Empire, Empire. Wenn man wie ich gerade unmittelbar an der Grenze zu den USA lebt, deren Nachrichten erhält, die New York Times und andere aktuelle Informationen täglich inhaliert, kann es einem ganz schlecht werden. Im fernnahen Europa, der BRD zumal freilich gleicherweise.
Empire, Empire. In Worttat und Tatwort kann man seiner allumgebenden Präsenz nicht entgehen. In Form des globalen Kapitalismus, der aus jedem Supermarket, aus jedem PC, dem, auf dem ich aktuell schreibe, in beiden genannten Fällen eher verlockend, an jede und jeden von uns herantritt. Wir sind, wollend, nichtwollend mitten in ihm, ja Teile von ihm. Nicht zynisch misszuverstehen, gilt Adornos Beobachtung in den 50jährigen Minima Moralia mehr denn je: es gibt kein wahres Leben im falschen. In diesen Tagen, Wochen und Monaten bereitet die hegemoniale Macht globalen Kapitalismus‘ einen Krieg, Kriege vor. Ein Krieg der gerade mit deutscher Zustimmung und Hilfe in Afghanistan geführt worden ist, ist noch nicht friedlich zu Ende. Der globale, radikal ungleiche Kapitalismus stellt bekanntlich für Nichtideologen und viele Nutznießer primär ein Macht- , nicht ein Marktsystem dar, richtiger noch einen Macht- und Herrschaftsmarkt. Und die Kriegsvorbereitungen, die die gesamte USA, die fast die gesamte Welt seit dem 11.9.2001 schier verrückt machen, rasseln böse in den bildlichen Ohren von Frieden und Freiheit. Letztere sollen qua Orwell’scher Herrschafts- als Friedenssprache kriegerisch gegen den Irak Saddam Husseins, gegen alles, was als „terroristisch“ definiert wird, gegen alles, was den „Westen“ und seine Weltmacht in Frage stellt, verteidigt werden.
Empire, Empire. Die Ohnmacht als minimale Person zu leben, inmitten einer kapitalistisch, technologisch und militärisch verschlungenen, herrschaftsvoll und ungreifbar überlegenen ‚Situation‘, könnte nicht bedrückend größer sein. Globalisierungskritik, gewiss, oder die „neuen Anarchisten“ wie sie David Graebner beschreibt. Die ‚eigentlichen‘ ‚Globalisten‘, die diesem globalen military-industrial-technological/scientific complex nicht die eigene Melodie, sondern radikal andere Flötentöne weltweit vernetzter lokal-regionaler Gruppen aller organisatorischen Formen vorspielen. Um sie zum befreienden Tanzen zu bringen (vgl. D. Graebner: The New Anarchists, in: New Left Review 13, Jan/Feb 2002, S.61-73). Indes. Ist das nicht eine neu bewegte, rundum sympathische, im Anspruch jedoch bei weitem überzogene Selbsttäuschung? Wird hier nicht das, was herrschaftlich ist und täglich Menschenopfer unerhört fordert, bewegungs- und neuerdings auch internet-träumerisch in Richtung neuer kleiner, global klappernder Fluchten verkannt?
Was könnte in einer solchen Zeit, da die herrschenden Abstraktionen lähmen und nicht wenige Menschen auf der Welt töten, da Herrschaft konsequent abstrakt geworden ist, medial täuscherisch pseudopersonalisiert, im Sinne eines ersten Schritts mehr helfen, als der bekannte ‚Durchblick‘. Um diesen immer militärisch mit Gebiss versehenen und nicht selten direkt/indirekt militärisch zubeißenden Kapitalismus, mit welchem Legitimationsschleier betörend solche Kriege allemal versehen sein mögen, auf den Begriff oder Begriffe zu bringen. Denn alle monistischen ‚Theorien‘ sind nicht nur meist falsch. Sie sind auch gefährlich. Sie tragen immer eine Brise Robespierre in sich. „Die Tugend“ bzw. das als wahr Erkannte, „soll durch den Schrecken herrschen“. Will sagen, Mittel müssen nicht mehr sorgsam abgewogen werden. Die Herrschaftslogik der Globalisierung, das, was und wie sie herrscht, gilt es also auf Begriffe zu bringen. Damit die Chancen erhöht werden können, kurz-, mittel- und langfristig als die oben genannte minimale Person, mit anderen sich zur Gruppe hilfreich zusammenzutun und widerständige Politik zu treiben.
Das haben Antonio Negri, der zu Zeiten des italienischen Terrorismus/Antiterrorismus Inhaftierte, und Michael Hardt, Professor für Literatur in den USA versucht. Empire.
Ihre zentrale Hypothese lautet, damit erläutern sie den zunächst irritierenden Titel ihres bald 500 Seiten umfassenden Buches: „Die neue globale Form der Souveränität ist das, was wir Empire nennen“ – im Unterschied zum herkömmlichen Staat und Staatensystem. Sie erläutern diese Basisannahme noch im Vorwort: „Der Gang zum Empire kommt aus dem Zwielicht der Moderne. Im Gegensatz zum Imperialismus etabliert Empire kein neues räumliches Machtzentrum; es besitzt keine festen Grenzen oder Schutzwälle. Es ist ein herrschender Apparat ohne Zentrum, räumlich nicht zu fassen, der zunehmend den ganzen Globus in seinen offenen und sich ausdehnenden Grenzen einnimmt. Empire besitzt diverse Identitäten, flexible Hierarchien, und vielartige Austauschformen in spezifischen bestimmungsstarken Netzwerken. Die unterschiedlichen Farben auf der imperialistischen Karte der Welt sind ineinander geflossen und ergeben einen imperialen globalen Regenbogen.“ Die Absicht, die Negri/Hardt mit ihrer Untersuchung verfolgen, besteht nicht primär darin, die enormen Unterdrückungen und Destruktionen darzustellen, die vom Empire ausgehen. Sie gehen vielmehr darauf aus, den imperialen Globalisierungsprozess umzukehren, seine ‚wahre‘ Richtung und die in ihm angelegten neuen Ziele zu geben.
Liest man das anspruchsvolle und nicht immer leicht zu verstehende Buch – das spricht nicht gegen es -, bleiben zwiespältige Leseeindrücke zurück. Faszination, Ärger und Enttäuschung wechseln die Stelle. Alle drei intellektuellen Gefühle bleiben.
Die Autoren argumentieren, wie bei Antonio Negri nicht anders zu erwarten, gescheit, gebildet, scharfsinnig. Zugleich bleiben sie begrifflich seltsam unreflektiert bis zu ihrer meist mit dem Marschstiefel des Indikativ beschuhten Sprache. Als wüssten die Schreiber genau, wie es in der Vergangenheit bestellt war und wie es in Zukunft bestellt sein wird. Der Gestus der Gewissheit überzeugt. Nein. Er ist eine der Grundfalschheiten des Buches indezenter Gedankenüberschätzung in nicht eingelöster materialistischer Schwere.
Die Sprache sprüht von leichtfertig gebrauchten großen Begriffen nur so über. „Absolut“; „Ontologie“; „Immanenz“ und so weiter. Eine an Marx anschließende, irgend weiter getriebene Kapitalismuskritik am Material kapitalistischer ‚Wirklichkeit‘ und ihrer Hintergründe, sucht man vergebens. Ebenso bleiben all die vielen, emphatisch gemachten Zukunftsaussagen ohne jegliche institutionellen Überlegungen. Wie das verheißene Neue, wenn es nicht von selbst kommt, die neue Verfassung, die den Produktivkräften gemäss ist, den Weg ins Freie finden und erhalten soll – dunkel war’s, der Mond schien helle. Faszinierend dann aber wieder, wie das Autorengespann vor allem mit Baruch Spinozas Hilfe, dem niederländischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, dichotomischem und allzu klappernd Hegelisch-dialektischem Denken begegnen und die neuen, weltweit möglichen Gesellschaften aus einer kritisch gepackten und umgekehrten ‚immanenten‘ Logik der Entwicklung folgen lassen. Sie verlocken dazu, ‚unabgegoltene‘ Möglichkeiten im Sinne von Ernst Bloch, Walter Benjamin und anderen auszupacken, neu anzuschucken und zur Geltung zu bringen. Angesichts eines solchen, von Hardt/Negri freilich an keiner Stelle reflektierten geschichtsphilosophischen Optimismus und Voluntarismus – man muss tun, man muss wollen, ‚die Entwicklung‘ und ihre ‚Ontologie‘ wollen sozusagen auch -, mag man selbst die Fanfare blasen und vorwärts gehen. Man kann sich bekanntlich mit analytisch triftigen Einsichten auch das Grab allen Handelns selbst schaufeln (und akademisch frohgemut weiter geschwätzige Karriere machen).
Ich will den mir verbleibenden Platz in zwei Schritten ausfüllen. Zuerst versuche ich, indem ich mich weitgehend auf den I. Teil des Buches konzentriere, eine kleine Quintessenz desselben wiederzugeben. Danach will ich unter der Perspektive einer radikalen Alternative zum Empire, so wie es ‚leibt und lebt‘, Hardt/Negri kritisieren. Voll Sympathie zur Richtung, die sie ausflaggen, voll Kritik, wie sie es beim ‚ontologisierenden‘, genauer beim nicht gewollten ‚metaphysischen‘ Flaggeschwingen belassen. Meine eigene Perspektive ist hierbei vom ’sozialen‘ – in Differenz zum individualistischen – Anarchismus bestimmt, ausgerichtet gegen eine m.E. geradezu verhängnisvolle Staats- und traditionelle Politikfixierung vieler derjenigen, die das erfreulicherweise wieder etwas größere Lager der Kritiker und Gegner kapitalistisch-herrschaftlicher Globalisierung bevölkern.
Hardt/Negri – eine eher punktuelle Skizze des Buchs
Zuerst: Empire ist ganz neu und frisch. Ein neues Muster, das ohne Artikel geschrieben und gesprochen, eine Art neues Subjekt verkörpert. Allerdings erfährt man auch in den späteren Teilen nichts über die institutionelle Orthopädie und funktionelle Physiologie dieses global allwesenden Superkörpers. Seine Legitimation wird durch eine globale Polizeimacht und deren Recht ebenso hergestellt, wie die Polizei und ihr Recht der imperialen Legitimität entspringen (dieser Legitimationskreisel aus ordentlicher Gewalt und gewaltiger Ordnung, nun global und staatlich nicht mehr zu fassen, scheint als Muster jedenfalls wenig neu. Es ist das Staatsgewaltmuster von allem Staatsanfang an bis zu den nicht gerade unerheblichen Resten von Staatsgewalt heute).
Ein nächstes wichtiges Merkzeichen von Empire ist seine biopolitische Produktion. Diese Kennzeichnung haben H/N von Michel Foucault ererbt. Biomacht ist „eine Form der Macht, die das soziale Leben von innen her reguliert, ihm folgt, es interpretiert, es absorbiert und wieder artikuliert.“ So wie die direkte Konfrontation ‚disziplinäre Gesellschaft‘ vs. Individuum dadurch aufgehoben ist, so verliert das, auf diese Weise ehemalige, ‚internationale System‘ alle seine Vermittlungen. Das neue supranationale Recht muss im Kontext des unbegrenzten Raums, der biopolitischen Tiefe und der unvorhersehbar vorwärts gerichteten Zeit hergeleitet werden. Die neue Form unmittelbarer Ausbeutung lebendiger immaterieller Arbeit – die neuen Technologien spielen bei H/N eine mitausschlaggebende Rolle -, erfordert eine neue Wertlehre und ein neues Konzept der Subjektivität. Die neue imperiale Elite der transnationalen Konzerne übt Herrschaft nicht mehr abstrakt und in Form ungleichen Tausches aus. Sie strukturiert die Räume und artikuliert die Bevölkerungen direkt. Die am ehesten vollständige Gestalt dieser Welt wird unter der monetären Perspektive präsentiert (ich referiere durchgehend H/N weitgehend wörtlich, aber mit Sprüngen, WDN). Unter dieser Perspektive kann man den Horizont der Werte sehen und die Verteilungsmaschinerie, einen Mechanismus der Akkumulation, der Zirkulation, der Macht und der Sprache. Vor allem: die Entwicklung der Netzwerke der Kommunikation ist „organisch“ mit dem Aufkommen der neuen Weltordnung verbunden. „Die politische Synthese des sozialen Raums ist im Raum der Kommunikation enthalten.“ Die Legitimation der neuen Weltordnung ist konsequenter Weise nicht mehr irgendwohin über- oder außengelagert. Sie besteht im System selber. Sie wird dauernd in den eigenen Sprachen der Selbstbewertung reproduziert. Da nichts mehr außerhalb besteht, sind auch die Interventionen durch Gewalt verinnerlicht und zugleich universalisiert worden. So folgen auch die NGOs ganz der biopolitischen Logik. Die virtuelle und diskontinuierliche Eigenart imperialer Souveränität mindern Sache und Effekt physischer Gewalt nicht. Letztere belegen nur, dass Empire seine Probleme mit legitimer Gewalt letztinstanzlich löst.
Der qualitative Sprung, den Empire tut, lässt die drei Legitimitäten von Herrschaft Max Webers zu einer unübersehbaren Mischung werden. Elemente der Legitimation kraft Tradition verbinden sich mit einer extensiven bürokratischen Herrschaft, die dem „physiologischen und politischen Kontext“ angepasst ist. Die charismatische Herrschaftslegitimation besteht darin, das Ganze zu vereinzeln und die imperialen Interventionen insgesamt zu rechtfertigen. „Im Empire“, so schließt der 1. Abschnitt über dessen ‚Eigenart‘, so eine solche noch ohne irgendein Außen gesehen werden kann – logisch allenfalls qua historischem Vergleich -, „im Empire und seinem Regime der Biomacht, fallen ökonomische production und politische Konstitution tendenziell zusammen.“
„Alternativen“ zum Empire, sind folgerichtig nur „im Empire“ möglich. Das ist deshalb der Fall, weil Empire selbst schon ein Schritt in die Richtung von Alternativen ist. Und dies wiederum ist so, weil – wie es an späterer Stelle heißt und die Annahme noch unter der oben referierten Grundannahme von H/N darstellt -, die nur an manchen Stellen etwas sozial durchsichtiger werdende „multitude“, also die Vielheit der arbeitenden, der armen und leidenden Menschen mit ihrem alle Grenzen überschreitenden Wunsch (desire) „den Prozess der kapitalistischen Entwicklung voran (zu) treiben.“ Im I.Teil heißt es schlicht: „Die Vielheit hat Empire ins Leben gerufen.“ Damit ist auch die ‚Potenz der Befreiung‘ schon gegeben.
Folgerichtig wenden sich H/N gegen alle nostalgischen Rückwärtssehnsüchte. Hier und später übrigens mit trefflichen Formulierungen gegen das fast immer falsche, sprich unaufgeklärte und voremanzipative Lob der Vergangenheit. Vor allem aber kritisieren H/N alle dialektischen Zaubertricks, die aus dem Spitzenkapitalismus mit kurzen Übergängen den Spitzensozialismus im salto communale sozusagen entstehen lassen. H/N. behaupten stattdessen „absolutely immanent“ zu verfahren (etwas, so notiert der Kritiker sogleich, wohlbemerkt, das „absolut“ nicht möglich ist). Sie beziehen sich auf die Dekonstruktionen einer bunten Zahl kapitalismuskritischer Autoren wie Lenin und Adorno. Sie erwähnen andere kapitalismuskritische Analysen und Antizipationen der weiteren aufhaltsamen Entwicklung des Kapitalismus. Vor allem sind jedoch die an sich schon global orientierte Vielheit und das Proletariat an der Reihe, das Proletariat, „das im Kapital lebt und das Kapital erhält“. Schließlich werden die Kämpfe der 90er Jahre erwähnt. Diese hätten zwar an Ausdehnung und Dauer verloren, jedoch an Intensität gewonnen. Obgleich diese Kämpfe vielfach lokal ansetzten, seien sie überall global bezogen, ja sprängen von ihrer lokalen direkt zu einer globalen Bedeutung. Betrachte man die Veränderung der Auseinandersetzungen seit Marx‘ Zeiten, zeige sich, dass die heute zu beobachtenden Kämpfe „unmittelbar subversiv an sich selber seien“. Empire (I, wie man wohl unterscheiden muss), in ihm immanent, gefährdeten sie überall. Entscheidend ist immer erneut: „Die Vielheit ist die wirkliche produktive Gewalt unserer sozialen Welt. Empire ist nur ein einvernehmender Apparat, der allein von der Vitalität der Vielheit lebt – wie Marx sagen würde ein Vampir, der von der Akkumulation toter Arbeit lebt, aber nur überlebt, indem er Blut aus der lebendigen Arbeit saugt“. Im „Politischen Manifest“, das den I. Teil abschließt, fomulieren H/N das, was sie eine „materialistische Teleologie“ nennen, also ein geschichtlich angelegtes Ziel der Geschichte. Die herkömmlichen politischen Institutionen verlieren an Macht. Die entscheidende Frage heißt: „wie kann produktive Arbeit, die in verschiedene Zentren zerstreut ist, ein Zentrum finden?“ „Jede postmoderne Befreiung muss in dieser Welt erreicht werden, im Feld der Immanenz, ohne jede Möglichkeit selbst eines utopischen Außen. Die Form, in der das Politische als Subjektivität heute ausgedrückt werden sollte, ist nicht klar. Eine Lösung dieses Problems, müsste das Subjekt und das Objekt dieses Projekts enger verweben, sie in eine Beziehung der Immanenz versetzen, die tiefer wäre als die, die Machiavelli oder Marx/Engels gefunden haben. Mit anderen Worten, sie müsste es in den Prozess der Selbstproduktion versetzen.“
Die nächsten Teile (2) „Passagen der Souveränität“, das Zwischenspiel: Gegen-Empire, (3) Passagen der Produktion und schließlich (4) Der Aufstieg und Fall von Empire mit dem fast Fidelio-haften Schluss kann ich auch dort, wo sie aspektereich über das kondensierte Referat hinausgehen, nicht einmal berühren. In diesem Finale, da das Empire, kontingent schon lange zuvor von der befreitbewegten Vielheit zu einer ‚eigentlichen‘ globalen Anlage gebracht wird, wird selbst noch Franz von Assisi, anti-Franzisch verallgemeinernd, einvernommen (anti-Franzisch, so irgend etwas von seiner historischen Überlieferung Franz‘ von Assisi bleibt). Notieren will ich nur, indem ich nun wieder in die Haltung meiner sympathetischen Kritik und meiner kritischen Sympathie zurückkehre – um eine paradoxale Ausdrucksweise von Nicolaus von Cues zu übernehmen, den die Autoren als einen ihrer Vorläufer behandeln -, dass das Buch nicht nur die eingangs gekennzeichneten, geradezu schreienden Lücken besitzt: keine materialistische Analyse von Ökonomie und Politik heute; vielmehr eine philosophische Attitüde des Materialismus; keine institutionell-organisatorischen Überlegungen, und sei es nur problematisierend, etwa wie man die viel besungene Multitude (Vielheit) jenseits aller neuerlichen ausredereichen Netzwerkromantik mitsamt der Defininitionsmacht des Internet, dort, wo dies notwendig wäre, vereinen könne. Und notwendig wäre es allein, um alle nichtkapitalistisch (aber wie??) zu ernähren. Darüber hinaus überrascht denn doch, wie sehr die Autoren gewiss sorgfältig zu lesende und allemal aussagekräftige Ideengeschichte fast an Stelle der ‚Real‘-Geschichte nehmen; vor allem irritiert, wie gewiss große Autoren wie Machiavelli, den H/N neu lesen, und vor allem Baruch Spinoza zu Zeugen gegenwärtiger Zeit-, genauer Empire-Diagnose, vor allem zu Gewährsleuten, ja zu so etwas wie Gewissheitsgaranten materialistisch teleogisch sich befreiender, ganz immanent herauspaukender Zukunft werden. Die zuletzt gemachte Aussage gilt vor allem für Spinoza. Ihm hat Antonio Negri ein eigenes bedenkenswertes Buch gewidmet. Es ist fast 20 Jahre vor Empire erschienen. Dieses gibt dem Empire-Buch seine philosophisch-politische Grundlage. Ohne Negris eigene Spinoza-Rezeption sind die Kategorien des Empire-Buches und dessen von mir deswegen nur oberflächlich kritisierten Absoluts-, Immanenz-, Ontologieannahmen u.ä.m. kaum verständlich (s. A. Negri: The Savage Anomaly. The Power of Spinoza’s Metaphysics and Politics, translated by Michael Hardt, 1991; das italienische Original ist 10 Jahre zuvor erschienen). Mit dieser ideengeschichtlichen Unmittelbarkeit der Autoren nicht genug („unmittelbar“ ist ein anderes ihrer Lieblingswörter, das, unstimmig wie das damit Gemeinte in hochvermittelter Gesellschaft sein muss, auch in Empire, ob seines verräterischen Gebrauchs nach dem Grund des „Verrats“ fragen macht. Der liegt in ihrer Teleologie und ihrer gesellschaftsfreien Gesellschaftsvorstellung begründet. Fast wie die Marktliberalen unterstellen sie zwar nicht die „tausendfältigen Spontaneitäten des Markts“, wohl aber die der netzwerkartig spontan verbundenen Vielheit). Wie zum Teil zu Recht kritisiert worden ist, fällt nicht nur auf, dass die Autoren die USA als mögliche aktuelle Form eines Imperium gar nicht erörtern (vgl. Tarak Barlawi/Mark Laffey: Retrieving the Imperial: E m p i r e and International Relations, in: Millenium. Journal of International Studies 2002 – leider, wie auch die anderen sich daran anschließenden Artikel viel zu akademisch). Mehr noch: sie zeichnen, ein gutes Teil-Kapitel lang ein Bild der USA, das geradezu idealisierend genannt werden muss. Sperrige Fakten, die Indianer, die Afro-Amerikaner u.a. werden zwar erwähnt. Von einer historisch gegenwärtig einigermaßen angemessenen Analyse keine Rede. Eine solche müsste wenigstens das gegenwärtige Zielen auf den 3. Golfkrieg und nicht zuletzt die Art des Zielens verständlicher machen.
Bei den Autoren bleibende und über sie hinausgehende Kritik in Richtung Mangel ausnahmsweise nicht an, sondern Mängel der Alternativen
Ein Vorzug von H/N.: die neue Qualität des heutigen, sich dauernd verändernden ‚Zustands‘ der Globalisierung wird zwar, vom Titel angefangen, sogar übermäßig pointiert. Als ganz neues Muster, ohne all die hereinragenden ‚alten Mächte‘ und deren anhaltende Effekte zu beachten. Und dies inmitten des Neuen. Das Neue von Empire wird vielmehr so stark gemacht, dass es auf seine eigene Überwindung angelegt erscheint. Widersprüche, Krisen, indes auch und vor allem die Gewalt, Alternativen zu kooptieren und zu unterdrücken, werden unterbelichtet. Würde allein die modische, analytisch nicht einmal spurenartig eingelöste Behauptung der Biopolitik zureichend vermittelt (!), herausgearbeitet, dann bedeutete diese, dass alle Alternativen schon im Gedanken vorab zunichte gemacht werden. Würden außerdem die gegenwärtige Supermacht, die USA genauer betrachtet worden sein, die doch wohl – und kein superabstraktes, seltsam eigenes Subjekt Empire – mit ihren Interessen einen Gutteil der gegenwärtigen Welt beherrschen, dann hätte gerade aus der Schwäche dieses anscheinend vor Stärke nur so kriegerisch strotzenden, die erwartbare gefährliche Dialektik der Gewalt und deren Grenzen diagnostiziert werden können. Einer der klügeren Kommentatoren hat dieser Tage in der New York Times formuliert, die USA, „der Welt einzige Supermacht zittere an der Schwelle einer neuen imperialen Zäsur“ (Mark Danner, NYT 9.10.2002). Wenn es stimmt, wie ein US-amerikanisches Gericht jüngst feststellte, dass seit dem 11.9.2001 „sich das Leben in Amerika drastisch und dramatisch änderte“, dann ist es die Supermacht zuerst, die angstbeißt. Das nützt denjenigen, die durch sie vom Krieg überzogen werden, nichts. Es könnte zusammen mit anderen Einsichten, die ich hier nicht ausführen kann, jedoch unserer aller oppositionelles Verhalten beeinflussen. Insgesamt gilt jedoch für H/N ebenso wie die meisten heute glücklicherweise bewegungs- und vor allem demonstrativ flüggren Opponenten der herrschenden Art zu globalisieren, dass die mangelhafte Diagnose der Schwächen, aber auch der Stärken des gegenwärtigen ‚west‘-und US-geführten Weltkapitalismus, gerade die Gegenbewegung auf die Dauer schwächt.
H/N präsentieren keine Alternative. Wer könnte, wer dürfte dies. Das wäre als fertiges Eintopfessen geradezu paradox, wo so Vieles gelernt, erprobt, neu gemacht werden müsste/muss. H/N stärken, wie sie meinen das Wissen, wie man richtiger sagen muss, den G l a u b e n an eine Alternative. Sehr zu befürworten ist es hierbei, dass sie ohne fertiges Konzept und Rezept arbeiten. Dass sie etwa nicht auf eine Partei setzen oder mit einer anderen Organisationsform allein zukunftslos Zukunft machen wollen. Diese Eigenart dürfte unter anderem die Attraktivität des Buches bestimmen. Ansonsten eignet es sich nicht gerade als ‚Bewegungsbuch‘ (da läge es schon zu schwer im Rucksack). Ihre Knausrigkeit, sich zu organisatorischen Formen zu äußern, sei es zu herrschenden, sei es zu politisch oppositionellen, sichert ihnen zwar kontroversloses Wohlgefallen. Ihre sparsame Phantasie schadet indes, wenn man nicht naiv auf alle gewiss nötigen ‚Spontaneitäten‘ setzt. Auch diese sind in der Regel sehr vermittelt, sprich von einer Reihe von Bedingungen abhängig. Die riesige Spanne zwischen wichtigen und richtigen lokalen oder ereignisspezifischen Aktionen und dem, was global selbst und gerade dann schwierig zu lösen wäre, wenn keine herrschenden Gewalten dagegen stünden, wird geradezu verantwortungslos offen gelassen. Dass dies gerade bei vielen ‚Bewegten‘ und denen, die von den Modeerscheinungen der ‚Globalisierungskritik‘ leben, eben so ist, verstärkt die intellektuell politische ‚Schuld‘ der Herren (und anarchistischen Genossen?) N/H. Es reicht doch einfach nicht aus, so wie halbkritisch Empire, Empire, so enthusiastisch als des nötigen und schwierigen Organisierens Lösung: Netzwerk, Netzwerk zu spinnrufen. Als vernetzten sich die Netzwerke zu einer, dann selbstredend wundersam wirkenden, strikt von unten nach globaloben kommunizierenden „Weltzivilgesellschaft“ (mir wird es, schon wenn ich die Worte selbst gebrauche, ganz gewaltschummelig und ungleich zumute) (vgl. zusätzlich zu oben erwähnten David Graebner Michael Hardt: Today’s Bandung? (über Porto Alegre,WDN), in: New Left Review Mar/Apr 2002, 112-118); Naomi Klein: Fences and Windows. Dispatches from the Front Lines of the Globalization Debate, Vintage 2002; Maude Barlow/ Tony Clarke: Global Showdown. How the New Activists Are Fighting Global Rule, Stoddart Publishing 2002)
Ein letztes, weil der Platz nicht mehr hergibt. Indem sie die alte Kultur- und die damit verbundene Technikkritik aus gutem Grund hinter sich gelassen haben, werden H/N wie viele andere ‚Alternativen‘ seltsam technologiegläubig. Sie benutzen Internet und dergleichen nicht nur. Das muss jede/r, der/die sich in dieser Wirklichkeit einigermaßen sozial (!) bewegen will. Nur, die kapitalistische Logik, die in der Technologie steckt, einschließlich gerade der Produktionslogik zu übersehen, das geht dann gefährlich naiv ein großes Stück zu weit. Von den aktuellen und bleibenden Ungleichheiten des Gebrauchs und ihrem allenfalls perversen demokratischen Surrogatcharakter zu schweigen.
Schade. Prächtige Spinoza-Interpretationen und ihre Anwendung auf die Gegenwart ersetzen die Analyse der letzteren nicht. Der neue (oder doch alte?!) Hut Empire verdeckt mehr, als er erhellt. In Sachen Alternativen heißt es konsequenter, herrschaftskritischer und phantasievoller zu Werk gehen. Und das heißt auch, das eigene Verhalten und die eigenen Organisationen nicht aus dem Auge zu lassen. Ohne Hoffnung geht es nicht. Indes geht es ohne geschichtsphilosophischen Glauben. Es muss sogar. Der verstellt nur. Vor allem geht es nie und nimmer ohne „Kritik als Universalarznei“ (Vladimir Majakowski, in den frühen Jahren des Stalinismus ermordet). Dieselbe ist gegen all das Herrschende und all die Herrschenden, dieselbe ist jedoch auch für all das Alternative und die Alternativen bitter nötig.
Anmerkungen
Professor Dr. Wolf-Dieter Narr (FU Berlin) ist Politikwissenschaftler und Gründungsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Seine Empire-Thesen stellt er im Rahmen einer u.a. von der GWR-Redaktion veranstalteten Lesung am 30. Januar 2003 um 20 Uhr in der ESG, Breul 43, Münster zur Diskussion.
Zur Empire-Diskussion siehe auch: Fang: "Graswurzelrevolution oder Empire?", in: GWR 270, Sommer 2002, S. 7.