An den Universitäten in Deutschland wurden in den letzten 25 Jahren trotz des Widerstandes der StudentInnen die Disziplinarstrukturen und eine autoritätsgläubige Ausrichtung der Wissenschaften vor allem in den Natur- und Technikwissenschaften wieder massiv verschärft. Wissenschaft im Sinne einer selbstständigen kritischen Aneignung und Hinterfragung findet in diesen Bereichen praktisch nicht mehr statt, einfach weil im Korsett der Scheine und Prüfungen für eigenes Denken und Träumen keine Luft mehr vorhanden ist.
Aber auch im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich werden Ansätze kritischer Wissenschaft durch die systhematische Unterfinanzierung von Bereichen, die sich kritischen Wissenschaftansätzen verpflichtet fühlen, zunehmend zerstört. Seit mehr als zwei Jahrzehnten kommt es im Gegensatz zu den 70er Jahren zu einer immer stärkeren Ausrichtung der Wissenschaften an den herrschenden Interessen.
Zwei Beispiele für diese Entwicklung sind:
- Die massive Zunahme von Klausuren, Kurztestaten, Anwesenheitslisten und Multiple Choice Tests in fast allen Studiengängen.
Das Lernen für Klausuren und Scheine bestimmt heute weitestgehend die inhaltliche Arbeit der StudentInnen. Für eine Beschäftigung mit nicht klausurrelevanten Themen ist keine Zeit. An den Hochschulen kommt es vor allem in den Natur- und Technikwissenschaften zu einer Militarisierung der ‚wissenschaftlichen‘ Ausbildung. Zuerst wird durch praktisch kaum zu bewältigende Anforderungen die Persönlichkeitsstruktur der StudentInnen zerbrochen um sodann aus diesen Scherben den/die Nachwuchs’wissenschaftlerIn‘ zu formen. Die Fähigkeit der StudentInnen zum eigenständigen Denken wird zerstört, die Ausdrucksfähigkeit verarmt. - Der soziale Druck auf StudentInnen schnell zu studieren und sich damit den Disziplinarstrukturen ohne Ausweichmöglichkeit auszuliefern hat massiv zugenommen.
Lange Studienzeiten sind angesichts der Verregelung heutiger Studiengänge die einzige verbliebene Möglichkeit sich überhaupt noch Freiräume zu schaffen sei es, um ein Kind zu betreuen, um die Wissenschaft kritisch zu hinterfragen, politisch sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen, zu Reisen, oder andere Interessen/Notwendigkeiten mit dem Studium in Übereinklang zu bringen.StudentInnen die ihr Studium selbstbestimmt gestalten und Veranstaltung gestreut über einen längeren Zeitraum besuchen sind aber unerwünscht. Eigenständiges Denken und Handeln wird so in der Universität zum Störfaktor erklärt.
Die Liste der Beispiele für die Verschärfung der Studienbedingungen und Einführung disziplinatorischer Regime ließe sich leider fast beliebig fortführen;
- Kriminalisierung politisch aktiver AStEn im Rahmen von Verfahren wegen Wahrnehmung eines politischen Mandats,
- Gleichschaltung der Hochschulen unter Federführung der bayrischen Landesregierung in den 80er Jahren mit dem Argument der Vergleichbarkeit von Abschlüssen,
- Zerschlagung der letzten Reste von Reformstudiengängen in den 80er Jahren,
- Immer weitergehende Ausrichtung des Hochschulrahmen- gesetzes an Interressen internationaler Konzerne (European Round table of Industrials),
- usw.
Für einzelne StudentInnen und kleinere Gruppen gibt es zunehmend weniger legale Möglichkeiten sich dieser Repression zu entziehen. Unter diese Vorraussetzung kann es Sinn machen sich mit anderen StudentInnen zusammenzutun und auch illegale Möglichkeiten zu nutzen – seien es ganz triviale Abschreibezirkel, sei es die Fälschung von Scheinen oder Zeugnissen, oder das Schreiben von Klausuren für andere mit falschen Ausweispapieren, die Nutzung von Kontackten zu progressiven DozentInnen, u.a.. Beachtet werden sollte aber, ob Risiko und Aufwand Sinn machen.
Nur auch an der Universität gilt für das; „Bildet Banden und werdet kriminell!“, daß die kriminelle Praxis nicht außerhalb des herrschenden Systems liegt. Im gewissen Sinn spiegelt das Kriminelle die herrschende legale Praxis, nur leicht vedreht, wieder. Denn diejenigen, die Klausuren fälschen, legen ja nach wie vor Wert darauf in den systhemimmanenten Maßstäben Anerkennung zu finden. Sie reproduzieren also auf dieser Ebene durchaus das herrschende Wertesystem und damit auch die bestehenden Strukturen.
Unabhängig von solchen widerständigen Praxen in der Hochschule ist es deshalb überfällig außerhalb eigene linksradikale Wissenschaftsstrukturen zu schaffen. Der Arbeitskreis „Alternative Naturwissenschaften – Naturwissenschaftliche Alternativen“ (kurz: AK-ANNA) ist 2000 genau aus dieser Motivation heraus gegründet worden. Diese Zeitung will ein Teil der Ideen und Diskussionnen aus diesem Arbeitskreis und anderen Zusammenhängen innerhalb linker Strukturen zugänglich machen.
Der AK-ANNA
Der Arbeitskreis hat sich gegründet ausgehend von der These, daß es eine andere, freie Gesellschaft nicht geben wird ohne eine andere als die herr-schende Naturwissenschaft, da Naturwissenschaft Teil der Herr-schaftspraxis ist. Feministische Kritikerinnen (C. Merchant, E.F. Keller, E. Scheich, Ch. Kumbruck, u.a.) haben die Zusammenhänge detailliert aufgezeigt, alternative Ansätze gibt es aber kaum. Technologien wie Gentechnik, Computertechnik und Atomtechnik haben Teil an Ausbeutung, Sexismus, Rassismus und Kapitalismus.
Für Einzelne, die über ‚Alternative Naturwissenschaften – naturwissenschaftliche Alternativen‘ nachdenken, fehlt vielfach die Möglichkeit sich mit anderen auszutauschen, die eigenen Ideen zu hinterfragen und sie zusammen weiterzuentwickeln. Naturwissenschaft als revolutionäre Praxis, die subversiv nicht den Atomstaat durch Solarkapitalismus oder Cyberparlamentarismus ersetzt, sondern mit der naturwissenschaftlichen Theorie und Praxis das System unterminiert, ist für die meisten undenkbar. Eine Möglichkeit für die Diskussion solcher, über die bestehende affirmative Kritik hinausgehenden, Ansätze und einen Austausch von Erfahrungen zu schaffen, hat sich der Arbeitkreis zur Aufgabe gesetzt. Auch heute haben wir uns nicht sehr weit von diesen Anfängen entfernt. Vieles ist nach wie vor mehr ein Fragen, Suchen und Diskutieren – Antworten haben wir nur vorläufige. Und in erster Linie haben wir uns bisher mit der Kritik befaßt.
Nach wie vor sind deshalb Alle, die in diesem abweichenden Sinn nachdenken, was ausprobieren, theoretisieren, was tun, zu unseren Treffen eingeladen. Die Treffen sind zuerst auch einmal eine Möglichkeit andere NaturwissenschaftlerInnen kennen zulernen, die eine ähnliche Kritik haben und sich über die Kritik auszutauschen, und die unterschiedlicher Ansätze der TeilnehmerInnen zu diskutieren.
Der bundesweite Arbeitskreis trifft sich ca. 1/4 jährlich in Lutter am Barenberge und besteht überwiegend aus StudentInnen der Naturwissenschaften aus mittleren Semestern. Außerdem gibt es noch einen Arbeitskreis in Berlin, der aus StudentInnen aber auch aus WissenschaftlerInnen, die zum Teil bereits ihre Dissertation abgeschlossen haben, und nach anderen Perspektiven suchen, besteht.
Grüße – vielleicht auf bald!