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Libertäre nach der Befreiung

Hans Jürgen Degens wertvolle Recherche über die Föderation Freiheitlicher Sozialisten

| William Wright

Hans Jürgen Degen: Anarchismus in Deutschland 1945-1960. Die Föderation Freiheitlicher Sozialisten, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 2002, ISBN 3-932577-37-X, 440 S., 20 €.

Ein Buch über die deutschen AnarchistInnen der Nachkriegszeit, dem ersichtlich eine jahrelange Forschungsarbeit des Autors vorausging. Zitiert wird aus vielen Briefen und Gesprächen, die Hans Jürgen Degen mit den Aktiven von damals geführt hat. Und es hat sich gelohnt: das Buch gibt einen in dieser Fülle von Material wohl bisher einzigartigen Überblick über die Situation deutscher AnarchistInnen nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die sechziger Jahre hinein, obwohl sich Degen auf die zahlenmäßig bedeutsamste Organisation konzentriert: die „Föderation Freiheitlicher Sozialisten“ (FFS). Das Buch ist eine Fortführung und gleichzeitige Differenzierung der alten Arbeit von G. Bartsch und viele alte GenossInnen, so sie noch leben, werden sich freuen, dass ihre Aktivitäten mit diesem Buch dem Vergessen entrissen wurden und zumindest dem engeren interessierten libertären Publikum wieder vor Augen geführt werden können.

Hans Jürgen Degen berichtet von der desolaten Stimmungslage in der Bevölkerung direkt nach der Befreiung, wo nur Überwindung des Hungers und Wiederaufbau zählten. In dieser Situation fanden sich die wenigen alten anarchosyndikalistischen AktivistInnen der 20er Jahre, die wieder aktiv werden wollten, zusammen und gründeten 1947 die FFS, 30 Delegierte aus 15 Orten. Organisatorischer Höhepunkt war 1949/50, als die FFS rund 150 Mitglieder in etwa 30 Orten hatte. Meist gab es Ortsgruppen („Ortsföderationen“), aber auch Einzelmitglieder. Ab da stagnierte die FFS und erlebte in den fünfziger Jahren einen schleichenden Niedergang, den nur einzelne Gruppen überlebten.

Es war angesichts der geringen Zahl der Aktiven und der schlechten Stimmungslage in der Bevölkerung undenkbar, einfach an die revolutionär-anarchosyndikalistische Gewerkschaft der 20er Jahre, die „Freie Arbeiter-Union“ anzuknüpfen. Die FFS sah sich mehr als „Ideen“- denn als Kampf- oder Massenorganisation. Es ging darum, freiheitlich-sozialistische Ideen zu verbreiten und damit den autoritären Charakter der Deutschen zu ändern. Die FFS orientierte dabei praktisch auf neue Strategien, mit denen sie den Gegebenheiten der Zeit entsprechen wollte: solange eine libertäre Gewerkschaft nicht möglich war, sollten AnarchistInnen in der Einheitsgewerkschaft DGB mitarbeiten und gegen Funktionärstum und Zentralismus wirken; insbesondere in den Genossenschaften wurde ein neues Betätigungsfeld für AnarchistInnen gesehen; weil 1945-49 praktisch neben den Besatzungsbehörden kein deutscher Staat bestand und aller Aufbau von den Gemeinden ausging, sollte aktiv in der Gemeinde mitgearbeitet werden bis hin zur Beteiligung an Kommunalwahlen (aber nicht mit eigenen Listen; dafür fasste die FFS den Beschluss, dass für eine bestimmte Zeit Doppelmitgliedschaften in anderen Organisationen und Parteien möglich sein können); und allgemein sollte schließlich die Idee des Föderalismus verbreitet und allen zentralistischen Tendenzen entgegen gesetzt werden.

Degen berichtet von den Diskussionen, die um diese Strategien geführt wurden. Inner- und außerhalb der FFS wurden sie oft als „reformistisch“ kritisiert, obwohl die ProtagonistInnen sich weiter als Revolutionäre verstanden und in ihrem Kurs von den großen libertären Mentoren, die im Exil geblieben waren, Rudolf Rocker in New York und Helmut Rüdiger in Stockholm, ausdrücklich unterstützt wurden.

In einem sehr interessanten Kapitel über die freiheitlichen SozialistInnen in der SBZ/DDR zeigt Degen, dass es mehrere Verhaltensweisen von Libertären gab: den Versuch, sich offen zu organisieren (der Kreis um Willi Jelinek, der in Bautzen und mit dem Hungertod endete), den Versuch, kommunistischen Organisationen beizutreten und Libertäres einzubringen (Rudolf Michaelis – mit sehr widersprüchlichen Ergebnissen, er musste ein Pamphlet gegen den Anarchismus schreiben), oder gar den Versuch Vereinzelter, sich ganz mit der DDR zu identifizieren. Dagegen war der Westberliner Ortsverband mit Fritz Linow nahezu antikommunistisch ausgerichtet, wobei bis in die fünfziger Jahre hinein Genossen aus Ostberlin zu den Treffen kamen und ihr Leid klagten. Linow war gar bereit, gegen den sowjetischen Expansionismus im Notfall die westliche Militärmacht anzurufen, was dem prinzipiellen Antimilitarismus vieler GenossInnen in der FFS widersprach.

Es ist Degens Verdienst, die mühsame alltägliche Korrespondenz- und Kontaktarbeit einzelner Personen in der FFS heraus gestellt zu haben, ohne die der Zusammenhang schon viel früher abgebrochen wäre, besonders hervor zu heben etwa dabei die koordinierende Rolle von Gretel Leinau. Die FFS bekam von den Alliierten keine Lizensierung – sie sahen wohl keinen Grund, AnarchistInnen zu legalisieren -, was eine offene Werbung unmöglich machte. Erst 1949-1953 gelang es, eine Zeitschrift heraus zu geben: „Die Freie Gesellschaft“, eine qualitativ hochstehende Monatsschrift, redigiert von Linow. In der Folgezeit verschlangen jedoch der Vertrieb dieser Zeitschrift, sowie der gleichnamige Buchverlag, der wichtige Bücher wie Augustin Souchys „Nacht über Spanien“ und einige Broschüren zur aktuellen Situation herausgab; sowie Rudolf Rockers Mammutwerk „Nationalismus und Kultur“ vertrieb, und die „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ zu viele Energien der wenigen Aktiven; sodass Mitte der fünfziger Jahre die MacherInnen ausgebrannt waren und keine Jugendlichen aktiv wurden, um die Projekte fortzusetzen. Hinzu kam, dass die neue Strategie offensichtlich gescheitert war: die DGB-Bonzen saßen fest im Sattel, die Kommunalparlamente waren schon wieder verknöchert und hatten gleichzeitig nichts zu sagen, und im Wirtschaftswunder der 50er Jahre interessierte sich niemand für libertäre Alternativen. Degen erwähnt auch die anderen libertären Organisationen und ihre Stellung zur FFS kurz: die Internationale Bakunin-Gruppe; die Kulturföderation Freier Sozialisten und die Mühlheimer Gruppe um Willy Huppertz und seine Zeitschrift „Befreiung“. Inwieweit seine Einschätzung, die Kritik dieser Gruppen an der FFS sei platt und rückwärtsgewandt gewesen, zutrifft, vermag ich nicht zu beurteilen. Wie dem auch sei: ein ganz wichtiges Buch libertärer Forschung.