Manfred Horn ist diplomierter Soziologe und Kommunikationswirt. Seit 1995 arbeitet er im Hörfunk- und Printbereich, war u.a. Redakteur der Wochenzeitung Bielefelder StadtBlatt, zur Zeit ist er freier Journalist und Mediengestalter. Kontakt: manfred_horn@web.de
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8. Empirisches Untersuchungsdesign für deutsch-und türkischsprachige Print- und Hörfunkmedien
„Wie positionieren sich bilinguale, deutsch- und türkischsprachige Print- und Hörfunkmedien? Brechen sie bestehende ethnische Dispositionen auf, wie sie im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurden? Um diese Fragen beantworten zu können, wurden insgesamt zehn Medien ausgewählt und in Form von Interviews mit ihren MacherInnen erfasst. Im Printbereich sind es die Zeitungen Persembe, otkökü, Hürriyet, Dünya, Arkadas und Evrensel, im Hörfunksektor Cafe Alaturka, Cilgin (beide WDR-Funkhaus Europa), Radio MunihFM und Radio Kaktus.
Für die Interviews wurde folgendes empirisches Design gewählt:
1. Erhebung der Basisdaten
- Geschichte des Mediums?
- Erscheinungsweise (täglich/ wöchentlich…)?
- Umfang des deutschsprachigen Teils?
- Umfang des türkischsprachigen Teils?
- Welche Beziehung haben die deutsch- und türkischsprachigen Anteile, finden sich Übersetzungen?
- Höhe der durchschnittlichen verkauften Auflage/HörerInnenzahl?
- Eigentumsverhältnisse am Medium?
- Höhe der Anzeigenerlöse, des Umsatzes und des Gewinns?
2. Meinungs-/ Einstellungsfragen
- Halten Sie eine multikulturelle Gesellschaft/kulturelle Vielfalt/Transkulturalismus in der Bundesrepublik für erstrebenswert?
- Wenn ja, sind zweisprachige Medien ein wichtiger Baustein dazu?
- Wenn nein, warum produzieren Sie dann ein zweisprachiges Medium?
- Ist Sprache für Sie ein bedeutendes kulturelles Merkmal?
- Wenden Sie Sprache pragmatisch an?
- Ist Zweisprachigkeit medialer Ausdruck einer eigenständigen Kultur der ‚Deutsch-Türken‘?
- Sehen Sie einen Markt für bilinguale, deutsch- und türkischsprachige Medien in der Bundesrepublik?
Die Auswertung der Interviews wurde ergänzt durch eine diskursanalytische Betrachtung der Medien. Die zentrale Fragen waren hierbei:
- Welche Themen aus welchem Diskurs nimmt das Medium auf?
- Wo liegen die inhaltlichen Schwerpunkte des Mediums?
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9.3. otkökü
Als vierseitige Beilage der Monatszeitung Graswurzelrevolution erscheint seit März 2001 die deutsch- und türkischsprachige Zeitung otkökü („Graswurzel“). Entgegen dem monatlichen Erscheinungsrhythmus der Graswurzelrevolution kommt sie allerdings nur alle drei Monate heraus. Anders als Persembe, die als eigenständige Zeitung mit eigener Redaktion und Verantwortlichkeit die TAZ lediglich als Trägermedium nutzte, ist otkökü eng mit der Zeitung Graswurzelrevolution verbunden. Bereits seit 1972 erscheint die Abonnementzeitung Graswurzelrevolution, die für eine Welt eintritt, in „der die Menschen nicht länger wegen ihres Geschlechtes oder ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeugung, wegen einer Behinderung, aufgrund rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert werden. Wir streben an, dass Hierarchie und Kapitalismus durch eine selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesellschaft ersetzt werden.“ (34) Graswurzelrevolution ist als anarchistische und damit verbunden antimilitaristische Zeitung einzuordnen.
Innerhalb der Struktur von Graswurzelrevolution spricht otkökü deutschlandstämmige und türkeistämmige Menschen an. Dabei wird otkökü in der Regel als Einlage der Graswurzelrevolution in einer Auflage von 4.000 Stück vertrieben, sie kann allerdings auch in größeren Stückzahlen separat bestellt werden. Derzeit werden auf diesem Weg 2.000 Exemplare verkauft. Themensetzung und Verfassen der Artikel finden in der Türkei statt, Layout und Verkauf organisiert das Redaktionsbüro in Deutschland. Wirtschaftlich ist otkökü Bestandteil der Graswurzelrevolution. Herausgeber ist der Verlag Graswurzelrevolution e.V. mit Sitz in Heidelberg. Die Zeitung sichert ihre Existenz durch Abonnements, Spenden und in geringem Umfang durch Anzeigenerlöse (300 Euro im Monat).
Zur Zeit ist Bernd Drücke Koordinationsredakteur. Da Graswurzelrevolution basisdemokratisch organisiert ist, wird Drücke vom 20-köpfigen HerausgeberInnenkreis in diese Position gewählt und stimmt die Themen der Zeitung mit dem HerausgeberInnenkreis ab. Drücke arbeitet in einer Art virtueller Redaktion, er sitzt zwar in einem Büro, die Diskussion mit den HerausgeberInnen läuft aber über eine Mailing-Plattform. Als Bewegungsblatt verfügt Graswurzelrevolution über geringe finanzielle Mittel. Drücke erhält lediglich 700 Euro im Monat, und das bei Wochenarbeitszeiten von im Schnitt 60 Stunden.
Die redaktionelle Arbeit von otkökü leistet vor allem Osman Murat Ülke. Er koordiniert, schreibt und übersetzt otkökü von Izmir aus, mit 250 Euro bezahlt vom Verlag Graswurzelrevolution in der Bundesrepublik. Ihm wiederum arbeiten anarchistisch und antimilitaristisch Bewegte zu, sie alle sind keine professionellen JournalistInnen. Ülke überarbeitet deren Texte und übersetzt sie ins Deutsche. Ülke verbrachte seine ersten 15 Lebensjahre in Deutschland, inzwischen lebt er seit 18 Jahren in der Türkei. „Dort ist er durch seine öffentliche Kriegsdienstverweigerung bekannt geworden“, sagt Koordinationsredakteur Drücke. (35) In der Türkei gibt es anders als in Deutschland kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Auf Grund seiner Kriegsdienstverweigerung war er bis 1999 über zwei Jahre im Gefängnis – weltweit protestierte die antimilitaristische Bewegung gegen seine Haft. Zur Zeit ist er semilegal, weil die Bedingung für seine Freilassung war, seinen Wehrdienst anzutreten. Dem ist Ülke bis heute nicht gefolgt: Im Gegenteil, als Redakteur von otkökü tritt er verstärkt in die Öffentlichkeit, um gegen Militarismus anzuschreiben.
Die Idee für die Zeitung entstand, als Drücke im Sommer 2000 Ülke in der Türkei besuchte. Nach dem ursprünglichen Konzept sollte otköku in der Türkei, Deutschland, Schweiz und Österreich vertrieben werden. Doch die Verteilung der ersten Ausgabe vom März 2001 in der Türkei erwies sich als unmöglich. Der türkische Zoll beschlagnahmte einen großen Teil der für die Türkei bestimmten Exemplare. Das Paket wurde vom Zoll direkt an das Innenministerium geschickt und ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Daraufhin musste otkökü das Konzept ändern. „Das wurde zu gefährlich für unsere Mitarbeiter in der Türkei. Wir liefern die Zeitung nur noch in begrenztem Umfang über einzelne Abonnements in die Türkei, aber nicht mehr als Massenzeitung“, erklärt Drücke. Damit reduzieren sich die Zielgruppen geographisch auf deutsch- und türkischlesende Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Besonders werden türkei- und kurdistanstämmige Menschen als politische Zielgruppen angenommen. Doch die lesen nur sehr begrenzt die Zeitung Graswurzelrevolution und haben somit kaum eine Chance, otkökü zu entdecken. Deswegen wurde otkökü parallel als Aktions- oder Massenzeitung konzipiert, die beim Verlag separat in größerer Zahl bestellt werden kann und dann beispielsweise in Universitäten und Internationalen Begegnungszentren, in den sich häufig türkei- und kurdistanstämmige Menschen treffen, ausgelegt wird.
Die Zielgruppe der türkeistämmigen Menschen kann jedoch nicht nur infrastrukturell nur begrenzt erreicht werden, sie ist auch ideologisch für eine antimilitaristisch ausgerichtete Zeitung schwierig. Am ehesten noch sollte Potenzial bei der türkischen und kurdischen Linken angenommen werden. Doch: „90 Prozent der Linken in der Türkei sind Apoisten (36) oder marxistisch-leninistisch bis stalinistisch orientiert, von daher kann man sagen, ein großer Teil ist autoritär“, bedauert Drücke. Insgesamt fallen die Bemühungen um die türkische und kurdische Linke in den deutschsprachigen Ländern bisher auf Grund politischer Differenzen kaum auf fruchtbaren Boden. Andere Teile der türkeistämmigen Bevölkerungen in Deutschland, Schweiz und Österreich können gar nicht erst erreicht werden, weil sie unpolitisch, nationalistisch oder religiös orientiert sind.
Neben der türkeistämmigen Zielgruppe soll auch deutschland- beziehungsweise österreich- und schweizstämmigen Zielgruppen die Verhältnisse in der Türkei näher gebracht werden. Hier werden vor allem anarchistische, gesellschaftskritische Personen angesprochen. „In der Türkei gibt es eine kleine anarchistische Bewegung, die sehr aktiv ist, in Deutschland aber nicht wahrgenommen wird. Ein Ansatz von otkökü ist, in den deutschsprachigen Ländern bekannter zu machen, dass es auch noch etwas anderes gibt als PKK oder stalinistische Gruppen.“
Für die Zukunft planen die HerausgeberInnen von otkökü eine konzeptionelle Änderung. otkökü als Teil der Zeitung Graswurzelrevolution soll auf zwei Seiten reduziert nur noch in deutscher Sprache erscheinen, die türkischsprachigen Textäquivalente in der Zeitung Antimilitarist Bületin, die dann einen entsprechend größeren Umfang erhalten wird. (37) Dafür aber soll der Erscheinungsrhythmus otköküs von drei Monaten auf einen Monat verkürzt werden, um an Aktualität zu gewinnen. Als Massenzeitung zum Auslegen sei otkökü dann nicht mehr geeignet, diese Funktion soll zukünftig Antimilitarist Bületin übernehmen. Drücke stellt fest: „Das ursprüngliche Konzept der Verbreitung auch in der Türkei ist gescheitert. Es macht keinen Sinn, eine zweisprachige Zeitung herauszubringen, wenn die Leute, die sie beziehen, in der Regel auch deutsch lesen können“. Diejenigen Türkeistämmigen, die der deutschen Schriftsprache nicht mächtig sind, sollen zukünftig mit Antimiltarist Bületin angesprochen werden, die neben den Beiträgen von otkökü-Redakteur Ülke auch Beiträge der jetzigen Antimilitarist Bületin Redaktion in Berlin enthalten wird.
Sprache hat für den Koordinationsredakteur Drücke einen „großen Symbolcharakter“. Aber für die praktische redaktionelle Arbeit spiele das nur am Rande eine Rolle, sagt er. Im Vordergrund stehe der Versuch, die Menschen in ihrer Sprache anzusprechen. Er handhabe Sprache pragmatisch und an der Zielgruppe orientiert. Zweisprachige Medien findet Drücke „eine tolle Sache, weil sie die Sprachenvielfalt, die es in der Bundesrepublik gibt, ausschnitthaft wiederspiegeln“. Doch die Bedeutung bilingualer, deutsch- und türkischsprachiger Medien werde abnehmen, da die meisten türkeistämmigen Menschen deutsch sprechen und lesen können. Einen Markt für bilinguale, deutsch- und türkischsprachige Medien sieht er noch für die nächsten fünf bis zehn Jahre. Langfristig werde sich die deutsche Sprache auch bei den Medien für türkeistämmige Menschen durchsetzen. (38)
Analyse otkökü
Die ersten fünf Ausgaben von otkökü erschienen in klassischem Zeitungsformat und -layout, bis auf die zweifarbige Titelseite einfarbig gedruckt. Auf der ersten Seite finden sich in einer Spalte ein Editorial und ein größerer Artikel. Auf Grund des auf vier Seiten begrenzten Umfangs ist die Zeitung textlastig, Bilder werden nur vereinzelt eingesetzt. Konsequent ist die zweisprachige Umsetzung der Zeitung: Jeder Artikel hat seine sprachliche Übersetzung – je nach Perspektive Deutsch oder Türkisch – womit die beiden Sprachen zu jeweils 50 Prozent Verwendung finden. Eine in der ersten Ausgabe als Möglichkeit formulierte Übersetzung in die kurdische Sprache hingegen wurde nicht umgesetzt.
Drücke sieht in otkökü eine „klassische Bewegungszeitung“, sie berichte „von Bewegungen über Bewegungen und meistens über in der Türkei tabuisierte Themen“. Als Beispiele nennt er den „Völkermord an Armeniern 1915“ oder „die Vergewaltigung von Gefangenen durch türkische Polizei und Militärangehörige“. Aber auch „Tabuthemen der türkischen Linken“ wie gleichgeschlechtliche Liebe will otköku aufgreifen.
Auf Grund der zur Zeit nur dreimonatigen Erscheinungsweise und des begrenzten Umfangs an Seiten kann otkökü seine Ansprüche nur bedingt umsetzen und muss sich auf wenige Themen konzentrieren. Dabei bilden Analyse und Berichte über alternative Projekte und Bewegungsformen die Schwerpunkte der eindeutig politischen Zeitung.
Zentrales Thema von otkökü ist die Kriegsdienstverweigerung von Türken und Kurden. Dazu finden sich Berichte über die Situation dieser nach Deutschland oder den Niederlanden geflüchteten Personen. Das logische Pendant zum Thema Kriegsdienstverweigerung bildet das Thema türkisches Militär, dem sich die Kriegsdienstverweigerer entziehen. Während die Artikel über türkisch-kurdische Kriegsdienstverweigerer als lokalen Bezugspunkt überwiegend die Fluchtländer Deutschland und Niederlande haben, fokussieren sich nahezu alle anderen Artikel auf Ereignisse in der Türkei. Im diskursiven Netz zentral ist dabei das türkische Militär beziehungsweise als ideologische Folie der Militarismus in der Türkei. Häufig damit verknüpft ist das Thema der Menschenrechte – in Form der Beschreibung von Menschenrechtsverletzungen – wie auch antagonistisch dazu die Beschreibung von Aktivitäten von Menschenrechtsorganisationen in der Türkei. Dem von Drücke formulierten Anspruch, „unterdrückte Themen zu beleuchten“, wird otkökü gerecht, wenn die Zeitung über sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen durch türkisches Militär und Polizei, über die Eröffnung eines schwul-lesbischen Kulturzentrums oder über Anarchismus in der Türkei berichtet. Auch der Monate andauernde Hungerstreik linker politischer Gefangener in der Türkei gegen isoliertere Haftbedingungen ist Thema – ganz entgegen der ‚deutschen‘ und ‚türkischen‘ Massenmedien, die sich dazu ausschweigen.
Ähnlich wie Persembe kommt otkökü bei einigen Themen nicht umhin, mit ethnischen Kategorien zu arbeiten. Der Massenmord an ArmenierInnen 1915 oder die Vertreibungspolitik gegen KurdInnen lassen sich ohne diese Kategorien nicht beschreiben. Hier muss otkökü dem Diskurs folgen, um verständlich zu bleiben. Die Selbstzuschreibung ‚Kurde‘ und die Fremdzuschreibung als ‚potentieller Terrorist‘ und ‚Bergtürke‘ seitens des türkischen Staates macht ethnische Konfrontationslinien auf. Die Alternative, diesen ethnischen und nationalistischen Konflikt zu ignorieren, beispielsweise mit der Argumentation, dass der Konflikt beiderseitig nationalistisch und nicht sozial begründet werde, wählt otkökü nicht. Wohl aber versucht die Zeitung, andere Organisations- und antimilitaristische Denkformen jenseits der dominanten kurdischen Arbeiterpartei PKK in die Öffentlichkeit zu bringen. Drücke beschreibt die Schwierigkeit am Beispiel kurdischer Kriegsdienstverweigerer: „Sie sind nicht antimilitaristisch orientiert, sondern sie wollen nicht mit der Waffe gegen ihre eigenen Leute kämpfen“.
otkökü ist eine thematisch eng begrenzte Zeitung, die über Bewegungen berichtet, die in ihre ideologische Vorstellung von emanzipatorischen Bewegungen von unten passen. Aus Marktperspektive ist sie eine Special-Interest-Zeitung. Das Interesse an der Zeitung bleibt so auf einen kleinen Kreis politisch gebildeter, mit offenem linken politischem Bewusstsein ausgestatteter Einzelpersonen und Gruppen von Deutschlandstämmigen, Türkeistämmigen und Kurdistanstämmigen beschränkt. Indem otkökü über Bewegungen berichtet, versucht die Zeitung gleichzeitig Anregungen zur Entstehung weiterer Bewegungen zu geben. Derartige Agitation kann allerdings nur erfolgreich sein, wenn die Sprache der Zeitung im Diskurs mitschwimmt und für eine breite Veröffentlichung gesorgt ist. 2.000 ausgelegte Exemplare in Universitäten und internationalen Zentren sind dafür zu wenig.
Die konsequente Zweisprachigkeit seitens otkökü ist ein statisch eingesetztes Mittel zur Kommunikation mit den LeserInnen. Die Trennung in eine deutschsprachige Beilage otkökü in der Zeitung Graswurzelrevolution und einen türkischsprachigen Teil in Antimilitarist Bületin sind sprachlich bereits zukunftsorientiert und dem Umstand geschuldet, dass die Verbreitung der Zeitung in der Türkei auf Grund staatlicher Repression scheiterte. otkökü bewegt sich außerhalb des Mulitkulturalismusdiskurses, vielmehr orientieren sich ihre MacherInnen an Effizienz: Welche Sprache setze ich ein, wenn nur begrenzt Platz vorhanden ist, weil die finanziellen Mittel für eine umfangreichere Zeitung nicht reichen?
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11. Deutsch-und türkischsprachige Printmedien im Vergleich
Ein erheblich unterschiedliches Profil weisen die sechs untersuchten Printmedien auf. Stärker als bei den untersuchten Radioformaten spielen für die Printmedien zielgruppenspezifische Ansprachen eine entscheidende Rolle. Während die untersuchten Radioformate entweder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder im nicht-kommerziellen Radio stattfinden und damit nicht in eine unmittelbare Konkurrenz mit ökonomischen Folgen verwickelt sind, kämpfen alle sechs Zeitungen um ihr Überleben auf dem Zeitungsmarkt. Dieser ist in Deutschland, vor allem bei überregionalen Zeitungen, stark ausdifferenziert und ideologisch partitioniert.
Hinzu kommt, dass auch in der Türkei, mit der die meisten der Verlage, die die untersuchten Zeitungen herausgeben, verbunden sind, eine ideologisch stark gezeichnete Printmedienlandschaft existiert. Eine allgemeine, klassen- und statusunspezifische Ansprache durch die untersuchten Printmedien an die türkeistämmige und/ oder deutschlandstämmige Bevölkerung ist so kaum möglich. Die bilingualen, deutsch- und türkisch-sprachigen Zeitungen ordnen sich in einem ideologischen Feld, bestehend aus konservativen, nationalistischen und populistischen Positionen (Hürriyet), liberalen und staatsbejahenden Ideen (Dünya-Deutschland), sozialistischem Gedankengut (Evrensel) und anarchistischem, staatskritischen Profil (otkökü) ein.
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Anders als bei zwei der untersuchten Radioformate vollzieht sich Zweisprachigkeit bei den Printmedien nicht spontan, sondern geplant. Innerhalb der Palette der untersuchten Zeitungen finden sich keine zwei Sprachen innerhalb eines Artikels, vielmehr sind die Artikel sprachlich voneinander getrennt. Dabei gehen die Redaktionen unterschiedlich mit den deutsch- und türkischsprachigen Texten um: Hürriyet positioniert zwei deutschsprachigen Seiten im Europa-Teil der Mittwochsausgabe, Evrenselkonzentriert die deutschsprachigen Artikel in der Samstagsausgabe und veröffentlicht sporadisch einzelne deutschsprachige Artikel an anderen Tagen, Arkadas als Monatszeitung bringt in jeder Ausgabe eine deutschsprachige Seite. Dünya trennt das Gesamtprodukt in zwei einzelne Zeitungen, die aber nicht einzeln gekauft werden können. Dünya-Hafta benutzt nur die türkische Sprache, während Dünya-Deutschland ausschließlich mit der deutschen Sprache arbeitet. Simultan ist die Sprachsetzung bei otkökü: Jeder Artikel erscheint doppelt, jeweils in deutscher und türkischer Sprache. Persembe arbeitete zwar mit beiden Sprachen auf allen Seiten, lieferte aber keine Übersetzungen. Lediglich die türkischsprachigen Artikel wurden teilweise mit einer kurzen Inhaltsangabe in deutscher Sprache versehen.
Die unterschiedlichen Varianten machen die Unsicherheit der Verlage deutlich, wie viel von welcher Sprache sie ihren LeserInnen zumuten können. Klare Seiten-Trennungen mit jeweils einer für diese Seite gültige Sprache ist aber trotz der unterschiedlichen Konzeptionen ein hervorstechender Trend. Er zeigt sich bei den Zeitungen, die sich primär an der türkeistämmigen Community als Zielgruppe orientieren.
Lediglich otköku und Persembe platzieren verschiedensprachige Artikel auf einer Seite. Diese Zeitungen richten sich jedoch in der Zielgruppenorientierung nicht so deutlich an Türkeistämmige wie beispielsweise Hürriyet. Türkeistämmige sind zwar eine wesentliche Zielgruppe, werden aber durch Deutschlandstämmige als zweite Zielgruppe ergänzt. Doch otkökü plant eine konzeptionelle Änderung, so dass die Zeitung in Zukunft komplett in deutscher Sprache erscheinen soll, während parallel die gleichen Artikel in türkischer Sprache in die Zeitung Antimilitarist Bületineingebaut werden. Die Zeitung Persembe konnte sich mit ihrem Konzept nicht durchsetzen, sie erscheint seit Juli 2001 nicht mehr.
Keine der untersuchten Zeitungen legt im redaktionellen Teil einen deutlichen Schwerpunkt auf Unterhaltung. Im Gegensatz zum Radio, welches Musik und damit eine universelle Sprache von Rhythmus und Klang einsetzen kann, bei der nicht der Text, sondern die Stimme und Stimmung im Vordergrund stehen, sind Printmedien in ihrer Mehrzahl informationsorientiert. Dieses gilt insbesondere für Zeitungen, die schon auf Grund der mäßigen Papierqualität dafür prädestiniert sind, vor allem Informationen durch Text zu vermitteln. Texte sind eindeutig sprachlich kodiert, die simultane Übersetzung von Text, wie von otkökü angewandt, führt vor allem dazu, dass sich der Umfang der Zeitung verdoppelt und lässt die berechtigte Frage aufkommen, warum nicht gleich zwei sprachlich getrennte Zeitungen gleichen Inhalts auf den Markt gebracht werden.
Hochglanz-Zeitschriften hingegen können wesentlich stärker auf die Bildsprache setzen. Damit besitzen sie ein Instrument, die harte Trennung zwischen zwei Sprachen als unabhängige, für andere Personen unverständliche, intellektuelle Zeichensysteme, aufzuheben. Bilder verfügen über eine emotionale, verbindende Potenz, die bei textlich bilingual aufgebauten Printmedien quasi eine dritte Sprache bilden kann. Doch gegenwärtig findet sich in Deutschland keine derartige, deutsch- und türkischsprachige Zeitung. Das Life-Style-Magazin Etap stellt bisher den einzigen Versuch da, der in diese Richtung zielte. Doch ist die Zeitschrift Etap seit April 2000 mangels kommerziellem Erfolg nicht mehr auf dem Markt.
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15. Szenarien der Entwicklung deutsch- und türkischsprachiger Medien
Wie entwickeln sich bilinguale, deutsch- und türkischsprachige Medien in den nächsten Jahren? Die Prognosen der MacherInnen der untersuchten Medien gehen auseinander:
Alper Öktem, Herausgeber von Persembe sieht in deutsch- und türkischsprachigen Medien eine Zwischenphase. Sie seien ein Integrationszwischenschritt, der mit den Abgrenzungen seitens der Türkeistämmigen und der Mehrheitsgesellschaft zu kämpfen habe. Viele der Türkeistämmigen hätten sich nach dem Integrationsbruch in den 1990er Jahren auf die Türkei rückbesinnt.
Bernd Drücke, Koordinierungsredakteur von otkökü, sieht die Bedeutung von deutsch- und türkischsprachigen Medien in den nächsten Jahren zurückgehen, da bereits heute die meisten türkeistämmigen Menschen deutsch sprechen und lesen würden. Einen Markt für diese Medien sieht er nur noch in den nächsten fünf bis zehn Jahren. Langfristig setze sich die deutsche Sprache durch.
Ismail Eren, Hürriyet-Redakteur bestätigt die Zweisprachigkeit gerade von Jugendlichen der türkeistämmigen Community, zieht aber mittelfristig andere Schlüsse. Er sieht in den nächsten Jahren eine Zukunft für deutsch- und türkischsprachige Medien.
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(33) Die Themenbalkengraphiken aller untersuchten Zeitungen geben die Relationen der Themenhäufigkeiten innerhalb einer Zeitung wieder, Prozentangaben finden sich nicht. Abhängig davon, wie viele unterschiedliche Themen in einer Zeitung festgestellt wurden und wie häufig Mehrfachnennungen vorkamen, würden Prozentangaben im Vergleich der einzelnen Zeitungen stark variieren und einen verzerrten Eindruck vermitteln.
(34) Das Selbstverständnis von Graswurzelrevolution ist nachzulesen unter www.graswurzel.net
(35) Im Rahmen dieser Arbeit von mir geführtes Interview mit Bernd Drücke am 8. März 2002, alle weiteren Zitate von Bernd Drücke sind, wenn nicht anders angegeben, aus diesem Interview.
(36) Apoisten ist die Bezeichnung für Anhänger von Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Führer der ehemaligen Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, die seit April 2002 unter dem Namen 'Kadek' (Kongress für Freiheit und Demokratie Kurdistans) firmiert.
(37) Antimilitarist Bületin ist eine türkischsprachige antimilitaristische Zeitung der DFG -VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner).
(38) Zumal dann viele von ihnen zur dritten und vierten Generation gehören, die hier aufgewachsen sind und nur noch wenig Bezug zur Türkei haben.