Was das Europäische Sozialforum (ESF), das vom 6. bis 10.11.2002 im italienischen Florenz als kontinentaler Ableger des Weltsozialforums stattfand, wirklich war, läßt sich ebenso wenig feststellen, wie die Zusammensetzung oder Zielrichtung der "Bewegung der Bewegungen" selbst. Messbare Ergebnisse gab es kaum. Es kristallisierte sich keine gemeinsame politische Strategie heraus, es gab keine Antworten auf die brennendsten Fragen und keine Rezepte für die Genesung der Menschheit und des Planeten. Die Bedeutung der unzähligen kleinen und großen Begegnungen, der geknüpften Freundschaften und Netzwerke wird erst mit der Zeit, und zwar je nach Perspektive sehr unterschiedlich, beurteilt werden können. In Florenz sind unvorstellbar viele Menschen zusammengekommen - es wird von bis zu 60.000 KongressteilnehmerInnen gesprochen -, die ihre Gedanken über die Probleme der Welt und ihre Vorstellungen daüber wie sie zu lösen sind, mitbrachten. Das ESF war ein buntes und chaotisches Durcheinander von Ideen, Vorschlägen, Zweifel, Skepsis, Eurozentrismen, reproduzierten Machtverhältnissen, Hoffnungen, wunderschönen und erschreckenden Augenblicken und eine permanente Reizüberflutung. Der vorliegende Artikel kann nur einen kleinen Ausschnitt kommunizieren und sein "Wahrheitsgehalt" liegt bei etwa 1:60.000.
…proxima estacion: Esperanza…
Zur Einstimmung will ich euch von dem beflügelnden Gefühl erzählen, das mich am 9. November in den Straßen von Florenz ergriff, als ich gewahr wurde, ein Mensch unter einer Millionen Menschen zu sein, die, aller Unterschiede und Widersprüchlichkeiten zum Trotz, gemeinsam gegen Krieg, Neoliberalismus und Rassismus demonstrierten. Eine Millionen Menschen auf den Straßen von Florenz … könnt ihr euch das vorstellen?! Einen solchen Demonstrationszug, der keinen Anfang und kein Ende zu haben schien, hatte ich zuvor noch nicht erlebt. Diejenigen EinwohnerInnen von Florenz, die der Ausreiseempfehlung der Berlusconiregierung trotz angekündigter Horrorszenarien nicht gefolgt waren, bekundeten den Demonstrierenden auf vielfache Weise ihre Sympathie: Brot und Wein wurden in Hauseingängen gereicht, Transparente hingen aus offenen Fenstern, von den Balkonen wurde gewunken (siehe Foto auf dieser Seite), applaudiert und Konfetti geworfen. Für Momente hatten wir das schwindelerregende Gefühl, Teil einer wachsenden Bewegung zu sein; einer Bewegung, die tatsächlich das Potential in sich trägt, die herrschenden Verhältnisse weltweit verändern zu können. Zwischen tanzenden, singenden und lachenden Menschen, zwischen erhobenen Fäusten, pinken Puscheln, schwarzen, roten und bunten Fahnen blitzte hier und da dieser kleine, oft so ferne Funke Hoffnung auf, der die Fähigkeit besitzt, mich immer wieder zum Weitermachen zu bewegen und der die trotzige Gewissheit versprüht, daß es doch möglich sein kann, eine andere Welt zu gestalten, eine gerechte und freie Welt, in der viele Welten Platz finden.
2. Expo 2002: Bewegungsschau
Wahrscheinlich hätte es in ganz Europa keinen passenderen Ort für das Gründungstreffen des Europäischen Sozialforums geben können: In einer gigantisch großen, mittelalterlichen Festung mitten im Zentrum von Florenz kam sie zusammen und begegnete sich: die sagenumwobene Multitude des Protests. („Keine Atempause – Geschichte wird gemacht – es geht voran!“) Hatte sie sich erst, an den breitschultrigen Ordnern vorbei, durch das winzige und einzige Zugangstor gefädelt, breitete sie sich im Innenraum der Festung wie ein bunter Teppich aus. Sie offenbarte sich als Bazar der tausend Möglichkeiten, als Jahrmarkt der guten Hoffnungen. An allen Ecken wurden revolutionäre Devotionalien feilgeboten, Info- und Büchertische reihten sich wie bei einer Messe aneinander, Klabautermenschen führten ihre Kunststücke vor, es gab spontane Demos, Trommelsessions, Fotoausstellungen, Kaffeebuden … mit fortschreitender Dauer des Forums wurde es auf dem Gelände immer lebendiger und chaotischer. Das Forum war vieles, vor allem aber eines: es vergewisserte und bestätigte die Existenz der Multitude vor ihr selbst, es gab ihr Gesichter, Namen und Geschichten.
3. Bewegung auf italienisch: Disobbedienti und andere Ungehorsame
Neben dem offiziellen Tagungsort gab es (mindestens) zwei weitere Orte von zentraler Bedeutung: einer davon war das „Ippodromo“, ein großräumiges Gebäude an einer Pferderennbahn gelegen. Dort hatten die „Disobbedienti“ und deren SympathisantInnen ihr Lager aufgeschlagen. Die Disobbedienti sind eine in Italien geborene, mittlerweile europäische Bewegung mit zapatistischen Wurzeln. Hervorgegangen sind sie jüngst aus den „Tute Bianche“, nachdem diese in Genua ihre weißen Overalls ausgezogen hatten, um, wie sie selber sagen, in der Multitude aufzugehen. Ihre neue politische Strategie definieren sie als „sozialen Ungehorsam“, den sie als einen Weg verstehen, die Praxis des zivilen Ungehorsams der Straße auf andere gesellschaftliche Bereiche bis in den Alltag hinein auszudehnen, d.h., in eine Ansammlung von Praxen des Ungehorsams, der über die Straße hinaus reicht. Die Disobbedienti werden von der Rifondazione Comunista unterstützt, einer Abspaltung der Kommunistischen Partei. Seit diese vor wenigen Jahren aus der Mitte-Links-Regierung ausgestiegen ist, identifizieren sich die vier organisierten Strömungen innerhalb der Rifondazione mit der Bewegung. Die Zusammenarbeit der Disobbedienti mit Teilen der Rifondazione wird insbesondere von AnarchistInnen heftig kritisiert.
Zwei Libertäre aus dem Centri Sociale di Milano erzählten mir von einer vertikalen und hierarchischen Organisationsform der Disobbedienti und prangerten ihre Abhängigkeit von den Kommunisten an. Ich war sehr interessiert an den vielen verschiedenen Blickwinkeln und auch an den Konflikt- und Spaltungslinien innerhalb der „italienischen Linken“, verspürte aber nicht die Lust oder die Notwendigkeit, mich für oder gegen eine der Strömungen zu positionieren. Darum ging es in Florenz meiner Meinung nach auch nicht. Das ESF war gerade nicht der Ort für Abgrenzungen und Positionierungen, sondern in erster Linie ein Raum, eine Möglichkeit des Kennenlernens anderer Menschen und Bewegungen.
Und es lohnte sich, die Disobbedienti kennenzulernen. Wenn der weite Weg bis zum Ippodromo denn auf sich genommen war, konnte jedeR an offenen Vollversammlungen teilnehmen, beim ebenfalls offenen „Radio Global“ partizipieren, Veranstaltungen, wie z.B. über das Spannungsverhältnis von lokalem Widerstand und globalem Kampf am Beispiel Chiapas besuchen oder aber die eindrucksvolle „Global TV“ Station bewundern. Hier wurden Gegenbilder zur offiziellen Berichterstattung über das ESF produziert und via Satellit und Internet ausgestrahlt – allerdings für den Preis von 30.000 Euro für 20 Stunden Sendezeit. Die Räumlichkeiten wirkten offen und einladend: farbenfrohe Transparente, von denen die Mehrheit den Zapatistischen Kampf in Chiapas thematisierte, schmückten die Wände, Manu Chao wurde während der Vokü vom Band gespielt und im Allgemeinen wirkte die Stimmung sehr angenehm. Bei einem netten Gespräch mit zwei Companeros von der italienischen Assoziation Ya Basta!, die einen wesentlichen Teil der Disobbedienti ausmacht, wurde ich nach unseren Strategien auf der Straße und in der Gesellschaft gefragt. Ich mußte vor mir selbst und ihnen eingestehen, daß es die in der BRD derzeit nicht bzw. nur marginal gibt.
Dies ist ein großes Manko der „deutschen Linken“. Inspiriert von den Eindrücken aus Florenz und den italienischen Bewegungen bin ich verstärkt der Meinung, daß internationalistisch orientierte Perspektiv- und Strategiediskussionen in diesem Land mehr denn je anstehen.
4. Expo no! – die „radikale Linke“ und das ESF
Den dritten Versammlungsort bildete das Eur@ction HUB Projekt an der Piazza della Libertà. „Reclaim the media“ und „No compromises. Organize yourselves“ waren die zentralen Botschaften der internationalen AktivistInnen von Indymedia, pga network, Intergalactica, Reclaim your money, yomango und diversen anderen, erklärt autonomen Gruppen und Netzwerken mit internationalistischem Anspruch. Ihre fundamentale Kritik an der hierarchischen und undemokratischen Struktur des ESF hatte einen Teil der BewegungsaktivistInnen im Vorfeld veranlaßt, einen eigenen, unabhängigen Raum neben dem offiziellen ESF zu installieren.
Dieser wollte sich zwar nicht als Gegenveranstaltung verstanden wissen, ließ aber deutliche Abgrenzungsbestrebungen erkennen. In Bezug auf das ESF bewegte sich das HUB irgendwo zwischen Reproduktion linksradikaler Identität, Intervention und Konfrontation. Aber es war natürlich viel mehr als das: es war ein Treffpunkt, insbesondere für hightech bewanderte MedienaktivistInnen und Computerfreaks. Die thematischen Gebiete erstreckten sich über Taktiken der Medienkommunikation, Finanzaktivismus rund um den Kampf für Existenzgeld, die Attac konterkarierende „Robin Steuer – 100%Attack!“ – Kampagne, mit der die generelle Kostenlosigkeit von Waren propagiert wird, die Koordinierung von Gipfelprotesten wie z.B. für Thessaloniki 2003 im Rahmen des „European Social Activism (ESA)“und Austausch über Ideen zu Selbstbestimmung und horizontaler Organisierung. Viele der angekündigten Workshops fanden nicht oder nur im Kreis von Eingeweihten statt. Für Zugereiste, die nicht dem inner circle der Hub-OrganisatorInnen angehörten, gestaltete es sich ziemlich schwierig, einen inhaltlichen oder selbstorganisatorischen Zugang zum Hub zu finden. Auf mich wirkte der autonome Raum eher geschlossen, sehr technisch und irgendwie kalt (ist halt auch nicht meine Musik…). Aber es gab vieles zu bestaunen und zu lernen. Überflüssig oder gar politisch falsch war das Hub sicherlich nicht. Ein zentraler Bestandteil war das „TV Pirata“, das ebenso wie das „Global TV“ der Disobbedienti Gegenbilder ausstrahlte, allerdings mit dem erfreulichen Unterschied, daß kein Cent für die Nutzung der temporär enteigneten Sendefrequenz gezahlt wurde. Auf das Eur@ction Projekt und die Widersprüche innerhalb des offiziellen Forums machten AktivistInnen durch Kommunikationsguerilla-aktionen aufmerksam. So tauchten z.B. einige Freaks am Donnerstagabend motorisiert auf dem Hauptplatz der Festung auf und projizierten von Technosound begleitet das aktuelle Programm von „TV Pirata“ auf die Seitenfront eines Übertragungswagens der staatstragenden, als Sprachrohr der Berlusconiregierung fungierenden Sendeanstalt RAI.
5. Prominenz – Macht – Institutionalisierung
Die offizielle Programmzeitung des ESF im 28-seitigen Din-A3-Format löste wahrscheinlich nicht nur bei mir anhaltende Kopfschmerzen aus. Vielleicht hätte ich das Projekt von vornherein aufgeben sollen, mir einen Überblick über alle Konferenzen, Seminare, Workshops und Kulturveranstaltungen verschaffen zu wollen. Es grenzte bereits an Wahnsinn, sich zwischen all den spannenden Themen entscheiden zu müssen. Ich wurde das Gefühl nicht los, gerade jetzt im Augenblick möglicherweise doch am falschen Ort zu sein, „etwas Großes“ zu verpassen. Damit schien ich nicht die Einzige zu sein, jedenfalls interpretierte ich die gewisse hektische Grundstimmung bei den mit Programmzeitungen beladenen, umherirrenden Bewegungsbewegten dementsprechend. Seltene Ausnahmen bildeten da diejenigen, die die Ruhe und Gelassenheit aufbrachten, die ungewisse Reise zu einem der sehr weit außerhalb postierten Workshops anzutreten. Ich habe allerdings fast ausschließlich von Arbeitsgruppen gehört, die entweder mangels Beteiligung nicht oder nur im Kreis der VeranstalterInnen stattfanden oder aber im gedruckten Programm gar nicht erst auftauchten, also schlicht vergessen wurden. Das ist schade, wo dies doch gerade die Räume des direkten Austausches und des Feilens an Positionen hätten sein können. Die OrganisatorInnen des ESF legten der Struktur des Programms zufolge mehr Wert auf zentrale Megakonferenzen, auf denen Prominenz vorgeführt und bereits bekannte Statements frontal vorgetragen wurden. Die Macht war innerhalb des ESF durchaus spürbar: ein informeller Kreis von OrganisatorInnen, bei dem finanzstarke NGOs und ParteipolitikerInnen dominieren, hatte entschieden, wer, wann und wo sprechen durfte, wer welche Räume bekam und welche Veranstaltungen bevorzugt behandelt und beworben wurden. Die Selbstorganisation der TeilnehmerInnen war im wahrsten Sinne des Wortes nur am Rand möglich – oder eben im erklärt autonomen HUB oder bei den Disobbedienti im Ippodromo. Das ESF selbst war keine „Konferenz von unten“. Wem es gelang, sich – für ein paar Tage – mit dieser Tatsache abzufinden und zudem kollektive Machtgefühle leiden mag, konnte sich in den Gefühlswelten der zahlreichen ergreifenden und nachwirkenden Augenblicke laben: sich z.B. mitten in einem total überfüllten Saal wiederfinden, um, mit ehrlich gemeint erhobener Faust, im Chor mit tausenden vermeintlich Gleichgesinnten, die Revolution zu beschwören.
Allerdings sollten solche Einigkeitsgefühle nicht blind vor Vereinnahmungstendenzen und Institutionalisierung machen.
Nicht um Spaltungslinien herbeizureden, sondern um ihnen vorzubeugen, ist es notwendig, die Institutionalisierung der „Bewegung der Bewegungen“ zu verhindern. Gegenüber zentralistischen, vertikalen Organisationen und Organisationsformen ist grundsätzlich Wachsamkeit geboten. Viele soziale Bewegungen der letzten Jahrzehnte mußten die bittere Erfahrung der Vereinnahmung durch „Verwalter der Bewegung“ machen, die de facto die Bewegung aus den Bewegungen herausfilterten. Es wäre fatal, die offensive Vielfalt, aber auch die Verschiedenheiten und Widersprüche, die die „Bewegung der Bewegungen“ ausmachen und sie lebendig halten, hinter einer Wand von kollektiver Einigkeit wie eine lästige Nebenwirkung zu verstecken. Es wird für die Existenz der „Bewegung der Bewegungen“ notwendig werden, innerhalb der tausendfach beschworenen, einigenden Klammer, daß eine andere Welt notwendig und möglich ist, einer aufgesetzten Homogenisierung von außen und innen durch offenes Austragen von Konflikten entgegenzuwirken, in einen echten Austausch zwischen den jeweiligen Vorstellungen und politischen Strategien zu treten und sich dabei die Fähigkeit des konstruktiven Streitens (wieder) anzueignen.
6. Die Repression kam danach – Spaltungsversuche der Regierung(en)
Unsere neunköpfige Gruppe hatte bei der Einreise verhältnismäßig wenig Ärger mit den Carabinieri an der verschneiten Grenzstation am Brenner. Wir wurden zwar eine lästige Stunde lang gefilzt und mußten unsere Namen registrieren und unsere Pässe kopieren lassen, aber wir konnten schließlich die Grenze passieren. Es ist Spekulation, ob es nun daran lag, daß wir Plakate, Transparente sowie schwarze Klamotten und sogar offenkundig linke, politische Lektüre aufgrund der Erfahrungen von Genua zuhause gelassen hatten, oder an den drei Presseausweisen, die wir vorweisen konnten oder ob unser Glück möglicherweise doch dem beherzigten Tip einer italienischen Freundin zu verdanken ist, die uns geraten hatte, unbedingt mittags – zur Essenszeit – über die Grenze zu fahren. Eine Zugehörigkeit zum Feindbild Nummer Eins, dem sogenannten „Black Block“, und somit eine potentielle Gefährdung für die Kunstschätze von Florenz – mit der die Aufrüstung des Repressionsapparates im Vorfeld gerechtfertigt wurde – konnte und/oder wollte man uns nicht anhängen. Trotz der mit Sekt begossenen Freude über unser persönliches und elitäres Glück, blieb zum einen die Gewissheit, mal wieder Datenmaterial für die Bewegungsprofile der Europol und des Schengen Information System geliefert zu haben und zum anderen die grundsätzliche Empörung über die zur Routine gewordene Unverschämtheit, Grenzen nach Belieben der Herrschenden für Kapital- und Konsumströme zu öffnen und für MigrantInnen sowie für regierungs- und systemkritische Menschen zu schließen. Später sollten wir erfahren, daß insgesamt 1600 Menschen an der Einreise nach Italien gehindert und mindestens drei Leute verhaftet wurden, weil sie sich der Staatsgewalt widersetzt hatten. Ungeheuerlich mutet auch die Tatsache an, daß die Bundesregierung geheime „schwarze Listen“ von Polizei und Geheimdiensten führen läßt, auf denen Menschen verzeichnet werden, die angeblich eine „Gefährdung für die öffentliche Ordnung“ darstellen. Diese „Informationen“ werden auch anderen Staaten zur Verfügung gestellt. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit dem faschistoiden Berlusconi-Italien ist offenkundig.
Bis auf die Schikanen an der Grenze hielten sich Polizei und Carabinieri für die Dauer des Sozialforums zurück; auch die in Genua erwiesenermaßen eingesetzten Provokateure kamen bei der Demo in Florenz nicht zum Einsatz. Selbstverständlich geschah das nicht aus plötzlicher Menschenfreundlichkeit, sondern aus taktischen Erwägungen. Wahrscheinlich hätte ein Desaster in Florenz dem Ansehen Berlusconis, das spätestens seit den Ereignissen von Genua auf internationaler Ebene angekratzt ist, zu sehr geschadet.
Die während des Sozialforums ausgebliebene Welle der Repression schlug aber dann, wenige Tage nach der friedlichen Großdemonstration und dem Abreisen der internationalen Presse, doch noch ein, und zwar direkt und massiv auf radikale Teile der italienischen Bewegung. In einer großangelegten Polizeiaktion wurden zahlreiche Häuser in mehreren Städten Süditaliens durchsucht; 20 AktivistInnen der No-Global-Bewegung wurden gleich ohne Prozeß und ohne Beweislage eingeknastet, teils im Hochsicherheitsgefängnis und teils in Hausarrest; 22 weitere haben ein Verfahren am Hals. Ihnen allen wird vorgeworfen, sie hätten mit „Gleichgesinnten die umstürzlerische Vereinigung ‚Netz des rebellischen Südens'“ aufgebaut und außerdem wird ihnen die „Mitgliedschaft“ im sogenannten „Black Block“ nachgesagt. Sie werden unter anderem der „politischen Konspiration“ beschuldigt, ein im Faschismus geschaffener Straftatbestand, der nicht erst bei vollzogenen Taten, sondern bereits bei „umstürzlerischen Absichten“ vorliegt. Mit einer solchen Begründung könnten Tausende in Italien (und nicht nur dort) verhaftet werden. Hunderttausende demonstrierten in vielen Städten Italiens gegen diese Verhaftungswelle. Unter dem Slogan „Wir sind alle subversiv“ forderten sie die Freilassung der politischen Gefangen.
Ein Zufall ist es ganz sicher nicht, daß die Verhaftungen ausgerechnet kurz nach der gewaltfreien Demo und dem erfolgreichen Sozialforum stattgefunden haben. Nach Einschätzungen vieler italienischer GenossInnen versucht die italienische Regierung die Bewegung in einen guten, friedlich-konstruktiven und einen bösen, gewalttätig-kriminellen Teil zu spalten. Bisher sieht es jedoch so aus, daß dies der Regierung trotz der totalen Medienkontrolle nicht gelingt. Dieses Vorgehen erweckt den Eindruck, daß sich Berlusconi und seine Schergen bereits von der italienischen Bewegungslinken in die Enge getrieben sehen und daher altbewährte aber offensichtliche Unterdrückungsinstrumentarien, wie das Kriminalisieren und Wegsperren von politisch Andersdenkenden, zur Sicherung ihrer Herrschaft heranziehen müssen. (Mehr zum Thema Repression und entsprechendem Widerstand bei: www.italy.indymedia.org)
7. Fragend gehen wir
Es ist natürlich falsch zu behaupten, die Multitude oder die „Bewegung der Bewegungen“ habe sich in Florenz auf dem ESF getroffen. Die allermeisten waren ja gar nicht da. Wer kann sich den Luxus einer solchen Unternehmung schon leisten?
Wer hat das Geld? Wer hat die Zeit? Wer hat die Bewegungsfreiheit? Und wer steht schon auf „Event- und Kongreßhopping“? Das ESF hat niemand und nichts repräsentiert. Das ist auch nicht der erklärte Anspruch der InitiatorInnen des Weltsozialforums und seiner kontinentalen Geschwister. So heißt es in Punkt 5 der Charta der Prinzipien des WSF: „Das Weltsozialforum bringt Organisationen und Bewegungen der Zivilgesellschaft aus allen Ländern in der Welt nur zusammen und verbindet sie, aber beabsichtigt nicht, eine Institution zu sein, welche die Weltzivilgesellschaft repräsentiert.“
Solche Treffen eignen sich mindestens dazu, sich von anderen Bewegungen begeistern und anstecken zu lassen. Es ist daher wirklich schade, daß kaum Leute aus der BRD den Weg nach Florenz auf sich genommen haben, denn nördlich der Alpen könnten wir von dem Wind der Veränderung, der in Italien (und auch im spanischen Staat) weht, eine kräftige Brise gebrauchen. Für mich war es jedenfalls eine richtige Entscheidung, nach Florenz zu reisen. Sonst hätte ich wahrscheinlich nicht erfahren, daß in Istanbul gerade ein anarchistisches „schwarzes Haus“ eröffnet hat; oder daß nette AnarchistInnen aus Moskau eine „radical east-west-cooperation“ anstreben, oder was es mit dem „Tortenattentat“ von Porto Alegre auf sich hat. Mir wären all‘ die vielen Geschichten entgangen, die sich auf solchen Fahrten, auf den Wegen zu überfüllten Sälen oder beim Kaffee nach dem Aufwachen erzählt werden – lebendige Geschichte eben.
Anmerkungen
Vorschläge zur Weiterbildung:
AK KRAAK: "Arme reiche Welt" Eine Videodokumentation über das Weltsozialforum in Porto Alegre. Zu bestellen bei akkraak@squat.net
Azzelini, Dario: Genua. Italien. Geschichte. Perspektiven. Berlin 2002. Zu bestellen bei assoziation-a@t-online.de (siehe Rezension in dieser GWR, S. 14)