anarchismus

Föderalismus und Autonomie in der anarchistischen Bewegung

| Marianne Enckell

Während verschiedener Interviews, die ein französischer Student mit alten spanischen AnarchistInnen sechzig Jahre nach der Revolution von 1936 machte, fiel ihm auf, wie oft sie die Werte „Solidarität“, „Föderalismus“ oder „Herrschaft“ benutzten. Nachdem er die spanische Bewegung von ihren Anfängen bis 1939 studiert hatte, glaubte er abschließend bemerken zu können, dass „die Solidarität nicht ein spezifischer Wert nur der anarchistischen Bewegung ist, auch nicht der Föderalismus oder die Abschaffung der Herrschaft. Das Spezifische am Anarchismus, das ist die Gleichzeitigkeit, die Interaktion dieser drei Werte.“ Erst diese Interaktion erlaube es, „bis ins Detail zu beschreiben, was es bedeutet, wenn sie von der Gleichwertigkeit von Zielen und Mitteln sprechen.“ (1) Die Struktur dieser drei Werte ist gut dazu geeignet, die libertäre Weltanschauung zusammen zu fassen, und als ich diese Zeilen las, stach mir eine Parallele ins Auge, die ich mit den drei klassischen Aspekten des proudhonistischen Denkens (2) in Verbindung bringe: Mutualismus (Gegenseitigkeit), Föderalismus, Anarchismus.

In ihrem Artikel in der französischsprachigen Theoriezeitschrift Réfractions hat Fawzia Tabgui (3) „eine Evolution der Ideen Proudhons“ festgestellt, „die ihn von einer anarchistischen Position der totalen Staatsablehnung zu einer föderalistischen geführt haben, bei der die Staatsautorität zu den notwendigen Bedingungen des Gesellschaftslebens zählt.“ Für Bernard Voyenne (4) „führt das richtige Verständnis des proudhonistischen Föderalismus zur Überbrückung der Kluft, die die Lehre von der Trennung des Politischen vom Sozialen, des Rechts von der Ökonomie, des Persönlichen vom Kollektiven, des Inneren vom Äußeren etabliert hat. Die Freiheit soll nicht dem Recht geopfert werden, die Spontaneität nicht der Organisation – das genau ist die Grundlage seiner Philosophie.“ Für Voyenne gibt es also keine zwei Proudhons, sondern aufeinander folgende Diskontinuitäten und Konvergenzen in der Entwicklung seines Denkens.

Voyenne weist auf die Neuartigkeit des Föderalismus Proudhons hin. Ich werde hier versuchen zu untersuchen, wie sich dieses Konzept in der anarchistischen Bewegung und beeinflusst durch ihre Erfahrungen weiter entwickelt hat. Man/frau kann wirklich sagen, dass der Föderalismus seit der Zeit der I. ArbeiterInnen-Internationale (1864-72) für den Anarchismus konstitutiv war und dass er durch die anarchistische Bewegung gestärkt wurde, besonders durch deren Kritik des Zentralismus und ihrer Befürwortung der Autonomie.

Die Organisation

Die drei wichtigsten Begriffe Bakunins stehen im Titel seiner Schrift Die revolutionäre Frage. Föderalismus, Sozialismus und Antitheologie. (5) In diesem Werk entwickelt er das Programm, das er auf dem Kongress der „Friedens- und Freiheitsliga“ 1867 präsentieren sollte und dessen Ablehnung den Autor schließlich in die Reihen der I. Internationale trieb. In diesem Programm schlug Bakunin den definitiven Bruch mit den alten Mächten vor und die Organisation der Gesellschaft von unten: „die freie Föderation der Individuen in den Gemeinden, der Gemeinden in den Regionen, der Regionen in den Nationen, schließlich dieser in den Vereinigten Staaten von Europa zuerst, und später der ganzen Welt.“ (6) An anderer Stelle formulierte er dieselbe Idee mit dem Begriff der „freien Assoziation freier Produzenten.“

Die große Leistung der AnarchistInnen und der AnarchosyndikalistInnen (anarchistische GewerkschafterInnen) war es, dieses soziale Organisationsprinzip bei den eigenen Organisationen des Proletariats umgesetzt zu haben. Die frühe Gewerkschaft CGT (Allgemeine ArbeiterInnen-Konföderation) in Frankreich, die FORA (Regionale ArbeiterInnen-Föderation Argentiniens) in Argentinien, die CNT (Nationale ArbeiterInnen-Konföderation) in Spanien wurden nach diesen Prinzipien des Föderalismus und der Autonomie gegründet: wenn eines der beiden fehlte, war das andere inhaltslos geworden.

„Der syndikalistische Organismus“, schrieb Emile Pouget im Jahre 1908 (7), „ist im wesentlichen föderalistisch. An der Basis steht die Gewerkschaftsgruppe, das Syndikat, das eine Ansammlung von Arbeitern ist; auf der zweiten Ebene gibt es die Föderation der Syndikate und die Branchengewerkschaft der Syndikate, beides Ansammlungen von Syndikaten; dann, auf der dritten und letzten Ebene schließlich gibt es die Allgemeine Arbeiter-Konföderation, die eine Ansammlung von Föderationen und Branchengewerkschaften der Syndikate ist. Auf jeder Ebene ist die Autonomie des Organismus verwirklicht: Die Föderationen und Branchengewerkschaften sind autonom innerhalb der Konföderation; die Syndikate sind autonom innerhalb der Föderation und der Branchengewerkschaft; und die einzelnen Syndikalisten sind autonom innerhalb der Syndikate.“

Die Federación Obrera Regional Argentina (FORA) hat in seinem föderativen Abkommen von 1904 nichts anderes ausgedrückt: „Die Arbeiter-Vereinigung ist frei und autonom im Rahmen der lokalen Föderation, frei und autonom im Rahmen der Bezirksföderation, frei und autonom im Rahmen der Regionalföderation.“ (8)

Die AktivistInnen der spanischen CNT drücken es lyrischer aus: „Die wahren Prinzipien leben in der föderalistischen Praxis. Das bedeutet die Autonomie in allen Bereichen: beim Individuum ist sie das konkrete soziale und biologische Prinzip; ebenso in der Gruppe, in der lokalen Föderation, in der Gemeinschaft. Sie ist das Prinzip der Freiheit, das auf Gegenseitigkeit basiert und in alle Richtungen kreist, nicht nur in eine einzige. Sie ist die Toleranz und der Geist des Altruismus…“ (9)

Schon in der I. Internationale hatte der Konflikt zwischen den AnhängerInnen von Marx und denen von Bakunin, zwischen „Zentralisten“ und „Föderalisten“ Auswirkungen auf die Gesellschaft (Emanzipation des Proletariats durch politische Machteroberung für die einen, durch die Abschaffung aller politischen Macht durch die anderen), aber auch auf die Organisation der Internationale selbst. Für die FöderalistInnen war der „Generalrat der I. Internationale“ kein diktatorisches Organ, sondern ein einfaches Koordinierungsgremium: „Die Autonomie und die Unabhängigkeit der Föderationen und Arbeitersektionen sind die erste Bedingung der Emanzipation der Arbeiter.“ (10)

Nach der Spaltung von 1872 wurde der Generalrat folgerichtig in ein föderales Büro umgewandelt, ein einfaches Kommunikationsbüro im Dienste der Sektionen und der Föderationen, und nicht mehr der Ort, wo die Politik der Organisation geschmiedet und entschieden wurde, wie noch zu Zeiten von Marx und dem Generalrat in London. (11) Was die Kritik einiger Zentralisten am Einfluss und der Rolle der Jura-Föderation anbetrifft, kann gesagt werden, dass letztere immer mit offenen Karten gespielt hat, während sie mit dem föderativen Büro der Internationale betraut war. Sie hat sich darauf beschränkt, als Briefkasten und Kassenstelle für die verschiedenen Sektionen zu fungieren.

„Hierauf gründet“, so schrieb Claude Parisse, wobei er sich auf eine weniger weit zurück liegende Zeit berief, „die Originalität und das Paradox des libertären Denkens: die Einigkeit der Anarchisten beruht darauf, gemeinsam die Autonomie jedes einzelnen anzuerkennen, sei es ein Individuum oder eine Gruppe. Und es geht dabei nicht zuerst um ihre ideologische Autonomie, sondern viel tief greifender und in gewisser Weise auch viel realistischer: die Autonomie, die sich aus ihrer sozialen Wirklichkeit ergibt, aus den besonderen Bedingungen des Ortes und den sozialen Handlungen, die sie konstituieren.“ (12)

Zentralismus und Föderalismus

Die dauerhaften Prinzipien haben sich in der Geschichte der anarchistischen und syndikalistisch-revolutionären Bewegung durch viele Debatten, Spannungen, Konfrontationen und glückliche oder weniger glückliche Erfahrungen hindurch bewährt. In bestimmten Perioden wurden sie auf eine Weise propagiert, in der das geschriebene Wort der Propaganda der Tat in nichts nachstand.

„Der Föderalismus ist eine Lebensweise“, erklärten die Schweizer SyndikalistInnen im Jahre 1910 stolz. (13) „Für uns, die wir an unsere Erfahrungen glauben, degradiert jede Zentralisation die Menschen, nimmt ihnen den Schwung, schränkt ihr Potential, ihre Initiative ein, und etabliert schließlich die Machtlosigkeit und Unterwürfigkeit der Massen. (…) Der Föderalismus sichert dagegen die Welt der Zukunft.

Es ist der Föderalismus – verstanden als „Vereinigung, freier Zusammenschluss; er kennt keine Unterordnung der Individuen oder der Gruppen -, der den Gegensatz zur Zentralisation bildet; und nicht die Dezentralisation.

Die Erfahrungen, auf die sich diese SyndikalistInnen bezogen, stammen ohne Zweifel von den französischen Arbeiterbörsen, diesen „Institutionen des Kampfes und der Regeneration, in denen Fernand Pelloutier sowohl ein Mittel der Gesellschaftsveränderung als auch eine Keimzelle der zukünftigen Ökonomie erblickte“, wie es Bernard Voyenne so schön ausgedrückt hat. (14) Mit ihren Büros der Arbeitsvermittlung und Arbeitsstatistik, ihrer Arbeitslosenhilfe und ihren Lebensversicherungen, ihren Debatten und Konferenzen waren sie ein Modell des praktischen Föderalismus, sowohl was ihren Geist als auch ihre tägliche Arbeit anbetraf: ein Modell, „das zugleich orts- und berufsbezogen ist, wo Jugendliche, Büroangestellte, Buchdrucker, Musikgesellschaften, die verschiedensten Vereine (Esperantisten, Antimilitaristen, Vegetarier usw.) sich treffen und ihre unterschiedlichen Ansätze diskutieren konnten, um das gemeinsame Projekt zu bereichern, das in großen Teilen der Arbeiterschaft verwurzelt war.“ (15) Gegenüber dem Staat und dem Lohnsystem haben die Arbeiterbörsen lange Zeit ihre Autonomie und ihre auf Gegenseitigkeit gründende Selbstverwaltung aufrecht erhalten können, bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Institutionalisierung des Syndikalismus nicht mehr den Prinzipien der ArbeiterInnen-Konföderationen entsprochen hat, sie ihres Sinnes entleert hat.

Innerhalb des dominanten Systems tauchen wiederholt Freiräume auf, Zonen des Widerstands und der Utopie, wo sich immer wieder ähnliche Sehnsüchte nach Autonomie, gegenseitiger Hilfe und des Föderalismus verwirklichen. Wir wissen gut, dass das keine „temporären autonomen Zonen“ oder „bolo bolos“ (16) sind, die die politische Macht durch ihre bloße Existenz abschaffen, aber wir könnten davon träumen, in ihnen eine zeitgenössische, moderne Form des Projekts der Arbeiterbörsen zu sehen. Die kulturellen, ökonomischen und politischen Austauschbeziehungen, die außerhalb der etablierten Kreise bei Hausbesetzungen, Tauschbörsen, Musikgruppen, über die Kommunikation im Internet oder bei den Demonstrantionen von Genua oder anderswo entstehen, zum Beispiel auch bei sich selbst verwaltenden Gewerkschaftsgruppen im französischen Sprachraum, dokumentieren den beredten Wunsch nach einer libertären Form des Föderalismus. Dieser soll autonom und solidarisch sein, und gegen die Zentralisation des Geldes und der Macht gerichtet, welche sich mit dem Namen der Globalisierung schmückt.

Die Gemeinden und der Staat

Zurück in die Geschichte. Als Alexis de Tocqueville 1832 aus Amerika zurück kehrte, berichtete er von der US-amerikanischen Demokratie und betonte dabei das Prinzip der „Souveränität des Volkes“ und das kommunale System, das daraus entstanden war. Er wies dabei auf die Widersprüche hin (17): „Unter allen Freiheiten“, so schrieb er, „ist die Gemeindefreiheit, die sich unter so schwierigen Bedingungen heraus gebildet hat, auch diejenige, die am stärksten der Intervention der Herrschenden ausgesetzt ist. Sich selbst überlassen können die kommunalen Institutionen kaum erfolgreich gegen eine schlaue und starke Regierung bestehen.“

Ca. vierzig Jahre später hat die kurze und leuchtende Geschichte der Pariser Kommune (1871) und kleinerer Kommunen in der Provinz die Hypothese von Tocqueville bestätigt, aber ebenso aufgezeigt, welches Potential der Revolte und des Aufstands in den Gemeinden liegt, welche emotionalen und visionären Kräfte in ihnen schlummern. Trotz des Scheiterns und der nachfolgenden Repression haben die zehn Wochen zwischen der Proklamation der Pariser Kommune am 18. März 1871 und dem Triumph des Reaktionärs Thiers am 26. Mai für immer die politische Kultur der Arbeiterbewegung geprägt, mehr als jedes Ereignis davor.

Wie die publizierten Schriften von Marx und Bakunin zeigen, standen die Beziehungen zwischen der Kommune, dem Staat und der Revolution sehr schnell im Mittelpunkt der Diskussionen. Auf dem Kongress der Jura-Föderation von 1878 lehnte Peter Kropotkin die Idee der politischen Beteiligung, von der andere Delegierte träumten, ab und schätzte die Gemeindeebene als ein besonderes Terrain für die Aktivität von RevolutionärInnen ein (18): „Die Staaten schreiten auf ihren Abgrund zu, um den freien und frei föderierten Gemeinden Platz zu machen. Es ist in der Gemeinde und bei den vielfältigen Fragen des kommunalen Interesses, wo wir das Feld für die theoretische Propaganda und die revolutionäre Verwirklichung unserer kollektivistischen und anarchistischen Ideen vorfinden.“

Erinnern wir uns, dass diese Diskussion in der Schweiz statt fand, und dass die Bemerkungen Tocquevilles die USA betrafen: das hat eine besondere Bedeutung, die während der aktuellen Diskussionen um Kommunalismus (oder Munizipalismus) in der anarchistischen Bewegung oft vergessen wird.

Tatsächlich haben die Gemeinden in föderierten Staatenbünden wie den Vereinigten Staaten oder der Schweizer Eidgenossenschaft einen von zentralistischen Staaten stark verschiedenen Status. Im Staat Bolivien gibt es heute 311 Gemeinden auf einem Gebiet von einer Million Quadratkilometer, weniger als im Schweizer Kanton Waadt, wo es 320 Gemeinden auf einem Gebiet von 3200 Quadratkilometern gibt. Und es ist nur ein Jahrzehnt her, seit die bolivianischen Gemeinden über einen eigenen Finanzhaushalt verfügen. In der Schweiz dagegen soll die Gemeinde eigentlich die Basiseinheit des föderativen Aufbaus bilden, aber ihre finanzielle, wirtschaftliche, politische und kulturelle Autonomie wird immer mehr zugunsten von Kontrollmöglichkeiten der übergeordneten Ebenen, der Kantone und der Konföderation, eingeschränkt, wodurch das Gemeinschaftsleben immer mehr erschwert wird. In Frankreich hängen die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinden zum großen Teil von den Zuteilungen ab, die sie vom Zentralstaat bekommen. (19) Der Staat selbst hat dort jetzt Gesetze erlassen, die die Dezentralisation verstärken sollen.

In den heutigen Diskussionen über Dezentralisierung, die oft nur ein anderes Wort für die Mitverwaltung des Staatsapparates oder der großen Konzerne ist, bedeuten die „Autonomie“-Statuten, die den Regionen von den Nationalstaaten zugestanden werden, oftmals das Ende der Solidarität unter einander und die Ausweitung der Trennungen. Die ProletarierInnen sehen sich nunmehr als „Flamen“ oder „Wallonen“, „Katalanen“ oder „Basken“, tappen leider in die Falle des Rassismus, die ihnen die PolitikerInnen legen. Das sind die jüngsten Ergebnisse aus Ländern, in denen „von oben“ eine angeblich föderalistische Struktur eingeführt wurde. Vor dem Referendum vom Oktober 2001, das einen begrenzten Föderalismus in die italienische Verfassung verankern sollte, hat die Federazione dei Communisti Anarchici (Föderation kommunistischer AnarchistInnen) den trügerischen Charakter solcher Maßnahmen offen gelegt: (20)

„Der vorgeschlagene Föderalismus ist unsolidarisch: er fußt auf der Delegation von Aufgaben an die lokalen Institutionen, um die lokalen Ressourcen abzuschöpfen, Ungleichheit zu subventionieren, eine bessere Herrschaft des Kapitals über die Arbeit zu etablieren und die Solidarität unter den Ausgebeuteten zu brechen. In einem libertären Gesellschaftsentwurf wäre der Föderalismus solidarisch und würde die Verteilung der Ressourcen zwischen reichen und armen Regionen ermöglichen. Das neue Verfassungprinzip der vertikalen Subsidiarität (Hilfe) unter den Institutionen stärkt nur die Struktur der Regierung. In ihrer libertären Bedeutung dagegen würde die Subsidiarität auf der institutionellen Ebene mit verschiedenen sozialen Ebenen kooperieren, vor allem mit den Versammlungen an der Basis und der Beteiligung aller an der politischen Verwaltung, mit auf Selbstverwaltung basierenden Strukturen und der Abneigung gegen gewählte Delegierte. Das neue Verfassungsprinzip der horizontalen Subsidiarität dient nur der Zerstörung der öffentlichen Dienstleistungen und der Schaffung neuer Profitmöglichkeiten für die Unternehmen. In ihrer libertären Version wäre sie ein Instrument der Selbstverwaltung und der Partizipation.“

Wenn sich eine Bevölkerung organisiert, um eine Krise abzuwehren, entstehen föderalistische Gremien auf spontane Weise. Die Viertelversammlungen in Argentinien, die Organisation der Dörfer in Chiapas haben erst vor kurzer Zeit die libertären Entscheidungsmodelle wieder belebt: die Entscheidungen werden von allen Gemeindemitgliedern getroffen, es gibt imperatives Mandat, rückrufbare Delegierte, interne Demokratie. Im Gegensatz zur Herrschaft des Staates und des Geldes, im Gegensatz zur politischen Macht, die davon träumt die Repräsentation zu okkupieren, nährt sich diese Macht von unten aus ihrem sozialen Projekt und aus ihrer horizontalen Kooperation, aus der Hoffnung und dem Mut, den die Menschen zeigen, wie auch immer ihre Erfolgschancen aussehen. Niemals kann eine von oben dekretierte Dezentralisierung eine solche Autonomie der Versammlungen, Gemeinden und Regionen verwirklichen.

Vereinigen wir unsere Energien!

Wie wir gesehen haben, umfasst der Begriff des Föderalismus sehr unterschiedliche Realitäten, selbst wenn man/frau ihm das Adjektiv „libertär“ hinzufügt. Ich wollte hier trotz einiger Umwege die positiven Werte, die die anarchistische Tradition mit ihm verbindet, wieder aufsuchen.

Der Grund ist nicht nur ein historischer oder theoretischer.

Seit einigen Jahren haben die AnarchistInnen in vielen Regionen der Welt wieder eine öffentliche Aufmerksamkeit bekommen, die sie zumindest in ihrer letzten Generation nicht mehr hatten. Das liegt nicht nur an der Anziehungskraft, die der Anarchismus angesichts des Betrugs des Bolschewismus oder des Betrugs der Globalisierung ausübt.

Je mehr sich die Organisationen und die Abkürzungsformeln von Gruppen vervielfachen, desto lauter werden auch die Vorschläge und Versuche zu ihrer Vereinigung, zur Zusammenarbeit, zur Neugruppierung der Libertären, sei es während der großen Versammlungen in den Städten, in denen sich gleichzeitig die selbst ernannten Mächtigen der Welt treffen, sei es während weniger lauter Treffen von einzelnen und Gruppen in Herbergen auf dem Lande, sei es inmitten der ungezählten Netzwerke der sogenannten Affinitätsgruppen (Bezugsgruppen).

Wie kann diese föderative Vereinigung aussehen, die sich so viele AnarchistInnen wünschen? Nach Claude Parisse (21) „besteht sie genau darin, die Vielfältigkeit und Autonomie der Kampfformen, der Gruppen und der individuellen Aktionen anzuerkennen und sie zum Leben zu erwecken; kurz in der Vielfalt des wirklichen Lebens im Gegensatz zur künstlichen Einheit der Parteien, des Staates, der Kirchen, der Sekten oder des Spektakels der Massenmedien.“ Als sich die anarchistische Bewegung französischer Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg selbst marginalisiert hat, „weit entfernt von jedem sozialen Einfluss, wurde ‚Affinität‘ nur noch ideologisch verstanden und ist der ‚Föderalismus‘ vom weit ausgreifenden sozialen Prozess, der er während des Syndikalismus und in den Anfangszeiten der libertären Bewegung war, zu einem ebenso heiligen wie obskuren Organisationsbegriff geworden – ein Objekt endloser Debatten, die sich nur darum drehten, die Beziehungen von etwas über zehn anarchistischen Gruppen, die man noch im Lande zählte, zu regeln: ein Föderalismus der Armseligkeit.“

Das kann man/frau heute eindeutig nicht mehr sagen. Wenn eine andere Welt möglich werden soll, braucht sie subversive, unverschämte, radikale, Aufsehen erregende Vorschläge, die von allen anarchistischen Gruppen vorgebracht werden können. Es sind solche Vorschläge, unsere Leidenschaft und unsere Energien, die wir föderieren müssen, wenn wir zum Hebel der sozialen Transformation und eine Keimzelle der wirtschaftlichen Zukunft werden wollen.

(1) François Candebat: Les notions de solidarité, de fédéralisme et de pouvoir à travers une lecture du mouvement anarchiste espagnol de ses origines à 1939. Magisterarbeit an der Universität Toulouse-Le Mirail 1997, S. 186.

(2) Der Antifeminismus des französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon (1809-65) ist der Autorin bekannt. Auf die Ideen Proudhons kann der Anarchismus jedoch nicht verzichten, nicht so sehr wegen der Person Proudhon selber, sondern wegen der massenhaften Genossenschaftsbewegung nach proudhonistischen Prinzipien, wovon die meisten Proudhons Antifeminismus ablehnten und an der Mitte des 19. Jahrhunderts rund 600000 Menschen beteiligt waren, übrigens davon rund 100000 Frauen; neuere Forschungen und aktuelle Literatur über die proudhonistische Bewegung gibt es im französischen Sprachraum nahezu unüberschaubar viele; d.Ü.

(3) Fawzia Tabgui: "De l'anarchisme au fédéralisme", Réfractions, Nr. 6, 2000, S. 49.

(4) Bernard Voyenne, "Le fédéralisme de Proudhon", Actualité de Proudhon, Brüssel 1967, S. 143.

(5) In deutscher Sprache vor kurzem wiederveröffentlicht: Michael Bakunin, Die revolutionäre Frage. Föderalismus - Sozialismus - Antitheologismus, aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Hrsg. von Wolfgang Eckhardt, Unrast, Münster 2000, Reihe Klassiker der Sozialrevolte, Bd. 6.

(6) zitiert nach Michael Bakunin, Œuvres complètes, Bd. I, Paris 1895, S. 55f.

(7) Émile Pouget, Le conféderation générale du travail, Paris, wieder veröffentlicht CNT 1997, S. 137.

(8) Diego Abad de Santillan, La FORA, ideología y trayectoria, Buenos Aires 1971, S. 118.

(9) José Peirats, La práctica federalista como verdadera afirmación de principios, Paris 1964.

(10) Resolution des Kongresses von Saint-Imier, September 1872.

(11) Zu dieser Geschichte vgl. die Kapitel über die I. Internationale bei: De l'histoire du mouvement ouvrier révolutionnaire, CNT & Nautilus, Paris 2001.

(12) Claude Parisse, Les anarchistes et l'organisation, ACL, Lyon 1989, S. 12.

(13) Eine syndikalistische Gruppe (um Jean Wintsch), Centralisme et fédéralisme, Lausanne 1910.

(14) B. Voyenne, Histoire de l'idee fédéraliste, III: Les lignées proudhoniennes, Presses d'Europe, Paris 1981, S. 111.

(15) Parisse, ebenda, S. 15.

(16) Vgl. Hakim Bey, Die Temporäre Autonome Zone, Edition ID-Archiv, Berlin/Amsterdam 1994; p.m., bolo 'bolo, Verlag Paranoia City, Zürich 1986.

(17) Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique (1835), wieder veröffentlicht bei Garnier Flammarion, Paris 1980, S. 123.

(18) L'Avant-Garde, La Chaux-de-Fonds, Nr. 32 bis 34, August-September 1878.

(19) Vgl. die Beispiele, die Paul Boino aufzählt, "Municipalisme et communalisme", in Le quartier, la commune, la ville, Le Monde libertaire, und Alternative libertaire, Paris und Brüssel 2001, S. 22f. Ebenfalls Amedeo Bertolo, "La mauvaise herbe subversive", Interrogations sur l'autogestion, ACL, Lyon 1986.

(20) FdCA, "Contro il falso federalismo", a-infos, 3. Oktober 2001, http://www.ainfos.ca/org

(21) Claude Parisse, a.a.O., S. 14, 17.

Anmerkungen

Die Autorin arbeitet im CIRA, Centre International des Recherches sur l'Anarchisme, Lausanne.

Übersetzung aus der französischsprachigen Theoriezeitschrift Réfractions, Nr. 8, Themenschwerpunkt "Fédéralismes et autonomies", Frühling/Sommer 2002, S. 19-25: Lou Marin