nachruf

„Ich wurde Künstlerin, weil es für mich keine Alternative gab“

Über Leben und Werk von Niki de Saint Phalle

| Pati Bellenberg

Am 21.Mai 2002 verstarb die Künstlerin Niki de Saint Phalle im Alter von 72 Jahren. Das jahrzehntelange Arbeiten mit dem Werkstoff Polyester hatte schon seit vielen Jahren ihre Gesundheit angegriffen, immer wieder hatte es Wochen und Monate gegeben, in denen sie sich aufgrund von Asthma und rheumatischer Arthritis kaum zu bewegen vermochte: „Ausgerechnet das Material, mit dem ich am liebsten arbeite, ist absolut mein Todfeind“ (*).

So wie ihr Tod untrennbar mit ihrer Kunst verbunden ist, so gab es auch in ihrem Leben keine Trennung zwischen ihrem radikalen und vielschichtigen Werk und ihrer Person: jeder neue Lebensabschnitt wurde durch oftmals umfassende Stilwechsel in ihrem künstlerischen Schaffen gekennzeichnet.

Marie Agnes de Saint Phalle wurde am 29.10.1930 in Paris geboren, „ein Kind der Depression“, wie sie selbst über sich sagte. Der Vater stammte aus dem französischen Landadel („Die dreizehntälteste Familie Frankreichs!“), war Bankier und hatte im Börsenkrach von 1929 soeben sein gesamtes Vermögen verloren, die Mutter war Amerikanerin großbürgerlicher Herkunft, so dass Niki, wie sie schon seit frühester Kindheit genannt wurde, in verschiedenen Kulturen, jedoch stets in „gehobener Gesellschaft“ aufwuchs. Während des Faschismus lebte die Familie in Amerika, dann wieder in Frankreich, zum Teil lebte Niki bei den Großeltern, anschließend wieder bei den Eltern oder im Internat. Ihre Kindheitserfahrungen, wie der alltägliche Rassismus, den sie in Amerika erlebte, eine strenge und katholische Erziehung durch die Eltern, die interne Gewalt in der Familie unter Wahrung des äußeren Scheins, die Konfrontation mit stereotypen weiblichen Rollenklischees, sowie verschiedene Konfessionsschulen, und ein Klosterinternat legten den Grundstein für ihr späteres Schaffen. Das einschneidendste Erlebnis aber war der Missbrauch durch den Vater im Alter von 11 Jahren. „Ich wollte meinem Vater verzeihen, dass er mich, als ich elf Jahre alt war, zu seiner Geliebten zu machen versuchte. Ich fand nur Wut und leidenschaftlichen Hass in meinem Herzen.“

Bevor sich Niki de Saint Phalle der schaffenden Kunst zuwandte, arbeitete sie zunächst sehr erfolgreich als Model, und war auf den Titelseiten der wichtigsten Modezeitschriften der frühen 50er Jahre zu sehen. Sie nahm Schauspielunterricht, heiratete ihren ersten Mann, Harry Matthews, und bekam 1951 und 1955 ihre Kinder Laura und Philip. Zu dieser Zeit erlitt sie jedoch auch einen schweren Nervenzusammenbruch und wurde wegen Suizidgefahr in eine Klinik in Nizza eingewiesen. Dort erhielt sie einen Brief ihres Vaters, der zwar zugab, sie als Kind vergewaltigt zu haben, jedoch keine Reue zeigte. Nikis Therapeut glaubte ihr nicht, und ordnete eine Behandlung mit Elektroschocks an. Die anschließende Maltherapie half ihr wieder auf die Beine, sie beschloss Künstlerin zu werden.

Ihre Arbeit begann in den frühen 50er Jahren mit Ölbildern, Mitte der 50er trennte sie sich von Ihrem Mann und den Kindern und experimentierte mit Collage-Elementen, sogenannten Assemblagen, d.h. sie arbeitete Gegenstände und Materialien in ihre Bilder ein. Hier verwandte sie bereits Attribute, die traditionell eher der männlichen Symbolik zugeordnet werden, wie Messer, Pistolen, Metzgerbeile, später Zielscheiben, auf die sie mit Pfeilen warf. Daraus wurden in den 60er Jahren die ersten Tirs, die Schießbilder, mit denen Niki de Saint Phalle als Autodidaktin über Nacht berühmt wurde. Die Schießbilder bestanden in der Regel aus Gipsreliefs, in die an verschieden Stellen Farbbehälter eingearbeitet waren. Während „der Ausstellung“, wurden die Betrachtenden aufgefordert, mit Gewehren auf die Bilder zu schießen und so die Farbbeutel zu zerstören, oder aber Niki schoss selbst.

Diese ersten Schießaktionen lösten einen Skandal aus, denn dieses erste „Happening“ der Kunstgeschichte war in vielerlei Hinsicht revolutionär. Die Kunst- konsumierenden wurden zu Teilen des Kunstwerkes, gleichzeitig war durch die Gewehre und die, wie Blut über das „unschuldige“ Weiß laufende Farbe eindeutig Gewalt im Spiel, der Akt des Schaffens war gleichzeitig Akt der Zerstörung, was nicht unbedingt zu der schönen jungen Frau zu passen schien, die all das inszenierte. Tatsächlich war genau das die Absicht der Künstlerin: „1961 schoß ich gegen Daddy, gegen alle Männer, gegen alle, gegen die Gesellschaft, gegen mich selbst (…)“. Sie bezeichnete ihre Kunstform als Krieg ohne Opfer oder Mord ohne Opfer und betonte das dringende Gefühl von Wut und Zorn, die sich Bahn brechen mußten: „Instead of becoming a terrorist, I became a terrorist in art.“ Die Schießbilder standen einerseits im Zusammenhang mit den persönlichen Gewalterfahrungen, die Niki de Saint Phalle gemacht hatte, andererseits sind sie aber auch im Kontext des Gewaltklimas der 60er Jahre zu sehen, das in Paris durch die Kriege in Algerien und Kongo sehr gegenwärtig war. Noch Jahre später reflektierte sie, wie nah sie daran gewesen war, ihren Gefühlen auf ganz andere Weise Ausdruck zu verleihen: „Als ich im letzten Winter nach Stuttgart kam, sah ich am Flughafen eine Anzahl Fotos junger Terroristinnen. Mir wurde bewusst, wie viel Glück ich gehabt hatte, einen pazifistischen Ausdruck meiner inneren Gewalt gefunden zu haben.“ Inhaltlich befasste sie sich einerseits mit persönlichen Motiven, wie z.B. „Portrait of my lover“ (1961), andererseits mit allgemein politischen Themen, wie z.B. einer Serie von Altären oder dem „Tir des hommes politiques“ (1963), auf dem Köpfe von Staatsoberhäuptern damaliger und vergangener Zeiten zu sehen waren: „das wahrscheinlich wichtigste Werk“.

Während dieser Zeit in Paris lernte sie auch ihren späteren zweiten Ehemann und lebenslangen Gefährten Jean Tinguely kennen, der Teil der progressiven avantgardistischen Künstlergruppierung Nouveau Realisme war. Die Mitglieder (u.a. auch Yves Klein, Marcel Duchamp) einte ihr Widerstand gegen alles, was die Kunst zu etwas Exklusivem und Elitären machte und Niki wurde dort als einzige Frau mit ihren Schießbildern und Assemblagen als ihrem eigenständigem Beitrag aufgenommen. Die Gemeinschaft mit Jean Tinguely war bis zu seinem Tod 1991 geprägt von künstlerischer Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung, die auch über persönliche Trennungen hinweg anhielten. Jean, zunächst Anarchist, dann Kommunist, der als Arbeiterkind in der Schweiz Arbeit und Armut von allen Seiten kennen gelernt hatte und Niki, die Tochter aus sogenanntem „guten Hause“, verband gerade das Gegensätzliche, das sich auch in späteren Kunstprojekten der beiden wiederspiegelte, in denen sie sich gegenseitig als Personen wie als Kunstschaffende inspirierten.

Eine ihrer ersten gemeinsamen Aktionen war ein Kunsthappening in der Wüste von Nevada, USA, das Atombombentests thematisierte. Bei „End of the World“ (1962) sprengten sie riesige Schrottkunstwerke in die Luft und freuten sich anschließend darüber, dass bei diesem Happening eindeutig mehr Gäste waren, als bei den ersten Explosionen 15 Jahre zuvor.

Mitte der 60er Jahre gab es dann eine weitere Zäsur im Leben, wie im künstlerischen Schaffen Niki de Saint Phalles: es erfolgte eine Wende weg von der Wut, hin zum Schmerz und vom Schmerz zur Freude: die ersten Nanas entstanden. Nana, in französischer Umgangssprache bis dato ein leicht anzügliches Wort für freches Mädchen, Göre oder Mieze, ist seitdem auch untrennbar verbunden mit Niki de Saint Phalles Werk. Seit 1964 die lebensbejahenden, fröhlichen, bunten, meist tanzenden, oft über lebensgroßen, dicken Frauenskulpturen zum ersten Mal auftauchten, waren sie nicht mehr wegzudenken aus dem Schaffen Niki de Saint Phalles. Die Nanas stehen für Lebenskraft, Weiblichkeit, freie Gestaltung ohne Hemmungen und Konventionen, sie vereinigen alle Frauen in sich, sind eine umfassende Reflexion der weiblichen Existenz. Die erste Ausstellung der Skulpturen, Nana Power, 1965, erregte abermals großes Aufsehen: „Kein Wunder, denn eine Künstlerin, die den „heiligen Phallus“ im Namen trägt, schickte sich an, weibliche Körper selbstbewusst, sinnlich und körperbetont darzustellen und die Sexualität der Frau zu thematisieren.“

1966 folgte direkt der nächste und ungleich größere Skandal, als Niki de Saint Phalle zusammen mit Jean Tinguely, der für die Konstruktion zuständig war, eine riesige 28 x 6 x 9 Meter große liegende Nana erbaute. Dieses Kunstwerk, namens HON, die Kathedrale, im Moderna Museet zu Stockholm war begehbar, Zu- und Ausgang war die Vagina, in der linken Brust befand sich ein Planetarium, in der rechten eine Milchbar. Trotz der Empörung, liebten die Besuchenden ihre Hon und bis zu ihrer Zerstörung am Ende der Ausstellungsdauer, besuchten tausende Menschen die heitere Frauenplastik.

Die Hon war gleichzeitig auch der Beginn vieler noch folgender Monumentalplastiken, die teilweise begehbar, oder aber auch bewohnbar waren, bekannt sind die großen Nanas in Hannover am Leineufer, es gibt große phantasievolle Gebilde, die Spielgeräte für Kinder sind, den Golem in Israel, oder einen Kindergarten.

Durch die Nanas setzte Niki schon lange vor der Frauenbewegung ihre persönliche Befreiung in feministische Kunst um, in Kunst, die die Frauen, ihre Präsenz und Stärke in den Mittelpunkt stellte. Diese bewusste „Frauensicht“ bedeutete für sie aber niemals die vollständige Abgrenzung von den Männern, sondern immer auch die vergleichende Konkurrenz: „Ich werde die größten Skulpturen meiner Generation machen. Größer. Höher und stärker als die der Männer.“ Und die Auseinandersetzung: „Die Männer in meinem Leben, diese Bestien, waren meine Musen, das Leiden, davon zehrte viele Jahre meine Kunst – ich danke ihnen.“, „Ich habe mich oft gefragt, warum in meinen Arbeiten so wenig Männer vorkommen. Wenn sie nett sind, dann sind sie Tiere und Vögel; sind sie grässlich, dann sind sie Monster.“. Sie lehnte es auch stets ab, an reinen Künstlerinnen- Ausstellungen teilzunehmen, teils aus dieser Suche nach der Gegenüberstellung, teils jedoch auch, weil für sie die Frage nach Identität und somit auch nach Geschlecht stets eine offene Frage blieb:

„Als junges Mädchen lehnte ich Mutter und Vater als Modelle für mein zukünftiges Verhalten ab. Was mich mit dem enormen Problem, mich neu zu erfinden und neu zu erschaffen konfrontierte. Ich hatte keine klare nationale Identität. Ich fühlte mich halb als Französin und halb als Amerikanerin. Ich wollte auch halb Mann halb Frau sein. In einer Männerrolle schien man viel mehr Freiheiten zu besitzen.“

Gleichzeitig zu der Periode der lebensbejahenden und lebensfrohen Großplastiken, gab es in den 70er Jahren eine weitere Phase der Bewältigung alter Verletzungserfahrungen: Niki de Saint Phalle drehte eine Reihe von Filmen, in denen sie geheime Phantasien und ihre eigene zerstörerische Kraft auslebte, der wichtigste dieser Filme hieß „Daddy“ (1972) und war eine teils autobiographische, teils fiktive Geschichte zwischen Vater und Tochter. „Der Film ist ein Angriff auf das Patriarchat, ein Racheakt.“ Nach Beendigung des Filmes erlitt Niki einen Zusammenbruch, die erhofften Erinnerungen an die eigenen Gewalterfahrungen blieben jedoch aus, sie entschied sich, sich nun endgültig wieder der Bildhauerei zuzuwenden.

Von 1978 an arbeitete Niki de Saint Phalle bis 1997 in der Toscana an ihrem umfangreichsten und größten Projekt, dem Tarotgarten. Der Tarotgarten ist ein parkähnlicher Garten mit Monumentalskulpturen, die sich an den Figuren des Tarot orientieren. Er soll ein begehbares Sinnbild sein für die Prüfungen, die ein Mensch durchlaufen muß, um geistig zu reifen und beinhaltet sowohl Elemente aus der traditionellen Gartenkunst, wie auch mystische Elemente aus der Kabbala. „Ich sehe mich in der Karte des Narren. Der Narr geht herum mit der Nase in der Luft auf der Suche nach seiner geistigen Identität – und genau das tat ich, als ich den Garten baute“. Um das gigantische Projekt zu finanzieren, kreierte Niki ein Parfum und verkaufte einige kleinere sogenannte „Multiples“, sie wohnte im inneren der „Sphinx“, lebte in und für ihre Kunst.

Auf ärztlichen Rat hin zog sie von Italien ein weiteres mal um, diesmal nach San Diego. Ihre Lungen waren so weit angegriffen, dass das Klima an der Küste für sie überlebenswichtig wurde. Auch dies schlug sich als biographisches Element in ihrer Kunst nieder: die „Skinnies“, die Dünnhäutigen, durchbrochene Transparentplastiken, prägten eine weitere Schaffensphase.

Neben den eher bekannteren Werken schuf sie Kunstmöbel, polierte Bronzen, kinetische Skulpturen, die sie als Hommage an Jean Tinguely nach dessen Tod entwarf, sowie Bücher, wie zum Beispiel ein Buch zur Aufklärung über AIDS, oder Bücher mit poetischen Briefen, Teile einer Autobiographie und vieles mehr. Niki de Saint Phalle schöpfte Kraft aus ihrem Zorn und ihrer Lebensfreude und suchte immer wieder neue Wege, ihren Gefühlen Gestalt zu geben. Ihre Kunst ist eine Kunst, die nicht schwer zu verstehen ist, die leicht und menschennah bleibt, auch wenn sie monumental groß ist. Trotz all dieser Vielseitigkeit ihres Lebens und ihres Lebenswerkes, suchte sie immer noch nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für ihre Kreativität und Phantasie, der Tod war dabei für sie nur die Fortsetzung des Lebens:

„In meinem nächsten Leben möchte ich Musikerin sein, ein Instrument spielen oder singen… singen ist eigentlich besser! Vielleicht werde ich als Mücke oder vielleicht als Schmetterling wiedergeboren.“

(*) Alle kursiv gedruckten Zitate stammen von Niki de Saint Phalle.

Literatur

"Niki de Saint Phalle" Ein Film von Peter Schamoni., 1995 (BMG Video 1997)

"Liebe Protest Phantasie", Ulm, Ludwigshafen, Emden 1999

N. de Saint Phalle, Giulio Pietromarchi "Der Tarot- Garten", Wabern-Bern 2000

"Niki de Saint Phalle", Katalogbuch, Bonn 1992

N. de Saint Phalle "Traces, Remembering 1930-1949", Wabern-Bern 2000

Monika Becker "Starke Weiblichkeit entfesseln. Niki de Saint Phalle", München 1999

Stefanie Schröder "Ein starkes verwundetes Herz - Niki de Saint Phalle", Freiburg i. Br. 2000

Niki de Saint Phalle "AIDS. Vom Händchenhalten kriegt man's nicht", München, Luzern 1986