Andreas G. Graf (Hg.): Anarchisten gegen Hitler. Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten, Rätekommunisten in Widerstand und Exil. Lukas Verlag, Berlin 2001, 320 S., 25 €.
Selten kann aus Sicht der anarchistischen Bewegung gesagt werden, dass die Wissenschaft, hier vor allem die Geschichtswissenschaft, einmal etwas für sie Sinnvolles leistet. Zu oft übersehen, bewusst und unbewusst, gerade HistorikerInnen Rinnsale und Ströme anarchistischer Theorie und Praxis. In diesem Fall geht es jedoch um eine jener Ausnahmen, wo historische Forschung dazu dienen kann, entstandene Lücken der bisherigen Geschichtsdarstellung zu schließen.
Man/frau könnte meinen, gerade im deutschsprachigen Raum sei die Zeit des Nationalsozialismus und auch des europäischen Widerstands dagegen inzwischen umfassend erforscht. Dass das für die anarchistische Bewegung nicht gilt, macht das vorliegende Buch deutlich und es kann insofern auch nur als Auftakt einer noch weiter zu leistenden Geschichte des anarchistischen Widerstands gegen Hitler in Europa gelesen werden.
Die Beiträge des Buches sind ebenso spannend wie erkenntnisreich und geben einen guten Überblick über den anarchistischen Widerstand in mehreren Ländern Europas. Aus meiner Sicht ist kein schwacher Aufsatz dabei, und deshalb sollen sie hier alle Erwähnung finden: Hartmut Rübner untersucht in „Der Weg ins Dritte Reich“ zunächst die Faschismusanalysen der anarchistischen Presse in der Weimarer Republik und konstatiert, dass vor allem Rudolf Rocker und Gerhard Wartenberg sehr früh auf die nationalsozialistische Gefahr aufmerksam machten. Die Analyse der AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen bewegten sich zwischen originären, eigenständigen Ansätzen, in denen als Ursache für die spezifisch deutsche Ausprägung des Faschismus auf den preußischen Militarismus, die „antidemokratischen Traditionen eines autoritär eingestellten Bürgertums“ (S. 23) verwiesen wurde; und der Übernahme marxistischer Muster eines Primats der Ökonomie, nach denen ein von der Proletarisierung bedrohter Mittelstand die Massenbasis des Nationalsozialismus stelle. Andreas G. Graf beschreibt in „Selbstbehauptung und Widerstand deutscher Anarchisten und Anarcho-Syndikalisten“ die praktischen Aktionen in der Nazi-Zeit, den Übergang der anarchosyndikalistischen FAUD (Freie Arbeiter-Union Deutschlands) zu illegalen Strukturen nach 1933, die Verlegung des Sitzes und der Materialien von deren Geschäftskommission in Berlin über Erfurt nach Leipzig, die Entstehung informeller regionaler Kontaktstrukturen in Mittel-, West- und Südwestdeutschland, ihre Publikationsversuche, die Wellen der nationalsozialistischen Repression bis zur Zerschlagung der Strukturen 1938, die Emigration der AktivistInnen mit Hilfe des seit 1933 in Amsterdam bestehenden FAUD-Büros, die Aktivitäten der DAS (Deutsche Anarchosyndikalisten im Ausland) in Paris und dann in der spanischen Revolution nach 1936.
Ein Artikel in englischer Sprache von David Berry gibt Auskunft über „The French Anarchist Movement, 1939-1945“ und darüber, dass die französischen AnarchistInnen – wie manchmal kolportiert – keineswegs alle den Krieg passiv in französischen Gefängnissen verbrachten. Die französische anarchistische Bewegung hatte ihren Höhepunkt vor dem Krieg in der ersten Zeit der spanischen Revolution 1936, als die libertäre Solidaritätsorganisation SIA (Solidarité internationale antifasciste) 40.000 Mitglieder hatte. Dieser Elan war bis zum Krisenjahr 1938 verbraucht: die Volksfront war zerschlagen, ein Generalstreiksversuch scheiterte im November 1938. Die Bewegung war bis 1942 zersplittert und ohne Konzept, trotzdem gab es vielfältigen Widerstand in unterschiedlichen Bereichen: Kriegsdienstverweigerung mit der Konsequenz Gefängnis, Beteiligung einzelner Libertärer an bewaffneten Résistance-Gruppen, humanitäre Flucht- und Gefangenenhilfe für GenossInnen oder die Kinder spanischer RevolutionärInnen (z.B. durch die gewaltlose Anarchistin May Picqueray), Verweigerung der Zwangsarbeit für die Nazis (STO). Aber es gab auch obskure Formen der Kollaboration wie etwa von Louis Loréal, der für die pro-nazi-Zeitungen „Germinal“ und „La Gerbe“ frühere GenossInnen aus der pazifistischen und anarchosyndikalistischen Bewegung dazu aufrief, zur nationalen Bewegung überzulaufen. Von 1943-45 gelang im Untergrund durch mehrere Treffen in Wäldern ein Neuanfang der Bewegung, für Paris und den Norden war dabei Henri Bouyé, für den Süden und Marseille/Toulouse Jean René Saulière die initiierende Person.
Ebenfalls in englischer Sprache beschreibt Ronald Creagh in „Red Years, Black Years“ den Kampf der italienischen AnarchistInnen gegen den Faschismus, der bis zu den „roten Jahren“ 1919-21 zurück führt, zur Rückkehr Malatestas 1919, zum Generalstreik der Eisenbahner 1920 und zu den Arbeiterräten und Betriebsbesetzungen vom Herbst 1920 (Luigi Fabbri). AnarchistInnen bildeten früh bewaffnete Gruppen (Arditi del Popolo) im Kampf mit den Faschisten, konnten sie örtlich in Sarzana 1921, Parma und Carrara 1922 auch mitunter militärisch zurück schlagen, aber letztlich den Marsch auf Rom und die Machtergreifung Mussolinis nicht verhindern. Mussolini unterdrückte in den nächsten vier Jahren die anarchistische Bewegung, u.a. durch blutige Massaker wie im Dezember 1922 in Turin. Es begann die Zeit des Exils, der internationalen Kampagne italienischer AnarchistInnen für die in den USA zum Tode verurteilten Anarchisten Sacco & Vanzetti bis hin zur Beteiligung italienischer AnarchistInnen an der spanischen Revolution (Camillo Berneri). In Italien gab es in der anarchistischen Hochburg Carrara seit 1942 bewaffnete anarchistische Widerstandsgruppen, dann in mehreren Städten infolge der alliierten Eroberung seit Juli 1943 von Sizilien her. Weil das neue Badoglio-Regime schon in Sizilien Mafia-Leute als Bürgermeister einsetzte und die AnarchistInnen (u.a. Paolo Schicchi) das scharf kritisierten, wurden sie sofort verfolgt und eine Amnestie Badoglios für Gefangene in faschistischen Knästen nahm explizit die AnarchistInnen darin aus.
Der Aufsatz von Dieter Nelles zum „Widerstand der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Deutschland und Spanien“ ist eine Kurzzusammenfassung seines Buches (siehe Besprechung in: GWR 262/Libertäre Buchseiten, Oktober 2001) zum gleichen Thema.
Das koordinierende Sekretariat der ITF in Amsterdam unter maßgeblichem Einfluß des mit den Libertären sympathisierenden Generalsekretärs Udo Fimmen vertrat im Gegensatz zu vielen Mitgliedsorganisationen eine ebenso radikale wie unabhängige Politik, während die der ITF angeschlossenen Eisenbahner-Gruppen eher aus linkssozialdemokratischen Kreisen (u.a. Internationaler Sozialistischer Kampfbund, Sozialistische Arbeiterpartei), die Binnenschiffer und Seeleute eher aus kommunistischen Traditionen kamen. Deren ideologische Bindung weichte jedoch im Verlauf des Widerstands auf und ermöglichte über ein Vertrauensleutesystem den Aufbau der wohl effektivsten Widerstandsströmung im nationalsozialistischen Deutschland: 1935 hatte die ITF Verbindung zu ca. 100 illegalen Gruppen in Deutschland. Es wurden Flugblätter, Zeitungen, illegale Literatur verteilt, bis die Repression 1938/39 zuschlug. Am Widerstand der internationalen See- und Binnenschiffer war Hermann Knüfken führend beteiligt, einer der revolutionären Kieler Matrosen der Meuterei vom Oktober 1918. Besonders in Antwerpen entstand eine den illegalen Widerstand prägende Gruppe. Ohne formale Mitgliedskartei, über Vertrauensleute in Häfen und Bordvertrauensleute, die zumeist selbst Seeleute waren, konnten Spitzel effektiv ausgeschaltet werden. Noch 1939 hatte allein die Antwerpener Gruppe noch 300 Vertrauensleute auf deutschen See- und Binnenschiffen. Es sollten sowohl illegale Waffentransporte der Deutschen für den Franco-Faschismus beobachtet und, wenn möglich, verhindert werden, als auch Aktionen bis hin zur Sabotage ausgeführt werden. Während letzteres eher den Eisenbahnern gelang (1940 entgleisten drei Züge in Deutschland, weitere Züge wurden von Aktivisten durch Auswechseln der Leitzettel an Güterzügen fehlgeleitet; S. 146), waren die Seeleute bei der Aufdeckung deutscher Waffentransporte nach Spanien erfolgreich: dass die Nazis durch das Bekannt werden ihrer Waffentransporte international Schwierigkeiten bekamen, weil sie sich offiziell zur Neutralität verpflichtet hatten, ist nahezu vollständig der ITF zu verdanken, die zu diesem Zweck auch mit westlichen Geheimdiensten zusammen arbeitete. Gegen Ende des Krieges halfen ITF-Aktivisten, deutschen Seeleuten von ihren Schiffen zu entlaufen (S. 152).
Gerd-Rainer Horn beschreibt in „Mentalität und Revolution“ die Lebensbedingungen ausländischer RevolutionärInnen in der katalanischen Revolution anhand der Privatbriefe der US-amerikanischen AktivistInnen der POUM (Vereinigte Marxistische Arbeiterpartei, unabhängig, ging Bündnisse mit den AnarchistInnen ein), Lois und Charles Orr. Sehr interessant sind ihre Beobachtungen und subjektiven Erfahrungen, die von der ersten Begeisterung in Barcelona über das tägliche Essen bis hin zu Wohnungsverhältnissen reichen. Horn kritisiert anschaulich, dass die politischen Intellektuellenzirkel der internationalen RevolutionärInnen eine spannende, aber auch abgeschlossene Welt bildeten, bei denen Interesse an und Kontaktaufnahme mit der örtlichen katalanischen Bevölkerung oft keine Rolle spielte. Sehr erhellend ist auch der Aufsatz von Reiner Tosstorff über den „spanischen Anarchismus nach 1939 in der französischen Résistance und im innerspanischen Widerstand“, über die Situation nach der Niederlage, die Rekonstruktion der spanisch-anarchistischen Bewegung 1939 in Frankreich und des illegalen Kampfes in Spanien (Valencia, Estebàn Pallarols). Es geht um den Guerillakrieg in Spanien in den vierziger und fünfziger Jahren, der unter immer schwierigeren Bedingungen geführt wurde, die Gewerkschaften immer mehr von der Guerilla abhängig machte, und zudem die Polizei bei ihrer Repression gegen die Guerilla auf die Spur der Gewerkschaftsorganisation brachte. Es geht um die Spaltung der CNT (anarchosyndikalistische Gewerkschaft Spaniens) im französischen Exil auf einer Reihe von Konferenzen nach der Befreiung 1945 in Paris, wo eine bündnispolitisch (mit Exilregierung und anderen Parteien zusammen arbeitende) Minderheit (Prieto, Leiva) einer Mehrheit gegenüber stand (Federica Montseny), die zurück zum „reinen“, traditionellen spanischen Anarchismus wollte. Weder die anarchistische Guerilla in Spanien, die zerschlagen wurde, noch die gespaltene CNT im Exil hatte dann Einfluss auf die entstehende Streikbewegung der linkskatholischen „Arbeiterkommissionen“ in den sechziger Jahren, die tatsächlich das Ende Francos einläuteten.
Am Ende des Buches stehen jede für sich sehr lesenswerte biographische Aufstätze über einzelne libertäre und linkskommunistische deutsche Widerstandskämpfer: Hartmut Rübner schreibt über den Delmenhorster Wilhelm Schroers (dieser Aufsatz erschien bereits in GWR Nr. 215); sehr interessant der um mentalitätsgeschichtliche Aspekte erweiterte Aufsatz von Tânia Ünlüdag über die Wuppertaler Brüder Benner, ihren Antidogmatismus und ihren „anarchistischen Charakter“; kurios der Lebensweg von „Jan Appel, einem deutschen Rätekommunist im niederländischen Exil 1926-1948“, beschrieben von Hubert van den Berg; ebenso die Biographie von Karl Plättner, einem Linkskommunisten und Aktivisten des mitteldeutschen Aufstands von 1921, und seinem Leidensweg über mehrere Todesmärsche und Nazi-KZs, die Knut Bergbauer verfasst hat. Ergänzend beschreibt Günter Wernicke in „Operation Vorgang (OV) ‚Abschaum'“ die Überwachung der deutschen Trotzkisten durch die DDR-Stasi in den 50er Jahren als letzten Beitrag des Buches.
Nur auf den ersten Blick gehört das nicht zum Thema, denn schon in den anderen Aufsätzen wird deutlich, dass sich die AnarchistInnen und RätekommunistInnen in ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus immer wieder politisch, und manchmal sogar physisch, den auf sie gezielten Taktiken und Repressalien der stalinistischen Linken ausgesetzt sahen. Wenn die Beiträge in der Gesamtschau überblickt werden, schält sich heraus, dass dabei tendenziell in Spanien, Frankreich oder auch bei den internationalen AnarchistInnen in der spanischen Revolution aufgrund der Erfahrung mit der stalinistischen Verfolgung hinter der Front die Aversion der AnarchistInnen gegen die KommunistInnen größer war als etwa in Deutschland, wo 1933 die anarchistische Bewegung bereits nur noch wenige Tausend Mitglieder hatte, streikunfähig war und also auf Aufrufe zur Einheit der Arbeiterparteien, Bündnisse oder die informelle Zusammenarbeit einzelner mit dem kommunistischen Widerstand angewiesen war. Es wird deutlich, dass in Westeuropa und Italien in den dreißiger und vierziger Jahren tatsächlich ein eigenständiger anarchistischer Widerstand gegen Hitler, Mussolini & Franco möglich war, während in Deutschland selber die anarchistische Bewegung im Grunde kurz nach ihrem größten Sieg, dem erfolgreichen Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920, mit der unglückseligen „Roten-Ruhr-Armee“ und ihrer Niederlage noch im selben Jahr weitgehend zerschlagen war. Darauf noch mal genauer einzugehen, habe ich in den Beiträgen vermisst – vielleicht der einzige Kritikpunkt an diesem überaus guten, wichtigen Buch.