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Nadelstiche im Wendland

| wolfgang hauptfleisch

Sonntagmorgen, 10.11.2002

Ein einsamer Fahrradfahrer ackert über Hügel die Straße aus Hitzacker Richtung Neu Darchau entlang, etwa 35 km entfernt vom sogenannten „Zwischenlager“ Gorleben. Kein normaler Sonntag: Es ist Castor-Zeit im Wendland, etwa alle 500 Meter entlang der Strasse hat sich Polizei postiert. Der Radler biegt um eine Kurve, plötzlich erscheint ein Polizeibulli, der Fahrer steigt aus und stellt sich als Herr Blafasel aus Bonn vor.

Personalienkontrolle. Offensichtlich sei der Radler auf dem Weg zu einer Kundgebung, welche das sein soll, weiß der Beamte auch nicht, nur dass diese „nicht genehmigt ist“. Der Fahrer steigt mit dem Ausweis ins Auto und telefoniert, wartet auf Antwort. Zwei Beamte sind ausgestiegen, sichern – Hand an der Waffe wie gelernt – hinter dem Fahrradfahrer, ein Beamter durchsucht den komplett leeren Rucksack, scheint enttäuscht zu sein.

Zeit genug für Besinnung: Einen Tag vorher haben etwa 4000 Menschen am „Erkundungsbergwerk“ in Gorleben demonstriert, mehr als von den meisten erwartet, bei lausigem Wetter. Bereits an diesem ersten Tag wird klar, die Anti-Atom Bewegung ist und bleibt ein Phänomen, besonders die Fähigkeit sich gerade dann zu berappeln wenn sie von allen anderen totgesagt wird.

Bereits auf der Auftaktkundgebung werden die Themen der Proteste abgesteckt, denn dass die Demonstration dieses Mal nicht von der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, sondern vom republikanischen Anwaltsverein angemeldet wurde, sollte bereits darauf hindeuten: Es geht hier nicht nur um die Transporte von La Hague nach Gorleben. Es geht auch um die Einschränkung der Grund- und Menschenrechte, ohne die Atomenergie niemals durchsetzbar war und auch in Zukunft nicht sein wird. Die Bezirksregierung hatte zwei Wochen vorher bereits mit dem bisher umfangreichsten Versammlungsverbot kräftig vorgelegt (Wen die Geschichte des Widerstands im Wendland interessiert, dem sei die Begründung des Versammlungsverbots wärmstens empfohlen). Den Versuch, entlang der Transportstrecke Protestcamps wie in den letzten Jahren zu etablieren startete schon niemand mehr und selbst X1000 Mal Quer zog sich bis ins nahe Lüchow gelegene Rehbeck zurück. Stattdessen kommen die angereisten Gäste privat unter, und dass funktioniert reibungslos, dank der Gastfreundschaft der Anwohnerinnen und Anwohner.

Im Wendland wird der Zusammenhang von Grundrechtseinschränkung und Durchsetzung des Atomprogramms so deutlich wie nirgends: Die Polizei gehört wochenlang zum alltäglichen Anblick in den Strassen von Hitzacker, Dannenberg und Lüchow. Ebenso wie Patrouillen in den Wäldern und auf Feldwegen. Jede, jeder ist potenziell verdächtig. Man muss das selbst erlebt haben um zu begreifen was es heißt, rund um die Uhr und überall unter Bewachung zu stehen.

Der Ort der Auftaktdemonstration, das „Erkundungsbergwerk“, hat aber noch einen anderen Hintergrund: Es geht auch darum, die schleichende Festlegung auf den „Endlager-Standort“ Gorleben wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

Denn obwohl längst klar ist, dass der Salzstock in Gorleben die Kriterien für eine Jahrtausende währende Einlagerung nicht erfüllt, werden mit jedem Transport Tatsachen geschaffen.

Zurück auf der Landstrasse

Die Zeit vergeht weiter, Autos fahren vorbei, mit NixMehr-Spuckis im Fenster, vollbesetzt mit Personen. Auf die vorsichtige Frage des Fahrradfahrers, warum gerade er angehalten wird und nicht die Autos, bekommt er Antwort: „Wir sind jetzt mit Ihnen beschäftigt.“ Bilanz eines polizeilichen Vorgangs: Sechs Beamte, fast eine Stunde. Einen Ausweis kontrolliert, ca. 40 Personen in 10 Autos ohne Kontrolle durchgelassen. Das Ergebnis bekommt der

Radler mitgeteilt, als er endlich seinen Pass zurückbekommt: „Na ja, wir wissen jetzt dass Sie hier sind, und Sie wissen jetzt, dass wir das wissen, viel Spaß noch.“

16.700 Beamte von Polizei und Bundesgrenzschutz waren bei diesem Transport im Einsatz.

Tagelang. Irgendetwas müssen sie ja wohl tun, also wird kontrolliert und überwacht was das Zeug hergibt. Sie fährt dabei auf, wovon James Bond nur träumen konnte: Bewegungsmelder im Wald, Wärmebildkameras, Infrarot und weiß der Himmel was noch. Was mit all den gelben und rosa Formularen passiert, den Übergabezetteln und Vorgängen. keiner weiß es und erst recht nicht mit dem tagelangen Filmmaterial, den Tausenden von Bildern.

Ein paar Kilometer weiter wird ein Fußgänger angehalten und durchsucht, die Polizisten leeren seine Taschen und fotografieren jeden Zettel, einschließlich einiger alter Kontoauszüge, mit einer Digitalkamera. Dauer des Vorgangs: gut 1 Stunde 30 Minuten. Wer jemals mit Datenverarbeitung zu tun hatte, weiß, dass die Einordnung dieser Daten ein vielfaches dieser Zeit beanspruchen wird. Dem Autor dieses Artikels schießt dabei der teuflische Gedanke durch den Kopf, sich beim nächsten Mal die Taschen mit wirr beschriebenen Zetteln voll zu stopfen.

Mittwochmittag, 13.November

Der Castor rollt auf Lüneburg zu. Der reibungslose Transport ist bereits in die Hose gegangen: Seit dem frühen Morgen melden die Radiosender erhebliche Verspätungen des Zuges durch Blockaden und Ankettaktionen entlang der gesamten Strecke, nicht erst ab Lüneburg. Die Polizei navigiert derweil immer unkoordinierter durch das Wendland. Wenige hundert Meter vom Einsatzzentrum der Polizei in Leitstade, wo diese gerade die Presse eingeladen hat um mit dem reibungslosen Ablauf des Transports zu prahlen, ketten sich zwei Aktivisten mit Rohren an die Gleise. Sie tun es gründlich, den Technikern der Bahn bleibt nichts anderes, als nach zwei Stunden zu kapitulieren, die Schienen aufzuschneiden und aus dem Gleisbett zu heben.

Es sind die „Nadelstiche“, so formuliert es Einsatzleiter Reime später, die „der Polizei zu schaffen machen“. Tatsächlich verschiebt sich der Widerstand auf phantasievolle dezentrale Aktionen, sei es ein gemeinschaftliches Kaffeetrinken in Hitzacker oder die Neugründung von Dörfern entlang der Strecke zwischen Lüneburg und Dannenberg.

Die Polizei derweil tut weit mehr als den Transport zu sichern, sie verhindert mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln jeden öffentlichkeitswirksamen Protest. 900 Ingewahrsamnahmen in zwei Tagen. Einige bis zu 20 Stunden ohne richterlichen Beschluss (der laut Gesetzt unverzüglich einzuholen ist). Da wird es den DemonstrantInnen wenig nützen, wenn ihre Ingewahrsamnahme in ein paar Monaten von irgendeinem Gericht als unrechtmäßig erklärt wird, wie es in der Vergangenheit regelmäßig der Fall war.

Erschreckend ist die Tendenz, dass Polizei und offensichtlich große Teile der Medien dies als Selbstverständlichkeit akzeptiert haben.

Nicht nur, dass Protest kaum noch öffentlich präsentiert werden kann, die Presse, ehemals Multiplikator des Widerstandes im Wendland, wird immer massiver an ihrer Berichterstattung behindert, kann Demonstrationsorte nicht anfahren, muss die Versammlungsverbotszone verlassen (obwohl diese nicht für die Presse gilt) oder wird, wie in einem Fall bei Leitstade passiert, gleich mit in die Gefangenensammelstelle nach Neu Tramm verbracht.

Die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag

Während etwa 300 ProtestlerInnen die Nacht in der Obhut der Polizei in Neu Tramm verbringen, gehen bei Laase ca. 1000 Menschen auf die Strasse. Die Polizei räumt die (Sitz-) Blockade schnell und effektiv, weiß sich aber nicht anders zu helfen als etwa 700 DemonstrantInnen gleich vor Ort in Gewahrsam zu nehmen.

Donnerstagmorgen, 14. November

Noch ist es dunkel, im Radio meldet der Sprecher: „… vor wenigen Minuten sind die LKWs mit den Castorbehältern im Endlager angekommen.“

Sprache kann lustige Fallen stellen. Wer es nicht gemerkt hat, muss die letzten beiden Sätze noch einmal lesen.

Einige Stunden später: Jochen Stay, einer der bekanntesten Sprecher der Initiative X1000 Mal Quer und ehemaliger Koordinationsredakteur der graswurzelrevolution, wird auf dem Weg zur Pressekonferenz in Gedelitz von Bundesgrenzschutzbeamten bei einer Straßenkontrolle im Beisein von Pressevertretern schwer misshandelt. Egal ob dies ihm persönlich galt oder nicht, dieser Schlusspunkt wirft noch einmal ein klares Bild auf das, was die Anwohnerinnen und Anwohner im Wendland als „Besatzung“ bezeichnen.

Dass der Protest aber – trotzdem – bleibt, die Stimmung keineswegs in ein resignierendes „wir können ja nichts machen“ abgeglitten ist, macht Mut. Im Gegenteil, wer den letzten Transport im November 2001 im Wendland erlebt hat (vgl. GWR 264), bemerkt überall neues Selbstvertrauen und Zuversicht.

Nie war der Protest weiter von einem bloßem „wir wollen den Müll nicht bei uns“ entfernt.

Einige Wochen vorher haben in Straßburg 5000 Menschen für den Ausstieg demonstriert und damit klargemacht, dass die Atomspirale kein nationales Problem ist und sich der Protest über die Grenzen hinweg organisiert.

Also wieder ein Transport nach Gorleben vorbei. Der dritte nach dem sogenannten Atomkonsens, doch dieser ist längst mausetot und ich jedenfalls hab davon in der letzten Woche nichts mehr gehört. Der Widerstand lebt, im wahrsten Sinne: Nicht langbärtige Alt-Aktivisten prägen das Bild der Proteste, sondern junge Menschen, viele von ihnen sind erst nach der Wiederaufnahme der Transporte 2001 zum Widerstand gestoßen. Die Menschen in der Region empfangen die angereisten Protestlerinnen und Protestler herzlicher denn je. Und so ist man hin und hergerissen zwischen Begeisterung über den Widerstand und dem Gruseln das einen befällt, wenn man sieht mit welcher Selbstverständlichkeit Grundrechte außer Kraft gesetzt werden.

Einzelne Aktionen und Ideen hervorzuheben würde zu weit führen, wer daran interessiert ist, lese Berichte auf indymedia oder unterhalte sich einfach mit jemanden der vor Ort war.

Das Schlusswort, lassen wir es Herrn Reime im O-Ton, weil er doch in vier Wochen in den Vorruhestand geht: „Die Qualität des Widerstandes wird es auf absehbare Zeit nicht erlauben, die Einsatzkräfte zu reduzieren“.

Und damit den Aufwand und den politischen Preis. Und vor dem nächsten Castor, ob im März oder im November 2003, gibt es für die Bewegung genug zu tun, um in Form zu bleiben.

Anmerkungen

Der Autor ist aktiv in der WigA (Widerstand gegen Atomanlagen) Münster und befand sich während des Castortransports 18 Stunden ohne richterliche Haftprüfung in Gewahrsam.