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Fritz Mierau: Mein russisches Jahrhundert

| Michael Halfbrodt

Fritz Mierau, Mein russisches Jahrhundert, Edition Nautilus, Hamburg 2002, 318 S., 22 €

Bereits zu DDR-Zeiten war Fritz Mierau als Slawist und Literaturwissenschaftler international bekannt, hatte sich insbesondere als Spezialist für die literarische Avantgarde der frühen Sowjetunion einen Namen gemacht, sich als Übersetzer, Herausgeber, Interpret für die während der Stalin-Ära erschossenen Dichter wie Isaak Babel, Ossip Mandelstam, Sergej Tretjakow usw. eingesetzt. Sich mit solchen „Unpersonen“ zu beschäftigen, war, zumal in einem so hochgradig politisierten Bereich wie dem der „Sowjetliteratur“, alles andere als risikolos – konnte in den 50er Jahren, trotz einsetzendem „Tauwetter“, gradewegs ins Zuchthaus führen und war auch in den 60er und 70er Jahren noch ein Wagnis, jedenfalls nicht geeignet, eine akademische Karriere zu begründen. Also blieb Mierau in der DDR (und bis heute) ein Gelehrter „ohne Lehrstuhl und Doktorhut“ (und ohne Parteibuch), ein unbequemer Außenseiter des kulturellen Lebens oder einfach ein „exzentrischer Sonderling“, wie er selbst sein Image bei Kollegen und Funktionären beschrieb, kein Dissident, kein Regimegegner, eher so etwas wie teilnehmender Beobachter am Experiment DDR.

Mieraus Autobiographie „Mein russisches Jahrhundert“ ist vergleichsweise unspektakulär: keine Enthüllungen, Anklagen, Abrechnungen, sondern ein intellektueller Rechenschaftsbericht, der einem anderen Rhythmus folgt, als dem der Zeitgeschichte. Die „weltgeschichtlichen Konstellationen“ bleiben weitgehend unberücksichtigt, werden manchmal geradezu provozierend vernachlässigt. Das Ende der DDR etwa findet in dem Buch kaum statt, wird beiläufig erwähnt, um es in einen größeren Zusammenhang einzubetten. Eher interessiert die „Musik des Alltags“, jener Sinn für „häusliches Dasein“, der ihn an der russischen Literatur ebenso fasziniert wie im Umgang mit den Russen selbst. Aber es ist eine prekäre, flüchtige eine „ungewisse Häuslichkeit“, den Umständen abgetrotzt, geprägt durch Exil und Lagerhaft, dem Leben und Überleben in Diktaturen.

Äußerlich findet sich in Mieraus Buch alles wieder, was man gemeinhin von einer Autobiographie erwartet – Kindheits- und Jugenderinnerungen, Reiseeindrücke, Porträts von mehr oder minder bekannten Zeitgenossen – , doch auf eine Weise zusammengesetzt, die sich dem herkömmlichen „Biographismus“ nicht recht fügen will. Die Chronologie ist eher summarisch, der Zusammenhang bleibt brüchig, Bericht und Essay vermischen sich und hinterlassen einen bisweilen diffusen Eindruck. Es scheint, als könne Mieraus Eintreten für eine Literatur, die sich den gängigen Realismuskonzeptionen widersetzt, nicht ohne Einfluß auf die Vergegenwärtigung der eigenen Lebensgeschichte bleiben. Vielleicht spielt auch jene „tiefe Skepsis gegen sich als den Urheber seines Lebens“ eine Rolle, die Mierau Franz Jung attestiert. Und es kommt sicherlich nicht von ungefähr, daß er sich neben der modernen russischen Literatur vornehmlich mit diesem großen Einzelgänger und Außenseiter befaßt hat, diesem Geächteten, von Freunden und Gegnern gleichermaßen Mißverstandenen, Zeitdiagnostiker und Visionär, dem er nachrühmt, immun gewesen zu sein „gegen die beiden großen Versuchungen des Jahrhunderts, gegen die Versuchung, in dem heraufziehenden Kollektivismus die Befreiung des Menschen zu feiern, wie gegen die Versuchung, in diesem Kollektivismus die Fesselung des Menschen anzuklagen“.