anarchismus

Drei Stunden Arbeit sind genug…

...für den anarchistischen Menschheitsfrühling.

| Georg Fischer

Notizen zum Workshop "Die Neuschöpfung der Gesellschaft" auf dem 30 Jahre-GWR-Kongress in Münster (21.-23.6.).

Pierre Ramus (1882-1940) berechnete nach dem 1. Weltkrieg aufgrund der volkswirtschaftlichen Statistiken, dass in einer „kommunistischen Anarchie“ für die materielle Existenzsicherung jedes Menschen die Produktionsergebnisse aus drei Stunden selbstbestimmter Arbeit genügten. Der Lebensweg von Ferdinand Groß (1908-1998), Fabrikarbeiter und selbst als KZ-Häftling gewaltfreier Anarchist, orientierte sich an den Vorstellungen des Pierre Ramus, dessen wichtigsten Schriften er in seiner Zeitschrift „BEFREIUNG“ nachdruckte. Das Weltbild dieser beiden Menschen bildete den Hintergrund eines Workshops auf dem 30-Jahre-Geburtstagsfest der GWR, dessen Ziel es war, die Übertragbarkeit der Ramus-Vorstellungen auf heute zu diskutieren.

Fünf essentials der neuen Gesellschaftsordnung

Weil Menschen grundsätzlich in solidarischen Austausch ihr persönliches Glück erstreben, würden sie freiwillig sicherlich jene gesellschaftlich notwendige drei Stunden Arbeitszeit aufbringen, mit der alle lebensnotwendigen Dinge produziert werden können. Dies umso mehr, als jedeR sich aussuchen kann, wo und wann er arbeitet – und keinen Sanktionen ausgesetzt ist. Die darin glaubensmäßig vorausgesetzten anthropologische Grundannahmen (der Mensch ist nicht des Menschen Wolf und er schafft sich selbst in seiner Arbeit) werden freigesetzt in einer, durch den gewaltfreien Revolutionsprozess geschaffenen anarchistischen Gesellschaft. Deren Prinzipien und Strukturen beschrieb Pierre Ramus 1923 folgendermaßen: „Anarchie ist somit die Gesellschaft ohne Staat, die Ordnung und Organisation des individuellen, sozialen und kollektiven Lebens laut dem übereinstimmenden Gutdünken der Beteiligten, ohne die Zwangsgewalt irgend einer äußeren Macht einzusetzen“.

„Die Abschaffung des staatlichen Geldes im Bereich der kommunistischen Anarchie macht deren Gemeinde erst in Wahrheit unabhängig vom kapitalistischen Markt wie vom Staat. Das vorhandene Geld der Mitglieder der neuen Gemeinde bildet einen Fond für den Übergang. Ramus hofft, dass durch die schwindende Macht des Staates und des Kapitalismus Geld immer weniger anerkannt und so entwertet wird.

„Sämtliche Produktionsmittel der Gesellschaft gehören von nun an den einzelnen tatsächlichen Produzenten. Jedes, über die persönliche beziehungsweise familiäre Gebrauchsmöglichkeit hinaus gehende Eigentum wird als unrechtmäßig erklärt, als herrenloses Gut, über welches die Gemeinschaft ihre Verfügungen treffen wird.“

Die Vereinigungen beruflicher, fachlicher, gewerkschaftlicher, künstlerischer, wissenschaftlicher, moralischer Art bilden die wesentliche Struktur des Fundaments der neuen, freien Gesellschaft. Es gilt die freie Bei- und Austrittsmöglichkeit jedes Mitglieds einer solchen Gruppe. Das aus ihr ausscheidende Individuum bleibt im vollen Besitz des Gebrauchsrechtes auf die individuell nötigen Produktionsinstrumente, seine Existenzgrundlage ist völlig sichergestellt.

Anstelle von Gesetzen, die von Menschen über Menschen verhängt werden, treten freie Vereinbarungen unter ihnen, die wirklich frei sind, weil sich Gleiche zusammenschließen, ohne von Not, Zwang, Ohnmacht getrieben zu sein.

Eine wichtige Funktion kommt dem „Arbeitsrat für kommunale Statistik“ zu, um Bedürfnisse und notwendige Arbeitsleistungen statistisch zu ermitteln, da die Steuerung über kapitalistische Marktgesetze und Geld wegfällt. Aber auch dieser Rat hat keine Verfügungsgewalt.

Weitere Organe der Gesellschaft sind die Fachgruppen der Produktivgilden, Arbeiterversammlungen und gewählte Betriebsräte. Hinzu kommen die freien Volksversammlungen als Meinungs- und Aktionsausdruck der Gruppen, sowie der Rätekonvent aus Delegierten mit imperativem Mandat, der sich aus verschiedenen Gruppen und Gilden einschließlich ihrer Minoritäten zusammensetzt. „Seine Aktivität ist zumeist die der Anregung, selten die der Ausführung. Seine Beschlüsse dürfen nicht legislativ wirken“.

Seine „Neuschöpfung der Gesellschaft“ formulierte Ramus auf dem Hintergrund der Entwicklungen bis zum Ende des 1. Weltkrieges. Er hob die Bedeutung der Landwirtschaft und gesicherte Ernährung hervor und sah im städtischen Leben ein „Unding“, denn die Menschen in Ballungszentren und unter der Lohnarbeitssklaverei der Massenproduktion verlieren den Kontakt mit den natürlichen Vorgängen.

In einer gewaltfreien anarchistischen Gesellschaft würde das Leben in überschaubaren freiwilligen Großdörfern organisiert. Statistisch gesehen sollten je 10.000 Menschen ihre weitgehende ökonomische Unabhängigkeit organisieren. Vom Produktionsergebnis der 7000 je drei Stunden täglich ihre Arbeitskraft einbringenden Menschen, kann solch ein Großdorf nicht nur selbstbestimmt und weitgehend autark existieren, sondern (statistisch auf der Grundlage Österreichs berechnet und übertragbar auf alle Zusammenschlüsse) sogar für 12000 Menschen die lebensnotwendigen Dinge für Essen, Kleiden, Wohnen und Kommunizieren schaffen.

Das Land würde wie eine Gartenstadt mit landwirtschaftlichen Familienbetrieben für die Selbstversorgung eingeteilt sein und daneben allgemeines Ackerland für die soziale Arbeit in der Landwirtschaft zur Verfügung stellen, wo der Anbau für die Grundnahrungsmittel gemeinschaftlich betrieben wird.

Die Stadt würde zweckmäßig in Stadtteile für die einzelnen Produktivgilden der Kommune aufgeteilt und vor allem Zentrum der industriellen Arbeit bleiben. Die Industrie soll vor allem der „Ergänzungsbehelf der Agrikultur“ werden. Aufgrund des Wunsches nach gesunden Essen würde im Frühjahr und Sommer vorwiegend landwirtschaftlich auf dem Land, im Winter eher in der Stadt zu arbeiten sein.

Ein Diskussionsstrang im Workshop war logischerweise, wie sich diese statistischen Durchschnittswerte praktisch auswirken würden. Ebenso selbstverständlich war, dass weder alle Dimensionen angesprochen, noch die 1:1-Übertragung von 1920 auf 2002 möglich werden könne. Im besten Sinn der anarchistisch-freien Selbstbestimmung wurden in den Kleingruppengesprächen die Ansichten der Beteiligten ausgetauscht und je nach Gustus in konkrete kleine oder größere Schritte oder Ideen umgesetzt.

Einige davon, die jedeR für sich und gemeinsam mit anderen bedenken kann.

Wie sieht wohl der revolutionäre Prozess aus, in dem die zahlreichen Minoritätsgruppierungen, die selbständig die soziale Expropriation, die Neuorganisierung und Neuregelung der Produktion und Verteilung im Eigenbereich vollführen?

Wie kann das „spirituelle Moment“, das Ramus mit seinem Verweis auf Leo Tolstoj betont, in den kommunitären Beziehungen zwischen den Menschen befriedigend eingebracht und für die Neuschöpfung wirksam werden?

Helfen Theorie und Umsetzungsmodelle die wir von Tauschringen kennen, um die ökonomischen Beziehungen zwischen den dann in den Großdörfern relativ autark lebenden Menschen zu den aus anderen Großdörfern oder Produktionsstätten benötigten Dinge zu regeln?

Entstünden nicht Wartelisten nach Art der DDR-Trabi-Zuteilung für solche Güter, die sich jedeR in Selbstorganisation (also zusätzlich zu den 3 Stunden) erarbeiten kann, weil sie nicht zum (im Konsens bestimmten) Grundbedarf gehören und nicht im eigenen Großdorf produziert werden?

Können die lebensreformerischen und antipädagogischen Ideale, die Ramus und Groß vor 100 Jahren vertraten, heute noch Ziele sein?

Wird sich die Abschaffung des Staates und radikale „Entmilitarisierung“ der Gesellschaft gegen die Machtinhaber und Entscheidungstreffenden durchsetzen lassen?

Haben wir mit der elektronischen Kommunikation und den Massenmedien nicht eine Gesellschaftssituation, die eine Umgestaltung nach Ramus-Ideen verunmöglicht?

Lassen sich die internationalen Probleme (Welternährung, Umweltverschmutzung, Ressourcenbegrenztheit, Kulturaustausch) mit dem Modell neu denken und möglicherweise lösen?

Wie komme ich persönlich von der Theorie zum nächstliegenden praktischen Schritt, der mich heute und morgen weiterbringt zu Ramus „befreienden Menschheitsfrühling“?

Ein Stück Mut und Freude für diese Wege und Ziele machte der Kongress, unterstützend dazu schrieb Ramus seine Überzeugung auf:

„Es gibt nichts, was eine beliebige Anzahl Menschen, klein oder groß, hindern würde oder könnte, zum kommunistischen Anarchismus überzugehen, wenn sie geistig reif für die Befreiung ist.“