Gerda Lerner, Zukunft braucht Vergangenheit, Warum Geschichte uns angeht, Ulrike Helmer Verlag, Königstein, 2002, 304 Seiten, 22,90 €.
Die weltweit bekannte Historikerin Gerda Lerner zählt zu den Pionierinnen der Frauengeschichtsforschung. Sie wurde 1920 in Wien geboren; als Tochter einer jüdisch-assimilierten Familie. 1939 emigrierte sie in die USA. An der Universität Wisconsin, in Madison, erhielt sie 1980 ihre Berufung auf einen Lehrstuhl, der mit dem Auftrag verbunden war, Forschungsprojekte im Bereich der Frauengeschichte aufzubauen. Im deutschsprachigen Raum ist sie vor allem bekannt geworden, aufgrund ihrer aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzten Publikationen, „Die Entstehung des Patriarchats“ und „Die Entstehung des feministischen Bewusstseins“ (vgl. dazu auch GWR 169 und GWR 191).
Was verbirgt sich hinter dem recht pauschal wirkenden Titel „Zukunft braucht Vergangenheit“? Die Essays dieses Buches verfolgen, wie sie es selbst formuliert, eine andere Spur des Bewusstseins: „das Ineinandergreifen meiner eigenen Lebenserfahrung als vertriebene Jüdin und meiner Arbeit als Wissenschaftlerin, die sich mit der Problematik von Rasse, Klasse und Geschlecht auseinandersetzt.“ (S. 15)
Gerda Lerner schildert eingehend die konflikthafte und ambivalente Definition ihres Jüdinseins. (S.25-85) Selbstkritisch fragt sie, warum sie über dreißig Jahre lang die Geschichte der weißen und schwarzen amerikanischen Frauen dokumentiert und erforscht hatte, ohne daran zu denken, die Geschichte der jüdischen Frauen zum Thema ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu machen.
Anhand dieser autobiographisch aufgeworfenen Fragestellung thematisiert sie die Ursachen ihrer phasenweise verdrängten jüdischen Vergangenheit. Warum geschah dieses?
Vom heutigen Standpunkt zurückblickend erinnert sie sich bewusst, aufgrund welcher Einflüsse und Erlebnisse, sich ihr „Bewusstsein als jüdische Frau“ entwickelt hat. (S. 15; 25-85) Ihre persönlichen Schilderungen hinsichtlich dieser Fragestellungen verkörpern, meines Erachtens, die eigentlichen Kernaussagen des Buches. Die Autorin setzt sich auf sensible Weise mit dem Begriff der „jüdischen Identität“ auseinander. Wobei sie jüdische Lebensformen sowie deren differente Identitätsbildungsprozesse keineswegs als ein homogenes, in sich abgeschlossenes System von typisierten Verhaltensweisen herausstellen will. Im Gegenteil: es geht ihr um das Aufbrechen von Vorurteilsstrukturen; um die Befreiung von kategorisierten Sichtweisen, welche „jüdische Existenz“ vornehmlich in die Absonderung drängen. Diese gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesse haben zur Folge, dass eine Jüdin oder ein Jude gemeinhin definiert werden als die Andere oder der Andere. Stigmatisierungen eines unauflöslichen Dilemmas? Mehr noch: es rechtfertigt die strukturell verfestigten Kreisläufe rassistischer und antisemitischer Gewalt gegen Menschen jüdischer Herkunft sowie gegen Gruppierungen, die sich (enkulturell) jüdischen Lebensformen zugehörig fühlen.
Das Stigma „des Andersseins“
Gerda Lerner schildert, dass dieses Stigma sie im Prinzip lebenslang belastet hat. „Mein Anderssein“, beschreibt sie, „war nicht zu übersehen, als ich mit dem Graduiertenstudium anfing – zu alt (über vierzig), eine im Ausland geborene Frau, eine Jüdin, die darauf bestand, sich auf ein Gebiet der Geschichtswissenschaft zu spezialisieren, das die Professoren für exotisch und absonderlich hielten.“ (S.38) Erst als sie viele Jahre des Kampfes um die Anerkennung des neuen Forschungsbereiches der Frauengeschichte bewältigt hatte; und dann als eine bekannte Historikerin an die Universität von Wisconsin kam, fühlte sie sich akzeptiert. Die Fortschritte in ihrem umstrittenen Arbeitsgebiet der Frauengeschichte erbrachten eine gewisse gesellschaftliche Achtung. In dieser Zeitphase, in der sie glaubte den fremdbestimmten Status des Andersseins überwunden zu haben, kam es zu antisemitischen Vorfällen in ihrer näheren Umgebung. „Dann wurde vor einigen Jahren auf ein Plakat an der Tür meines Arbeitsraums in der Universität ein Hakenkreuz geschmiert. Das war im April. Im August des selben Jahres waren bereits einundvierzig antisemitische Vorfälle in Madison registriert worden; ein weiteres Ereignis ist dabei nicht berücksichtigt, weil es nicht angezeigt wurde; eine antisemitische Drohung auf meinem Anrufbeantworter. Gehe zurück auf Los! Der Jude bleibt der Andere.“ (S.38)
Die Autorin betont, dass ihre eigene Geschichte recht gut illustriert, wie es auf Juden und Jüdinnen wirkt, „dass sie als von der Norm abweichende Gruppe“ zu AußenseiterInnen gebrandmarkt sind. (38) Für die betroffenen AußenseiterInnen selbst gibt es, wie sie herausstellt, im Prinzip drei Möglichkeiten, zu reagieren: kultureller Separatismus, Verleugnung durch Assimilation und Akkulturation. (S.39f)
Für Außenstehende der Problematik mag die Frage entstehen, weshalb sich eine erfolgreiche Historikerin entschieden und engagiert mit den Formen des Antisemitismus; den Diskriminierungen gegen Juden und Jüdinnen auseinandersetzt? Denn ihr selbst war doch offensichtlich, nach der Emigration (1939 aus Österreich) weitgehend eine „Integration“ in die amerikanische Gesellschaft gelungen.
Sie publiziert nicht in erster Linie „als Stellvertreterin“ für die anderen jüdischen AußenseiterInnen.
Als eine ehemals vom Terrorregime der Nazis Verfolgte, die sich, mit ihren engeren Angehörigen vor einer bevorstehenden Deportation in ein Konzentrationslager, sozusagen retten konnte und dann im Alleingang in die USA emigrieren konnte, begreift sie sich selbst nicht als einen vom „Schicksal begünstigten Einzelfall“. Sie ist keineswegs eine Anhängerin eines kulturellen Separatismus, der das eigene Anderssein, u. a., aufgrund von (selbstgewählten) ghettoisierten Lebensformen, als etwas Positives zu bestätigen versucht. (S.39) Andererseits sieht sie sich, seit ihrer Kindheit und Jugend bis heute, in einem tieferen Sinne mit den Lebensschicksalen sowie der Geschichte der anderen jüdischen Menschen verbunden. Dieses jedoch fernab von einem traditionellen, separatistischen Standpunkt, wie: „Wir sind das auserwählte Volk, klüger, besser, moralisch überlegen und durch unsere Leidensgeschichte irgendwie geläutert.“ (S. 39) Was aber, so fragt sie, „bleibt einem Juden wie einer Jüdin, wenn sie sich von der Glaubensgemeinschaft abwenden? Antisemitismus und Geschichte.“ (S. 32) Nach dem Holocaust war Geschichte für sie nicht länger etwas, was sich jenseits der eigenen Person vollzieht, und vorrangig dazu dienen kann das eigene Leben und das der eigenen Zeit zu verstehen. „Wir Überlebenden hatten nun die Aufgabe, die Erinnerung wachzuhalten, um uns der… Vernichtung unseres Volkes zu widersetzen. Geschichte wurde uns zur Verpflichtung.“ (S. 37) Für die Geschichtswissenschaftlerin Gerda Lerner war damit zugleich die Auseinandersetzung mit der Problematik des Andersseins verbunden.
Dieses wiederum motivierte sie zum Studium der Frauengeschichte. „Denn länger als alle anderen Gruppen der Menschheit sind die Frauen von anderen und als die Anderen definiert worden.“ (S. 42, vgl. auch S. 141-152) Als Historikerin fragt sie nach den Ursachen der fremdbestimmten Zuordnungskategorien. Dabei geht es ihr darum, die Kategorisierungen der Menschen in – Geschlecht, Rasse, Etnizität, Klasse – zu de-konstruieren (vgl. S. 210-281), um auf diese Weise systemverändernde Ansätze der Befreiung aufzuzeigen.