Peter Paul Zahl, Der Domraub, Deutscher Taschenbuchverlag, München 2002, 339 S., 15 €
Im modernen Sprachgebrauch ist der Schelm eine eher gutmütige Figur, der Witzbold, der anderen harmlose Streiche spielt. In einer älteren Bedeutungsschicht hingegen ist der Schelm der durchtriebene Halunke, der gewitzte Gauner, kurzum, ein Schurke und Tunichtgut.
Etwas von beidem steckt in Vladimir Heiter, dem Helden und Ich-Erzähler von Peter Paul Zahls neuem Schelmenroman „Der Domraub“. Er ist der Genießer und Sinnenmensch, der jenseits kapitalistischer Lohnarbeit ein auskömmliches Leben als Kunsthehler führt, von der Polizei weitgehend unbehelligt, von einem Ausrutscher abgesehen, der ihm eine Gefängnisstrafe in der Schweiz einträgt. Vor allem aber ist Vladimir Heiter der selbstbewußte Lumpenproletarier in der Robin-Hood-Tradition der Sozialrevolte, Seelenverwandter und Berufskollege der Ganovenfamilie Hemmers aus PPZs erstem Schelmenroman „Die Glücklichen“, ein libertärer Gauner, der jede Autorität (staatlicher, ökonomischer, kirchlicher Art) ablehnt und für den Diebstahl Einkommensquelle und praktizierte Herrschaftskritik in einem ist: „Wo immer es Oben und Unten gibt, Herrscher und Beherrschte, Reiche und Habenichtse, ist die „Expropriation der Expropriateure“ eine ehrenhafte Sache“ (S. 41).
In der Tradition des Schelmen, der ein Gebeutelter, ein underdog ist, beruht auch Vladimirs Mißtrauen gegen jede Form von Macht auf recht handfester, durchaus nicht immer heiterer (wenn auch ironisch-launig erzählter) Lebenserfahrung. Aufgewachsen unter dem Eindruck der Wehrmachtsbomben auf Belgrad, zum Partisanenkampf zu jung, schlägt er sich als Schwarzmarkthändler, Frauenliebling, verkrachter Kunststudent und Kleinganove durch die Nachkriegsjahre und lernt die Schattenseiten der titoistischen Variante des Realsozialismus kennen: Bürokratismus, Korruption, Selbstherrlichkeit der zur neuen herrschenden Klasse aufgestiegenen Ex-Partisanen. Sein Versuch, durch Diebstahl und Verteilung von Lebensmittelkarten in Jugoslawien „den Kommunismus einzuführen“, endet mit einem Todesurteil und der Begnadigung zur KZ-Insel Goli Otok, die er, wenn auch traumatisiert, überlebt. Schließlich landet er als politischer Flüchtling in der Bundesrepublik. Damit endet die Vorgeschichte.
Mitte der 70er Jahre und mittlerweile in Köln ansässig, erfährt Vladimir vom „großen Coup“ einiger seiner Berufskollegen – aus dem Radio: Der Kölner Domschatz ist geraubt worden. Er ahnt noch nicht, daß er selbst bald im Mittelpunkt der daraus resultierenden Verwicklungen stehen wird. Denn zum einem wird er von den Domräubern kontaktiert, die einen Experten suchen, der die theoretisch zwar millionenschwere, praktisch aber unverkäufliche Beute zu Geld machen kann, andererseits ist auch die Gegenseite – Staatsanwaltschaft, eine „SoKo Domraub“ sowie der dubiose Versicherungsagent Ratzki (der im wahren Leben den Namen eines anderen Nagetiers trägt) – über seine „Fähigkeiten“ auf dem laufenden und versucht, ihn als Vermittler zur Wiederbeschaffung des Kunstschatzes zu gewinnen.
Unversehens steht er im Mittelpunkt eines Spiels, bei dem jeder jeden zu betrügen versucht. Die Schweiz, Jugoslawien, Italien sind die Schauplätze eines turbulenten Geschehens, das mitunter Züge eines Agententrillers annimmt. Vladimir genießt es sichtlich, seine staatlichen Gegenspieler an der Nase herumzuführen, doch am Ende ist er selbst der Betrogene. Ratzki hat, um ein altes Sprichwort zu bemühen, auf einen Schelm anderthalben gesetzt, und ihn aus der Position des Vermittlers in die des Hauptschuldigen manövriert.
Im furiosen Finale wird nach Schelmenmanier die Redensart, der Prozeß sei eine Farce gewesen, wörtlich genommen. Es ist ein abgekartetes Spiel, das als Karnevalsgroteske inszeniert wird, mit Büttenreden in gereimten Knittelversen, in der für den Schelmen Vladimir nur noch die Rolle des Narren vorgesehen ist.
In solchen Formen satirischen Erzählens, mit Parodien, Kalauern, ständigen Stilwechseln, liegt zweifellos die Stärke von PP Zahl, und das historische Genre des Schelmenromans gibt ihm den nötigen Freiraum, sie zu entfalten. Anders als im Vorläuferroman „Die Glücklichen“ verzichtet Zahl im „Domraub“ auf eine komplexe Struktur mit Montageelementen und mehreren Erzählsträngen. Die Geschichte ist gradliniger, konsequent an einem historischen Kriminalfall entlangerzählt, wofür Zahl die Prozeßakten eines Mitgefangenen aus dem Werler Knast benutzen konnte, für den er seinerzeit ein Wiederaufnahmeverfahren betrieb und der für seinen Romanhelden Pate stand.
Insgesamt ist der Roman allerdings nicht durchweg gelungen. In seiner Polemik gegen den Sicherheits- und Polizeiapparat und das Gefängnissystem der Bundesrepublik ficht Zahl die Kämpfe der 70er Jahre noch einmal aus, was heute reichlich anachronistisch wirkt. Schlimmer ist jedoch sein Hang zum Predigen, bzw. dazu, seinen Helden bei jeder Gelegenheit in langen Tiraden seine Sicht der Welt darlegen zu lassen. So richtig und berechtigt vieles daran sein mag, gerade aus libertärer Sicht, ist es sicherlich für die meisten Leser auf Dauer ermüdend, ständig belehrt, mit Ein- und Ansichten bombardiert zu werden, zumal auch etliche Plattitüden darunter sind. Etwa daß die Kirche sinnenfeindlich ist und auch sonst so einiges auf dem Kerbholz hat, ist keine so bahnbrechende Erkenntnis, daß sie gleich mehrfach wiederholt werden müßte. Auch kompositorisch kommt das dem Roman nicht zugute, sondern macht ihn stellenweise schwafelig und langatmig.
Doch bei aller Kritik an Zahl – die man noch erweitern könnte: sein letzter Roman „Der Untergang Deutschlands“ ist ziemlich mißraten und auch seine Jamaika-Krimis sind allenfalls durchwachsen – es bleibt festzuhalten: er ist nach wie vor der einzige libertäre Autor (vom schweizer PM vielleicht einmal abgesehen), der (verdientermaßen!) einen gewissen Bekanntheitsgrad in der literarischen Öffentlichkeit besitzt und diesen auch dazu nutzt, eine libertäre Sicht der Welt zu verbreiten. Das sollte auf jeden Fall anerkannt werden.