„Und sie mischten zusammen,
was nicht zusammen gehört.
Um die Wichtel zu wecken.
Die Wichtel, die überall
die Dinge in ihrem Innersten bestimmen,
die unberechenbar,
meist das unerwartete tun, nur um sich dann wieder
auf die faule Haut zu legen.
Abertausende von Wichteln,
unbestimmbar und durcheinanderwuselnd,
nicht zu trennen.
Ein Universum der Wichtel.“ (1)
Was bestimmt die Naturwissenschaft?
Jede Wissenschaft hat ihre spiegelbildliche Rückseite. Damit lassen sich all die Dinge bezeichnen, die ausgeschlossen werden in der alltäglichen naturwissenschaftlichen Praxis, als Schmutz- und Störeffekt in der Empirie. In der Theorie geht es hier um das Andere der bürgerlichen Vernunft (2) und um das mit binärer Rechenlogik, der quantitativen messenden Theorie, nicht Faßbare (3). Die Ausschlüsse bestimmen wesentlich, was Naturwissenschaft ist, was als naturwissenschaftliches Faktum Gültigkeit bekommt.
Und das heißt in der Moderne, welchen Dingen Realität zu- und welchen Realität abgesprochen wird. Die Naturwissenschaft hat die Theologie als Norm setzende Instanz abgelöst. So entschied im Mittelalter noch die Kirche im Zweifelsfall über die Geschlechtszugehörigkeit (4). Heute werden Kleinstkinder bei Abweichung zwangsoperiert – über das Geschlecht entscheidet in der Regel ‚der‘ Arzt. Die geschlechtliche Eindeutigkeit wird produziert und mit ihr zwei biologische Geschlechter. (5)
Die Naturwissenschaft setzt also ihre Ausschlüsse gewaltsam in Realität um. Sie (über)formt die Realität nach ihrem Bild von der Realität. Der Ausschluß verbleibt nicht in der Theorie – was nicht paßt wird eliminiert. Und die Ausschlüsse sind gesellschaftliche Setzungen.
NaturwissenschaftlerInnen behaupten hingegen meist: „Es gibt keine linke oder rechte Naturwissenschaft, keine kapitalistische Naturwissenschaft, sondern nur gute oder schlechte Naturwissenschaft“
Nur welche/wer bestimmt dann, was gute oder schlechte Naturwissenschaft ist? Und nach welchen Kriterien?
Die Behauptung, allein die Funktionalität, das heißt die Fähigkeit der Naturwissenschaften, den Zugriff der Menschen auf Natur effektiver zu gestalten, sei ausschlaggebend, ist durch die Naturwissenschaftsgeschichte widerlegt.
Die moderne Medizin hat sich z.B. zu Beginn der Neuzeit aufgrund außerwissenschaftlicher Bedingungen durchgesetzt. Die ‚modernen‘ Ärzte haben zu dieser Zeit (15. bis 17. Jahrhundert), z.B. aufgrund mangelnder Hygiene in der Geburtshilfe, erheblich häufiger den Tod ihrer PatientInnen verursacht als die traditionelle Medizin. Sie hatten auch weniger Erfahrungswissen. Der Erfolg ärztlicher Behandlungen war wesentlich geringer als der durch die Behandlung durch die alten Heilberufe. Die ‚moderne‘ Medizin hat sich nicht aufgrund medizinischer Erfolge zu diesem frühen Zeitpunkt behauptet, sondern aufgrund ihrer Funktionalität für eine Modernisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, also aufgrund ihrer Funktionalität zur Durchsetzung neuer Herr-schafts und Normierungsmuster. Und auch aufgrund ihres Zusammenspiels mit anderen Modernisierungen bei der Herausbildung des bürgerlichen (männlichen) Subjekts, also einer neuen Definition des Menschen. (6) Die Entwicklung der ‚modernen‘ Medizin wurde also wesentlich durch außerwissenschaftliche Faktoren bedingt.
Ähnliches gilt auch für die Naturwissenschaften und die Mathematik. Feministische Theoretikerinnen wie Elvira Scheich (7), Carolyn Merchant (8), u.a. weisen auf den Zusammenhang zwischen der Warentauschlogik, ihrer Verallgemeinerung im aufkommenden Kapitalismus, und der Entwicklung der naturwissenschaftlich-mathematischen Logik9 hin. Und sie zeigen, wie beide zusammen die Ausgrenzung der Frau und der Reproduktionssphäre aus dem Gesellschaftlichem – ihre Erklärung zur Natur, die Mann sich kostenfrei aneignet, – betreiben. Luce Irigaray hat schon Jahre vorher die Parallelität des Ausschlußes der Frau (‚Die FRAU existiert nicht.‘ (Jaques Lacan)) aus der symbolischen psychoanalytischen Ordnung, die das männliche Subjekt konstituiert, und der Ausschlüsse der Physik dargestellt (10).
Die Naturwissenschaft ist eine Herr-schaftswissenschaft, sie wird durch diese Interessen bestimmt. Ich sage damit nicht, daß diese Wissenschaften nicht auch inneren Rationalitäten und funktionalen Erwägungen folgen. Naturwissenschaft und Technik genügen auch einer naturwissenschaftlich-technischen Rationalität. Für jede naturwissenschaftliche Frage gibt es aber unendlich viele, wenn auch nicht beliebige Lösungen. Für welche ich mich entscheide, ist eine zutiefst politische Frage. Hermann Weyl, einer der wichtigsten Mathematiker und mathematischen Physiker des 20. Jahrhunderts stellt fest, daß immer nur das Ganze von Theorie und Empirie überprüfbar ist (11). Es gibt keine vortheoretische Erfahrung. In jede Erfahrung, jede Empirie, fließt bereits ein vorher ‚Gewußtes‘ ein, und strukturiert sie. Die gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Ziele bestimmen wesentlich die naturwissenschaftliche Theorie und Praxis mit. Und die Naturwissenschaften formen danach die Realität.
Eine Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse muß also eine Revolution der Naturwissenschaften beinhalten.
Atomkraft oder Steinzeit? Computer oder Rückschrittlichkeit? Kapitalismus oder Tod? – Das sind keine Alternativen.
Wir brauchen eine ganz andere Naturwissenschaft. Eine die das Ausgeschloßene zurückfluten läßt. Die Naturwissenschaften damit ganz neu aufkocht. Eine Naturwissenschaft, die die Medusa weckt – die in der herr-schenden symbolischen Ordnung als Bild für das Ausgeschlossene der (männlichen?) Vernunft steht. Eine naturwissenschaftliche Theorie und Praxis der Rückseite des Spiegels. Und eine Theorie und Praxis, die keine neuen Ausschlüsse setzt – kein Herrscher ist der einzig gute Herrscher. D.h. es geht um eine Praxis, die sich ihrer Schlüsse bewußt ist und sie immer wieder aufhebt – die sich eben selbst als Praxis begreift, Aufklärung auch über sich selbst, und nicht als Erleuchtung.
In vielen ‚alternativen‘ naturwissenschaftlichen Ansätzen wird nur der Inhalt ausgetauscht, mit der Übernahme des naturwissenschaftlichen Erkenntnisapparates bleibt aber die autoritäre Struktur der naturwissenschaftlichen Theorie und Praxis bestehen.
Eine anarchistisch-feministische Naturwissenschaftstheorie und – praxis muß die absolute und eindeutige Wahrheitssetzung außer Kraft setzen, um nicht selbst die Ausschlüsse und die Herr-schaftspraxis fortzusetzen. Sie muß nicht nur ihre Inhalte hinterfragen, sondern auch in einem permanenten Prozeß auf die gesellschaftliche Bedingtheit ihrer Formen und Mittel reflektieren. Sie muß sich selbst als Ideologie begreifen und in diesem Sinn ihren Wahrheitsanspruch selbst dekonstruieren. Eine Naturwissenschaftstheorie und -praxis die gleichzeitig Theorie und Praxis ihres eigenen Umsturzes ist, alltägliche Revolution. Eine Naturwissenschaft, die ihre eigenen notwendigen ideologischen Setzungen ausstellt, und sich selbst als Lüge, die sie auch ist, zur Disposition stellt.
Wie könnte eine solche feministisch-anarchistische Naturwissenschaftspraxis und -theorie konkret aussehen?
Ich möchte im folgenden einige konkrete Ansätze darstellen, um zur Hinterfragung von Normen und selbstverständlich erscheinenden Vorannahmen, die die Naturwissenschaften heute bestimmen, zu kommen. Es geht darum zu begreifen, wo kapitalistische, sexistische oder rassistische Setzungen in den Naturwissenschaften wirken und wie. Dies ist nicht zu trennen vom Subjekt, unserer Selbstkonstruktion in dieser Gesellschaft. Denn dort wo das SELBST-Verständnis des weißen heterosexuellen Mannes die Naturwissenschaften, als von ihm gemachte, herstellt und die Wahrheiten der Naturwissenschaften bestimmt, ist eine Hinterfragung seines Herr-schaftsanspruches ohne Reformulierung der Naturwissenschaften nicht durchführbar.
Insofern zielen all die folgenden Absätze auf die Infragestellung dieses herr-schenden Subjekts, darauf die dieses Subjekt und seine Objektwelt konstituierenden Erkenntnispraxen aufzulösen, also auf die Außerkraftsetzung des Subjekt-Objektverhältnisses, das z.B. wesentlich das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, weiß und schwarz, usw. bestimmt.
Dies führt zu unterschiedlichen Ansätzen, dieses Subjekt aufzukochen bis es zerfällt, und seinen Anspruch auf die Bezeichnungsmacht, auf die Macht zu bestimmen, was ist, aufzulösen im Sud einer Mischung all der Dinge, die nach ihm nicht zusammen gehören, schwarz – weiß, mann – frau, schwul – hetero, usw..
Der wissenschaftsgeschichtlich-ethnomethodologische Ansatz
Dieser Ansatz basiert im Wesentlichen auf der Rückbindung wissenschaftsgeschichtlicher und ethnomethodologischer (und auch sozialwissenschaftlicher) Untersuchungen der gesellschaftlichen Bedingtheit naturwissenschaftlichen Wissens in die Naturwissenschaften.
Konkret bedeutet dies z.B., frühere Ansätze in den Naturwissenschaften und ihre Formen der Wahrheitsproduktion zu untersuchen. Z.B. Untersuchungen zur Geschichte der Metereologie, die im 19. Jahrhundert als (männliche) Heldengeschichtsschreibung (12) nach Außen dargestellt wurde, und der wissenschaftsimmanenten Auswirkungen bis heute. Oder historische Untersuchungen zur Mathematik die aufzeigen, daß es mathematische Systeme mit kontextabhängigen Symbolen gab, und, daß das, was aussagbar/beweisbar/berechenbar in einem mathematischen System ist, wesentlich vom System und der zugrundegelegten Zahlenmenge abhängig ist, und die hinterfragen aufgrund welcher gesellschaftlichen Bedingungen zu bestimmten Zeiten welche Grundlegungen erfolgten. Aber auch Untersuchungen, die zu begreifen versuchen, wie Erkenntnispraxen in anderen Kulturen funktionieren und dies ins Verhältnis zur eigenen Erkenntnispraxis stellen, würden hier reinfallen. Es kann aber auch darum gehen zu fragen, wie sich Finanzierungssysteme in der wissenschaftlichen Wahrheitsproduktion abbilden, usw..
Ausgehend davon kann dann die Naturwissenschaft als historisch und gesellschaftlich gewordene reformuliert werden. Und, da dies die ERkenntnis an sich betrifft, wird auch das Subjekt, Geschlecht, Rasse als historisch Gemachtes sichtbar.
Nun sind große Teile der wissenschaftsgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Forschung nicht weniger unreflektiert als die Naturwissenschaften. Auch sie reproduzieren in ihren Forschungen unhinterfragt gesellschaftliche Herr-schaftsverhältnisse und Stereotype. Die SoziobiologInnen die immer nur wieder sich selbst, ihre Verhaltensweisen und Vorurteile in der ‚Natur‘ ‚entdecken‘, sind hier nur das extremste Beispiel.
Wenn ich hier für eine Bezugnahme auf Sozial- und Geschichtswissenschaften spreche, dann meine ich die kleineren Teile, die sich als (herr-schafts)kritische Theorie konstituieren – feministische Theorie, Teile der poststrukturalistischen Theorie, frühe kritische Theorie, .. . Dabei will ich mit diesen Ansätzen Naturwissenschaft als offenen Zirkel konzipieren.
Beziehe ich z.B. die Abhängigkeit von den Grundlegungen und den gesellschaftlichen Bedingungen in die Aussagen der Mathematik mit ein, würde dies dazu führen, daß mir alternative Ausssagen offen stünden und ich zwischen ihnen eine bewußte politisch-individuelle Entscheidung treffen müßte. Eine Entscheidung, die als Entscheidung auch hinterfragbar wäre. Im Gegensatz zur derzeitigen mathematischen Praxis in der die Grundlegungen über das Erlernen einer Technik und ihrer Anwendung unbewußt reproduziert werden.
Eine solche Mathematik sähe dann z.B. so aus, daß ich die babylonische Mathematik, ihre Setzungen, und den Zusammenhang mit der babylonischen Agrargesellschaft diskutieren würde um im Abgleich dazu die Setzungen der rechnergestützten Mathematik unserer Zeit im Kontext der postmodernen Industriegesellschaft zu untersuchen. Um dann zu hinterfragen, in wie weit nicht auch ganz andere Setzungen in der Mathematik möglich wären und welche politischen Implikationen dann diese Setzungen hätten?
Alternative Wissenschaftsansätze
Im Laufe der Jahrhunderte aber auch in unserer Zeit gab und gibt es nicht nur den einen hegemonialen Diskurs der Naturwissenschaften, d.h. es gab und gibt alternative Ansätze einer anderen Naturwissenschaftstheorie und -praxis parallel zur bestehenden Wissenschaft – z.B. magische Praxen (13), alchemistische Theorieansätze (14), aber auch den Intuitionismus in der Mathematik (15).
Diese anderen nicht hegemonialen, und das heißt auch nicht aus den bestehenden hegemonialen Herr-schaftsverhältnissen resultierenden Ansätze einer anderen Naturwissenschaft, können als Ausgangspunkt für Alternativen auch heute sinnvoll sein. Da sie quer zu den bestehenden Theorien und Herr-schaftsverhältnissen liegen, können sie den Blick für das Ausgeschlossene öffnen.
D.h. auch, daß sie von einer anderen Wahrheit des Subjekts ausgehen, daß diese Erkenntnispraxen von Subjekten praktiziert wurden, die nicht das Subjekt sind, welches wir heute kennen. Deutlich wurde dies z.B. für das sexuelle und biologische Geschlecht von AutorInnen wie Thomas Laquer (16) und Barbara Duden (17) aufgewiesen. So war das biologische Geschlecht, der gelebte vergeschlechtlichte Leib im Mittelalter ein real anderer als heute. So hatten auch ‚Männer‘ ihre Tage und Blutungen.
Ein Beispiel für eine solche alternative naturwissenschaftliche Praxis sind z.B. HeilpraktikerInnen. Das Problem ist aber, daß diese häufig genauso dogmatisch bzw. theoriefeindlich wie die herrschende Medizin agieren oder sich dieser unterordnen. Notwendig wäre aber eine Hinterfragung beider Ansätze durcheinander und ein kritisch rationaler Diskurs, der sich daraus entwickelt, und so die Möglichkeit für beide öffnet, aus Dogmatismus und Esoterik heraus zu einer bewußten, die eigenen subjektiven Setzungen begreifenden, Praxis zu kommen. Und so nicht nur diese beiden, sondern auch dritte, vierte, fünfte Möglichkeiten aufzuzeigen. Eine Praxis, die es auch ermöglichen müßte, die (politischen) Setzungen bzgl des Subjektes (der Menschen) zu thematisieren.
Außerkraftsetzung der Wirklichkeitssetzung
Viele Stereotype, viel an herr-schender Ideologie, fließt unbewußt in unsere Anschauung und unser Denken ein, auch in die naturwissenschaftliche Theorie und Praxis. Eine Möglichkeit diesen Stereotypen beizukommen ist, Anschauungen ernst zu nehmen, die aus der ’normalen‘ Wirklichkeitswahrnehmung ausgegrenzt werden. Eine Ausgrenzung, die gerade die Normalität herstellt. D.h. es geht hier um den Einbezug von Erfahrungen des Wahnsinns und von Wahrnehmungen unter der Wirkung psychogener Substanzen in die naturwissenschaftliche Erkenntnispraxis. Zum Teil würde hierzu auch der Einbezug der Wirklichkeitswahrnehmungen nicht dem Rationalitätsideal verpflichteter Kulturen gehören, z.B. mystischer Erfahrungen oder das Dreaming der Aborigines. (18) Und in ähnlicher Weise könnten evtl. auch Wahrnehmungsstrukturen der nichtoptischen Sinne aufgegriffen werden, da Riechen z.B. nicht euklidisch (rechtwinklig) räumlich auffaßbar ist.
Und auch hier kommt es wieder zur Infragestellung des Subjektes, das sich mit der Moderne immer ausschließlicher über den optischen Sinn, die Anschauung, raumzeitlich konstituiert hat unter Ausschluß der habtischen (19) Erfahrung. Störungen der Euklidizität (Rechtwinkligkeit) der Anschauung, der Verortung in Raum und Zeit gelten nicht zufällig als Zeichen einer Störung (Schizophrenie), die unter das Kuratel der Psychiatrie gestellt wird. Unter Rekurs auf die feministische Theorie ließe sich fragen, inwieweit, die Ausgrenzung von Berührungserfahrungen und Geruch nicht der Angst der Männer, vor der Erinnerung an frühkindliche Abhängigkeit, meistens von einer Frau, geschuldet ist, und inwieweit, sich nicht diese Angst im männlichen Subjekt in der Dominanz des Optischen materialisiert hat.
Auch hier geht es wiederum darum diese Sinneseindrücken gerade aufzunehmen um sie als Ausgangspunkt kritischer rationaler Hinterfragung zu nutzen und nicht als esoterisch autoritäre Erleuchtung.
Ein Beispiel für eine solche Praxis wäre z.B. das frühzeitige Aufgreifen des Zusammenbruchs der Euklidizität (Rechtwinkligkeit) der Raumwahrnehmung im Drogenrausch gewesen. Eine kritisch rationale Hinterfragung hätte sehr schnell zu der Erkenntnis führen können, das die euklidische nur eine mögliche Form der Wahrnehmung ist. Wäre dieses ‚Wissen‘ über die Existenz nichteuklidischer Räume frühzeitig aufgegriffen worden, hätte sich die Mathematik und auch die Physik sehr viel schneller entwickeln können und vielleicht auch noch ganz anders, als wir sie heute kennen.
Untersuchung der Metaphern
Da die meisten naturwissenschaftlichen Theorien trotz aller Ausschlüsse einen allumfassenden Anspruch formulieren, in dem Sinn, daß sie behaupten, nicht nur eine Sichtweise auf die Dinge, die sie beschreiben, zu repräsentieren, sondern die Wahrheit über die Dinge auszusagen, werden in den Naturwissenschaften häufig Begriffe verwendet, die das Ausgeschlossene umfassen, aber nur um es sich durch Nennung scheinbar anzueignen, ohne dies wirklich zu wollen.
So wird im Begriff des Datenflusses zwar das ausgeschlossene Flüssige des Sprechens oder Schreibens – die Nichteindeutigkeit – mitbenannt. Aber wenn die Daten sich tatsächlich flüssig verhalten – Wirbel, Strudel und beliebige Durchmischungen stattfinden, wird dies als Fehlfunktion aufgefaßt. Das heißt natürlich soll hier gar nichts fließen, die Zahlenreihen soll bürokratisch in Ordnung bleiben. Dadurch sind sie im Gegensatz zu Sprache oder Schrift aber nicht mehr in der Lage Ambivalenzen zu erfassen. Dies wird mit der Metapher des Datenflusses verschleiert.
Die Metapher kann so aber auch dazu genutzt werden, das in ihr benannte Ausgeschlossene aufzufinden. (20)
Ein konkretes Beispiel für die Anwendung in den Naturwissenschaften könnte das Aufgreifen der Textmetapher in der Genetik bilden. Ein Text ist ansich etwas höchst uneideutiges, fluides, kontextabhängiges, die Beutung ist immer eine Frage der Interpretation. Eine Ausweitung und Radikalisierung der Textmetapher für die Genetik würde die Uneindeutigkeit, die Nichtfestlegung durch Gene fassen.
Wie bei einem Text würde dann klarwerden, daß auch Gene unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten bieten, und je nach Umfeld völlig unterschiedliche, bis hin zu entgegengesetzten, Bedeutungen erhalten. Denn wie bei einem Text ist die Bedeutung der Gene abhängig von der Niederschrift (Art und Weise der Entstehung), der AutorIn (dem angenommenem Umfeld beim Entstehen und dem realem Umfeld), dem Kontext (der Umwelt und gesellschaftlichen Zustände), und der Lesenden (z.B. vom psychischen Befinden).
All diese Dinge sind aber weder vollständig bekannt noch in sich eindeutig oder fest sondern fließend. Entsprechend ist die Bedeutung des Gens im Fluß.
Dies würde auch für Viren und Ähnliches gelten.
Damit kämen wir zu einer ganz anderen Medizin, die zum Beispiel (sozial)rassistische Vereindeutigungen von vornherein ausschließen würde. Theraphien müßten dann statt auf Ausmerzung einzelner Buchstaben vielmehr auf die Kontexttualität gerichtet sein. Z.B. könnte Krebs so, statt als bösartige ‚Entartung‘, als falsche Interpretation durch die Zelle aufgefaßt werden. Die Zellen müßten dann eine Interpretationshilfe erhalten. Dies wäre aber ein ganz anderer Theraphieansatz als der heute mit Chemotheraphie usw. praktizierte – d.h. der Ausrottung abweichender Zellen, entsprechend eines klassisch eugenischen auf die Zellen bezogenen Blicks.
All dies und vieles mehr kann Ausgangspunkt einer anarchistisch-feministischen Naturwissenschaftstheorie und -praxis sein – auch ganz konkret. Nun fragt ihr vielleicht; „Was ist anarchistisch-feministisch an Kristallisationsprozessen oder der Agregation von Schleimpilzen? – bzw. was ist sexistisch, kapitalistisch daran?“
Zum Beispiel die vortheoretische Annahme, es müßte Mastermoleküle (21) geben, die das Geschehen bestimmen. Zum Beispiel die vortheoretische Annahme, es gäbe Gesetze. Zum Beispiel die vortheoretische Annahme, dies ließe sich in Strukturen binärer Logik faßen, und der ‚Rest‘ wäre vernachlässigbar. Zum Beispiel die Ausgrenzung der Ausnahmen, die Zurichtung der Empirie. Usw.
Es geht um das Ausgegrenzte – keine Grenzen – nie – nich – nirgends! Freiheit für die Wichtel!
(1) Seite 16 - Djuren, Jörg - Physik als anarchistische Textpraxis - Hannover 2002
(2) Irigaray, Luce - Die Mechanik des Flüssigen - in: Das Geschlecht das nicht eins ist - Berlin 1979
(3) Kumbruck, Christel - Die binäre Herrschaft: Intuition und logisches Prinzip - München 1990
(4) Laquer, Thomas - Auf den Leib geschrieben - München 1996
(5) Siehe z.B. die Texte der Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie - Hg: AGGPG Brandstr. 30 28213 Bremen - Hermaphroditen im 20. Jahrhundert - Bremen 1997
(6) Foucault, Michel - Die Geburt der Klinik - München 1973
(7) Scheich, Elvira - Naturbeherrschung und Weiblichkeit Abstrakte Bewußtseinsstrukturten und unbewußte Gesellschaftlichkeit der objektiven Wissenschaften - Dissertation / Frankfurt 1989
(8) Merchant, Carolyn - Der Tod der Natur - München 1987
(9) Ortlieb, Claus-Peter - Bewußtlose Objektivität Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaften - publiziert im Internet durch Prof.Dr. C.P. Ortlieb (Systhemtheorie Fachbereich Mathematik Universität Hamburg) Hamburg 2001
(10) siehe Fußnote 2
(11) Weyl, Hermann - Raum Zeit Materie - Berlin/Heidelber/New York/.. 1988
(12) Höhler, Sabine - Heldengeschichten. Zum Verhältnis von Männlichkeit und wissenschaftlicher Objektivität am Beispiel der aeronautischen Meteorologie [Ballonfahrten] um 1900 - In: NUT - Frauen in Naturwissenschaft und Technik Schriftenreihe Band 5 - Science und Fiction - Mössingen Talheim 1998
(13) Siehe hierzu Sarah Jansen. - Jansen, Sarah - Magie und Technik . Auf der Suche nach feministischen Alternativen zur patriarchalen Naturnutzung - In: beiträge zur feministischen theorie und praxis 12 Natur Technik Magie Alltag - Köln 1984
(14) Die historische Entwicklung und die Bedeutung für die männliche Subjektkonstitution, beim Umbruch von alchemistischenr Theorie und Praxis zur Neuzeit ist z.B. von Evelyn Fox Keller ausgeführt worden. - Keller, Evelyn Fox - Liebe, Macht und Erkenntnis - München 1986 (Neuauflage im Argumentverlag 2001)
(15) Weyl, Hermann - Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik - in: Gesammelte Abhandlungen Band II - Berlin 1968 / Weyl, Hermann - Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik - in: Gesammelte Abhandlungen Band II - Berlin 1968
(16) Siehe Fußnote 4
(17) Duden, Barbara - Geschichte unter der Haut - Stuttgart 1991
(18) Interessant ist für all dies ein Text von Bernd Nitschke. - Nitschke, Bernd - Die Zerstörung der Sinnlichkeit - München 1974
(19) Erfahrung durch leibliche Berührung.
(20) Wie gefährlich eine solche Praxis für das männliche aber auch weibliche bürgerliche Subjekt ist, ist in der Literatur deutlich zu sehen. Nicht wenige AutorInnen (z.B. DaDaistInnen, u.a. AutorInnen der literarischen Moderne), die das Spiel mit der Metapher wagten, die das gesellschaftlich unbewußte aussprachen, fanden sich am Schluß in der Irrenanstalt.
(21) Ein konkretes Beispiel für ein derartiges Problem wird von Evelyn Fox Kelller beschrieben, - Keller, Evelyn Fox - Liebe, Macht und Erkenntnis - München 1986 (Neuauflage im Argumentverlag 2001)