Es gibt wohl wenige Aktive in der anarchistischen Bewegung Europas, die in ihrem Leben so unmittelbar den Übergang von den alten revolutionären Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts zu den antimilitaristischen und ökologischen Kämpfen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelebt und durchgehalten haben wie die französische Anarchistin May Picqueray, die in der französischen anarchistischen Bewegung auch den ehrenvollen Zusatznamen „La Réfractaire“ (Die Dissidentin oder die Aufsässige, d.A.) angehängt bekommen hat. 2003 jährt sich zum zwanzigsten Mal der Todestag dieser im deutschen Sprachraum gänzlich unbekannten Anarchistin und Résistance-Widerständlerin.
May Picqueray in Paris
May wuchs in der kleinen bretonischen Küstenstadt Saint-Nazaire auf. Nach einigen Jahren in Kanada, wo sie Englisch lernte, kam sie als Achtzehnjährige am Ende des Ersten Weltkriegs und auf der Flucht vor ihren Eltern und einer bereits gescheiterten Ehe nach Paris. Im Quartier Latin überschnitten sich die Milieus der aus der konservativen Bretagne flüchtenden Jugendlichen und der AnarchistInnen. Sie hörte Vorträge des damaligen anarchistischen Intellektuellen Sébastien Faure und fühlte sich von nun an für immer der anarchistischen Bewegung verbunden. Sie lernte 1921 den libertären Kriegsdienstverweigerer Louis Lecoin kennen, der die Zeit des Ersten – und auch die meiste Zeit des Zweiten – Weltkrieges im Gefängnis verbrachte, weil er nicht am Krieg beteiligt sein wollte. Mit ihm und anderen AnarchistInnen teilte May Picqueray ihren Abscheu vor dem Krieg und entwickelte jene typische Form des französischen anarchistischen Antimilitarismus, der nicht frei von Widersprüchen ist und auch nicht immer mit Gewaltfreiheit gleichzusetzen. Lecoin etwa lief im Paris der zwanziger Jahre meist bewaffnet herum und sammelte auch Waffen für die spanischen RevolutionärInnen von 1936. May Picqueray unternahm mit einigen Mitgliedern ihrer Pariser Gruppe eine Reise zu den Schlachtfeldern im Norden und an der Somme. Dort stellten sie aus Armeebeständen eine Kiste Granaten sicher und versteckten sie in Paris für ihre seltsame Art der antimilitaristischen Aktion.
Eine dieser Granaten kam auch schnell zur Anwendung, als sie Lecoin kennen gelernt hatte. Louis Lecoin hatte zusammen mit May und anderen AnarchistInnen ein Unterstützungskomitee für Sacco und Vanzetti gegründet, jene zwei italienischen Anarchisten, die in den USA fälschlicher Weise wegen Raubmordes zum Tode verurteilt worden waren. Weil die französische bürgerliche Presse zu diesem Skandal schwieg, wollte sie May Picqeray mit einer Granate noch im Jahr 1921 aufwecken, die sie per Geschenkpaket an die US-amerikanische Botschaft in Paris sandte. Das Päckchen wurde schon im Vorzimmer des Botschafters geöffnet und die Granate konnte noch in die Ecke geworfen werden, bevor sie explodierte. Niemand kam um, doch sie richtete beträchtlichen Sachschaden an. In ihrer 1979 erschienenen Autobiographie meint May, die Granate hätte ihre Schuldigkeit getan, denn danach hätten auch die großen französischen Zeitungen regelmäßig über den US-Justizskandal berichtet. Nun ja…
Reise nach Moskau
Schnitt. Kurz darauf agierte May Picqueray allerdings weitaus mutiger und unter Einsatz ihres eigenen Lebens, und diesmal war ihre Aktion keineswegs widersprüchlich: als Vertreterin der Metallarbeiterföderation, wo sie eine Stelle als Sekretärin angenommen hatte, reiste sie zusammen mit dem Delegierten Lucien Chevalier 1922 zum Kongress der „Roten Gewerkschafts-Internationale“ nach Moskau. Die russische Revolution war auch in Frankreich viel diskutiert worden. Je mehr über die Methoden des neuen bolschewistischen Regimes und die Unterdrückung der AnarchistInnen, der libertären Machno-Bewegung und des Aufstandes der libertären Matrosen von Kronstadt bekannt wurde, je stärker also die Kritik der AnarchistInnen wurde, desto geteilter die Meinungen unter den Arbeitenden. Lenin wollte auf dem Moskauer Kongress die Gewerkschaften aus aller Welt der Linie der Kommunistischen Partei unterwerfen. Dieses Ansinnen hatte in Frankreich bereits zur Spaltung der alt-ehrwürdigen anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CGT (Confédération Générale du Travail) geführt. Die Metallarbeiterföderation gehörte zur in Frankreich unterlegenen Minderheit und sollte in Moskau gegen Lenins Statut stimmen. May und Lucien reisten über Berlin, wo gerade Emma Goldman und Alexander Berkman aus Russland eingetroffen waren. Sie waren desillusioniert über Hunger, Repression und den Niedergang der russischen Revolution und erzählten den beiden brandheiß ihre aktuelle Einschätzung. Dabei baten sie May, sich für die Freilassung der beiden US-amerikanischen AnarchistInnen Senya Flechin und Mollie Steimer einzusetzen, die im Knast der Tscheka (Geheimdienst der Bolschewiki) in Archangelsk schmachteten. May Picqueray lernte auf der Reise die grausamen Lebensbedingungen der Menschen im russischen Winter 1922 kennen, ihren Hunger und ihre Angst vor Repression. Sie besuchte illegal neben den Konferenzsitzungen im Untergrund lebende Anarchisten wie Nicolas Lazarevitch oder Ex-Anarchisten wie Victor Serge, die nun die Bolschewiki unterstützten. Victor Serge’s damalige Ausrede, die Bolschewiki seien die einzige Kraft, die Ordnung in das Chaos der Revolution bringen konnten, ließ May keine Sekunde gelten, meint in ihrer Autobiographie später aber gnädig: „Er sollte seinen Fehler bald einsehen.“ Während und nach dieser Reise nahm May Picqueray kein Blatt vor den Mund und denunzierte gnadenlos den Scherbenhaufen der Revolution, den sie mitansehen musste – ganz im Gegensatz zu vielen Sowjetunion-Reisen so vieler RevolutionärInnen aus dem Westen. Bereits beim zweiten Gala-Diner zum Empfang der Kongressdelegierten im Kreml sprang sie wütend auf den Tisch und protestierte lauthals gegen die Völlerei der Delegierten, wo im Lande doch Hunger herrsche.
Und nachdem die Minderheit, die das Leninsche Statut ablehnte, die Abstimmung – wie zu erwarten war – klar verloren hatte, der Kongress vorbei und bei einem letzten Abend sogar Trotzki und Sinovjew anwesend waren, wurde May Picqueray gebeten, ein französisches Chanson zu singen. Sie tat das gerne und sang den Text ihres damaligen Lieblingschansonniers Charles d’Avray lauthals: „Auf, auf, ihr alten Revolutionäre, die Anarchie wird endlich triumphieren!“ In ihrer Autobiographie schreibt sie: „Oh war das schön, danach in die Gesichter der Kommunisten zu schauen! Wenn sie gekonnt hätten, hätten sie mich auf der Stelle hingerichtet.“
Der Wagemut May Picquerays wird erst deutlich, wenn man/frau weiss, dass ihr Delegiertenstatus keineswegs eine Lebensversicherung war. Einige Delegierte sind auf solchen Reisen umgekommen, May’s Genossen Lepetit und Vergeat waren mit demselben Status im vorher gehenden Jahr in der Sowjetunion für immer verschwunden. Und trotz diesem Affront gingen Lucien und May wenige Tage nach Konferenzende direkt zum Büro Leo Trotzkis, um die Freilassung von Senya Flechin und Mollie Steimer zu erbitten. Dabei gab May Trotzki weder zur Begrüßung noch zum Abschied die Hand, weil an ihr das Blut von Kronstadt und der Machno-Bewegung klebte, wie sie später schrieb. Mit Würde, Selbstbewusstsein und Selbstachtung übergab sie ihm das Gesuch, und wirklich: einige Wochen später kamen die beiden FreundInnen von Emma Goldman frei und alle trafen sich kurz darauf in Frankreich wieder!
Der Kampf wurde auch nach Mays Rückkehr in Paris blutig ausgetragen: bei einem Gewerkschaftstreffen Anfang 1924 schießen plötzlich die im Saal „Grange-aux-Belles“ anwesenden KommunistInnen auf die AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen. Auf deren Seite bleiben zwei Tote und mehrere Verletzte.
Eine andere Art von Résistance
In den zwanziger Jahren war May oft in Saint-Tropez an der südfranzösischen Küste, wohin sich Emma Goldman und Alexander Berkman mit einem kleinen Haus („Bon Esprit“ genannt) zurück gezogen hatten, um ihre Memoiren zu schreiben. May war ihre Sekretärin und hat die Manuskripte von Goldmans mehrbändiger Autobiographie Korrektur gelesen und getippt.
May bekam insgesamt drei Kinder, Sonia, Marie-May, Lucien – von drei verschiedenen Männern, die natürlich noch dazu alle recht schnell anderer Wege gingen. Vielleicht war es ihre Lebenserfahrung, die Kinder als allein erziehende Mutter und Aktivistin in schlimmen Zeiten über Wasser halten zu müssen, die sie für die Flüchtlingskinder aus der spanischen Revolution interessierte. Schon vorher hatte sie jahrelang in Paris Flüchtlinge aufgenommen und an AnarchistInnen mit Wohnraum weiter vermittelt, darunter auch den aus Russland geflohenen Nestor Machno. Louis Lecoin hatte während der spanischen Revolution die SIA (Secours International Anarchiste) für französische Spanienhilfe und zur Unterstützung von Flüchtlingen gegründet, doch May Picqueray konzentrierte sich bald auf das „Comité d’Aide aux Enfants Espagnols“. Die Kinder der RevolutionärInnen wurden oft im voraus nach Frankreich gesandt, während die Eltern noch kämpften und hofften. May baute mit dem Comité Kinderkolonien auf und half den flüchtenden Eltern, ihre Kinder nach ihrer Ankunft in Frankreich wieder zu finden. Als die Deutschen Paris besetzten und die ganze Stadt in heilloser Flucht (auch „der Exodus“ genannt) gen Süden flüchtete, wandte sich May in Toulouse der Hilfe für die politischen Gefangenen und die Exil-Lagerinsassen zu, wobei sie sich nicht scheute, als Anarchistin mit den QuäkerInnen zusammen zu arbeiten. Obwohl es nicht zu ihrem Aufgabengebiet gehörte, verschaffte sich May mit einem QuäkerInnen-Hilfsausweis Zugang zum schlimmsten Lager Vernet, eine Zugstunde von Toulouse, dem Lager der politischen Gefangenen und überredete den französischen Lagerdirektor, jede Woche eine Lastwagenladung Medikamente und Nahrung ins Lager bringen zu können, den die QuäkerInnen finanzierten. Ein ihr vertrauender Lageraufseher teilte ihr eines Tages mit, am nächsten Tag würde eine Gestapo-Razzia im Lager deutsche politische Flüchtlinge abholen. Noch in der Nacht verschwand May mit neun der bedrohten Flüchtlinge, sie musste nun allerdings selbst fliehen und konnte ihre Quäker-Arbeit nicht mehr fortsetzen. Nach kurzem Versteck in Andorra ging sie zurück nach Toulouse. Als sie erfuhr, dass der Anarchist Nicolas Lazarevitch in Vernet in kritischem Zustand war, gelang ihr noch ein Coup: sie ging mit ihrem Quäker-Ausweis direkt zu Pucheu, dem für die Lager Zuständigen in der faschistischen Vichy-Regierung. Er erkannte sie nicht als Flüchtige, lobte die neutrale Hilfsarbeit der Quäker und hörte sich ihre Bitte um Freilassung einer bestimmten Person an, und tatsächlich: Lazarevitch war der einzige politische Flüchtling, der das Lager von Vernet kurz darauf legal verlassen durfte.
May konnte im Süden nicht mehr arbeiten und ging nach Paris, wo sie mit libertären FreundInnen ein Fluchthilfenetz aufbaute und falsche Ausweise herstellte. Sie half mit den falschen Pässen, Juden und Jüdinnen, den Deportationen zu entkommen, und später französischen ArbeiterInnen dem Zwangsarbeitsdienst zu entgehen. Die Pässe fälschte sie mit Hilfe einer alten anarchistischen Freundin, die die deutsche Sprache konnte und im Zensurbüro der Nazis als Sekretärin angestellt war. Bei ihr ging May ein und aus und fälschte Pässe und Dokumente gleich vor Ort im Büro der Nazis selber. Bei all ihren Résistance-Aktionen blieb May Picqueray organisatorisch immer unabhängig und schloss sich keiner der großen Résistance-Organisationen Frankreichs an, wodurch sie zudem einigen Razzien entging. Außerdem verurteilte sie die Rache-Aktionen der Résistancegruppen nach der Befreiung – vor allem an Frauen, die kollaboriert hatten (oder von denen das oft nur vermutet wurde) – auf das Schärfste und hielt sie für barbarisch. Irre, was May Picqueray während der Besatzung alles machte. In ihren verschiedenen Aktionen allein scheint eine andere Art Résistance auf, die in ihrer Bedeutung bisher stark unterbewertet wurde. Auch Sonia, ihre Tochter, war in der Résistance tätig, sie allerdings als Verbindungsfrau verschiedener bewaffneter Gruppen auf dem Lande. (1)
Kriegsdienstverweigerung, Larzac, Malville
Auch nach dem Krieg blieb May Picqueray der anarchistischen Bewegung verbunden. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt war für sie die Kampagne von Louis Lecoin für die in Frankreich zum Teil bereits jahrelang inhaftierten Kriegsdienstverweigerer und für die Etablierung eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Als Lecoin 1957 die Kampagne und seine Zeitung Liberté (Freiheit) startete, beteiligte sich May bei einem jahrelangen Feldzug, der 1962 mit einem Hungerstreik des alten Lecoin und einem Kompromissgesetz endete, nach welchem Kriegsdienstverweigerer ein Jahr in der Forstwirtschaft, die zudem noch der Armee unterstand, als Ersatzdienst arbeiten konnten. Viele Kriegsdienstverweigerer zogen auch danach Haftstrafen von mehreren Monaten diesem Kompromiss vor. Doch Louis Lecoin, May Picqueray und ihre HelferInnen hatten das Militär heraus gefordert. Ihre Kampagne war besonders für die französischen Kriegsdienstverweigerer im Algerienkrieg und später für die antimilitaristischen Aktionen der Bauern und Bäuerinnen auf dem Larzac eine Ermutigung. 1971 starb Louis Lecoin, der politische Weggefährte May Picquerays für eine so lange Zeit: für sie war das eine große Tragödie. Die Zeitung „Liberté“ wurde zu Ehren von Lecoin und auf seinen Wunsch eingestellt, doch Picqueray redigierte von nun an bis kurz vor ihrem Tode eine Zeitung mit dem Titel Le Réfractaire (Der Dissident, der Aufsässige) in der Tradition des antimilitaristischen Anarchismus, den sie und Lecoin entwickelt hatten.
May Picqueray unterstützte auch die Larzac-Bewegung und die folgenden ökologischen Bewegungen der siebziger Jahre. Immer wieder nahm sie öffentlich Stellung, unter anderem auch gegen die Ausweisung des deutschen RAF-Mitglieds Klaus Croissant, obwohl sie gegen die Praktiken der RAF einige Einwände hatte. Noch im Alter fand sie sich von der Nach-68er-Bewegung ermutigt und bestätigt und erhoffte sich von den jugendlichen AktivistInnen die Erfüllung ihrer alten Ideale. Als letzte Massenaktion, an der sie teilnahm, schildert sie in ihrer Autobiographie die internationale Demonstration von 60.000 Menschen gegen die Atomzentrale in Malville am 30.1.1977. (2)
Als May Picqueray 1983 starb, verlor die anarchistische Bewegung in Frankreich eine Aktivistin, der es wie kaum jemand sonst gelang, die Brücke zwischen den alten revolutionären Bewegungen und den neuen sozialen Bewegungen am Ende des 20. Jahrhunderts zu schlagen.
(1) Nun ist dankenswerter Weise im Unrast Verlag ein Buch von Margaret Collins Weitz erschienen: Frauen in der Résistance, Münster 2002. Und was erfahren wir über die anarchistischen Widerstandsfrauen Sonia und May Picqueray in diesem Buch? Gar nichts, kein Wort.
(2) Ohne hier ins Detail gehen zu wollen, bin ich jedoch mit ihrer in der Autobiographie gegebenen Darstellung dieser Demonstration, die das Ende der französischen Anti-AKW-Bewegung markierte und deren Interpretation daher durchaus entscheidende Bedeutung für Frankreich wie für die BRD hatte, ganz und gar nicht einverstanden: die mit Knüppeln, Steinen und Mollis bewaffneten "Schutzgruppen", die im Vorfeld der Demonstration gebildet wurden, um angeblich die DemonstrantInnen zu schützen, werden von ihr als "zu vernachlässigen" im Vergleich zur ungeheuren Polizeigewalt der Sondereinsatzkräfte CRS beschrieben. Als die Polizei den ersten Demonstranten ermordet hatte, kritisiert Picqueray den Rückzug der nicht-bewaffneten DemonstrantInnen - der eingeleitet wurde, als die Nachricht vom Tod des Demonstranten bekannt wurde - in der damals typischen Manier, damit seien die verbleibenden militanten "Schutzgruppen" von den Gewaltfreien verraten und allein gelassen worden. Wer sollte denn nun wen schützen? Es ist richtig, dass die französische Polizei hier wohl ein Exempel statuieren wollte. Und es ist im Gegensatz zu Picquerays Interpretation wahrscheinlich, dass ohne den Rückzug wohl noch mehr Menschen durch die Polizeigewalt umgekommen wären. Im Streit zwischen Gewaltfreien und Militanten um die Folgen aus Malville brach damals die französische Anti-AKW-Bewegung zusammen.
Literatur
May Picqueray: May, la réfractaire. Pour mes 81 ans d'Anarchie, Atelier Marcel Jullian 1979.
May Picqueray, Lebensdaten, Ephéméride Anarchistes, http://perso.club-internet.fr/ytak/