, 19 Uhr: KEINE WAHL-Veranstaltung mit Bernd Drücke und Daniel Korth (GWR) im Buchladen "Andere Seiten", Brunnenstraße, 28201 Bremen