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Irisches Totenbuch

| Joseph Steinbeiß

Kevin Bean / Mark Hayes (Hrsg.), Republican Voices. Stimmen aus der irisch-republikanischen Bewegung. Mit einem Vorwort von Bernadette McAlliskey, Unrast Verlag Münster, 2002, 152 Seiten.

Mal Hand aufs Herz: wer hätte Lust, einmal mit einem echten Terroristen zu sprechen? Mit einem ganz richtig echten Terroristen. Nicht mit einem sechsjährigen Palästinenserjungen, der mühsam versucht, einen israelischen Panzer mit Steinen zu treffen; nicht mit einer terroristisch gewaltlosen Castorblockiererin, eingebacken in ebenso terroristischen Beton; und nicht mit einem Heinrich Breloer, Gerd Conradt oder sonstigen Verantwortlichen der gegenwärtigen RAF- Filmschwemme, die die neue Dimension des Terrors (vor allem für Nerven, Geschichtsbewußtsein und Geldbeutel) auf der Kinoleinwand spürbar macht. Über Terroristen wird ständig geredet…

Dabei ist kein Begriff so drastischen konjunkturellen Schwankungen ausgesetzt wie der des „Terrorismus“: staatlich verordnetem Entsetzen vor furchtbaren Mordtaten steht staatlich verordnetes Schweigen vor den Greueln des „Terrors der Ökonomie“ gegenüber. Mancher „Terrorist“ ist inzwischen zum geachteten Staatsmann oder zahlungskräftigen Bündnispartner geworden – selbst mit der Familie Osama Bin Ladens ließen sich bis vor kurzem in den USA ja noch blendend Geschäfte abwickeln -, dieweil sich manch blutgierig autokratischer Schlächter jahrelang im Wohlwollen westlicher Linker sonnen konnte, weil er den Kampf für „Freiheit“ und gegen „Kapital“ auf seine Banner gemalt hatte. Nein, nein, ganz so einfach, wie es sich heute anhört, ist das nicht mit dem „Terrorismus“. Wie sangen Macca B and the Robotics so schön: „Who are the terrorists? / Who are the heroes? / Come tell me!“. Da muß man doch miteinander reden! Also nochmal: wer möchte?

Republican Voices

Das im Oktober diesen Jahres beim Unrast Verlag erschienene Buch „Republican Voices. Stimmen aus der irisch-republikanischen Bewegung“ läßt jedem Freund des irischen Nordens, jedem politisch orientierten Historiker, Psycholinguisten oder sonstwie Interessierten die Hände feucht werden: es geht ans Quellenstudium. Kevin Bean und Mark Hayes, ersterer Historiker an der University of Liverpool, letzterer Dozent am Southhampton Institute, und beide seit langem mit dem „Nordirland-Konflikt“ beschäftigt, haben mit insgesamt sechs ehemaligen und gar nicht so ehemaligen Mitgliedern der Provisional IRA ausführliche Gespräche geführt. Ihre Gegenüber, Eamonn MacDermott, Brendan Hughes, Tommy McKearney, Mickey McMullen, Thomas Gorma und Anthony McIntyre, sind zwar zum Teil alte Bekannte, keiner von ihnen aber gehörte – oder gehört – zur Führungsriege von IRA oder Sinn Fein. Es spricht das Fußvolk, und es spricht klar, deutlich, schlicht, bitter, witzig, mitunter selbstironisch und verblüffend kritisch. Die von Bean und Hayes zwischen den Kapiteln eingefügten Glossen sind das (bei aller Kenntnis) Uninteressanteste des ganzen Buches. Und selbst das hervorragende „Nachwort zur deutschen Ausgabe“ vermag nichts gegen die im Stile eines guten Dokumentarfilms unkommentiert aneinandergereihten mündlichen Zeugnisse der vergangenen vierzig Jahre (nord)irischer Geschichte. Je nach Orientierung und Geschmack lassen sich beim Lesen eigene kleine Forschungen betreiben: wer sprachwissenschaftlich interessiert ist, wird mit Staunen die leidenschaftliche verbale Detailversessenheit bemerken, mit der alte Kempen der IRA etwa über interne politische Auseinandersetzungen berichten. Morde und Gewalttaten, ganz gleich, ob sie von der eigenen Seite oder von den britischen Besatzern verübt wurden, sind und bleiben dagegen „Aktionen“ oder „Operationen“ – Worthülsen, in denen das vergossene Blut verrinnt oder hinter denen ein nur mühsam kaschiertes mannhaftes Kriegerego die Muskeln schwellen läßt. Soziologisch Bewanderte dürfen sich wundern, mit welch vehementer Beharrlichkeit irische Republikaner, die Fahne an der Wand, jeglichen „Nationalismus“ von sich weisen. Und wer von der IRA als von einem Stoßtrupp zur Befreiung der unterdrückten Menschheit geträumt hat, wird von MacDermott, Hughes & Co. ebenso unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wie jene, die hartnäckig darauf bestehen, Terroristen als bedauerlichen Missgriff der Natur zu sehen; als blutsabbernde Zombies, die Worte wie „gesellschaftliche und politische Faktoren der Entstehung von Gewalt“ oder „Ursachen“ nicht einmal buchstabieren können.

„Keine Katholiken“

Denn Ursachen für Gewalt gab es in den frühen sechziger Jahren in Irlands Norden wahrhaftig genug. Man darf sich fragen, was in der Zeit der frühen Bürgerrechtsbewegung John Humes und der ständigen Überfälle protestantischer Schlägermilizen auf Häuser von Katholiken in Derry und Belfast eigentlich nicht Gewalt war: „Kulturell wurden Katholiken ausgegrenzt […] Es war verboten, die irische Flagge zu hissen, und sogar wenn Anwohner ein Fleadh (Festival) organisieren wollten, wurde es verboten, weil es den Straßenverkehr behindern könnte. Die Ornanier und Apprentice Boys konnten trotzdem marschieren, und den Verkehr bis zum Erbrechen lahmlegen“ (McKearney, S.34). Ständige Schikanen, Erniedrigungen bei der Arbeitssuche („Keine Katholiken!“) und allnächtlicher Terror führten zur Gründung erster Selbstschutzorganisationen, die katholische Straßenzüge vor den bierstinkenden Rowdies aus den protestantischen Viertel absichern sollten. Für die Generation der damals 15- bis 16jährigen war der auf den Straßen tobende Hass ohne Zweifel ein Widersinn: „[…] mein Freund Gerry McDonald war Protestant. Weißt Du, ich erinnere mich daran, eines Tages Gerrys Vater kennengelernt zu haben und zu realisieren, daß er ein ‚Peeler‘ [ein Polizist, Anm. JS] ist. Ich sagte zu meiner Mutter: ‚Wußtest Du, daß Gerrys Vater ein Peeler ist?‘. Sie antwortete: ‚Nein, er ist bei den B-Specials‘ [gefürchtete Spezialbrigade der nordirisch-protestantischen Polizei, Anm. JS]. Er war auch im ‚Orange Order‘, aber für mich waren sie eine anständige Familie“ (Mcintyre, S.26). Das in den folgenden Jahren immer wieder betonte Credo der Provisional IRA, nicht in einen separatistischen Krieg hineinschlittern zu wollen, war angesichts der Gründe ihres Entstehens kaum mehr als frommes Wunschdenken: „Es gibt eine alte Anekdote über einen Belfaster Republikaner: er steht einem Briten, einem ‚Orangeman‘ und einem Bullen gegenüber – er würde den ‚Orangeman‘ zuerst erschießen“ (MacDermott, S.51).

Ein richtiger Feind

Der Einmarsch britischer Truppen in Nordirland und das blutige Massaker des „Bloody Sunday“ wurden zur eigentlichen Geburtsstunde der Provisional IRA: „Ich erinnere mich, daß zu Hause und in der Community der Zorn […] spürbar war. Am deutlichsten erinnere ich mich aber daran, daß ein Freund, der auf mein früheres Gymnasium ging, mir später erzählte, daß ein Erdkundelehrer aus Protest eine Karte von Britannien in der Klasse angezündet hatte“ (McIntyre, S.38). Von nun an, so schien es, war alles in der kleinen politischen Welt des Nordens übersichtlich, einfach und geordnet: „Die Briten mittels bewaffneten Widerstands vertreiben, sie in den bewaffneten Kampf verwickeln und sie mitsamt ihren Panzern und Gewehren zurück über das Meer schicken: das war das republikanische Ziel. […] Wir mußten nur die Briten vom Rest der Insel vertreiben. Dann würden wir alle wieder eine große glückliche Familie sein“ (Hughes, S.47/49). Daß sich die überwältigende Mehrheit der nordirischen Protestanten mit größter Selbstverständlichkeit als Briten begriff, hätte den wild entschlossenen young volunteers schon Ende der sechziger Jahre zu denken geben können. Tat es aber nicht: „Als ich der IRA beitrat, war das Durchschnittsalter ungefähr 16. […] Um ehrlich zu sein, wir hatten nicht sehr viel Einfluß […] und waren eine Bande großspuriger kleiner Schwachköpfe“ (MacDermott, S.48/33). Katholische Jugendliche zogen nach Schulschluß los, um britische Soldaten zu töten, und dann pünktlich zum Abendessen zuhause zu sein, um keinen Ärger zu bekommen: ein blutigernstes Kinderspiel. Die britische Staatsgewalt antwortete mit Kriminalisierungen, Diplock-courts und H-Blocks, Folter und gezielten Mordaktionen gegen republikanische Kader. Auch innerhalb der republikanischen Bewegung ging es blutig zu: Mitglieder der in die Jahre gekommenen Official IRA (‚Officials‘) wollten den jungen Kadern der Provisionals ans Leben und umgekehrt. Der Teufelskreis schloß sich, und die in die Klandestinität gedrängten Provisionals wurden zu der IRA, wie man sie heute kennt: zu einer Untergrundarmee mit starrer Befehlsstruktur; zur „Speerspitze“ in einem ungefragten Stellvertreterkrieg; und zu einer Organisation mit nur geringer Begeisterung für Abweichler und Kritikaster in den eigenen Reihen: „Es gab eine Ja-sager-Mentalität unter denen, die mit Kritik an der IRA nicht umgehen konnten“ (McIntyre, S.67). Wer im Krieg ist, stellt nicht dumme Fragen.

„War is over. If you want it“

Wer den „Republican Voices“ lauscht, erlebt ein interessantes, anregendes und mitunter bewegendes Stück Zeitgeschichte.

Bean und Hayes ist es gelungen, die ganze Lebendigkeit des Gesagten, die durchaus kontroversen Ansichten ihrer Gesprächspartner und deren gelegentlich ruppigen Sprachduktus einzufangen und ungeschönt, ungebürstet, in all seiner Unmittelbarkeit wiederzugeben. Keiner der alten Volunteers schwatzt klug daher, und keiner nimmt sich von Schuld oder Kritik aus. Ebensowenig aber wird einer lauwarmen Distanzierung das Wort geredet, die sich in den neuen Zustand der Gesellschaft einzukuscheln versucht und die Gründe vergessen macht, die auf den Weg oder Irrweg der Gewalt geführt haben. „Republican Voices“ ist ein (zuzeiten unabsichtlich) erfreulich offener Blick in eine blutige Geschichte.

Es empfiehlt sich, zumindest ein Weniges über die „Troubles“ im Norden Irlands zu wissen, ehe man das Buch aufschlägt. Gleichzeitig aber leistet „Republican Voices“ auch unschätzbare Hilfe zum Verständnis der gegenwärtigen Situation; einem Verständnis jenseits soziologischer Fernanalysen oder politischer Großfanfaren, wie sie zur nun glücklich durchgeführten vierten Suspendierung der „autonomen“ Regierung von Stormont durch die britische Regierung in London geschmettert wurden. Das Ende des Krieges war für die Mitglieder der IRA keineswegs das Ende vom Lied – und die letzten Strophen klingen bitter: „Als ein Volunteer, der bereit war, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen und anderen das Leben zu nehmen, bestätigt mir das schäbige Debakel von Stormont, daß alles nicht einen einzigen Tropfen Blut […] wert war“ (McIntyre, S.107). „Als ich 1986, nach über 12 Jahren, aus dem Knast rauskam, bekam ich Arbeit auf einer Baustelle in der Falls Road. Einige der Leute, für die ich geglaubt hatte zu kämpfen, versuchten nun, mich auszubeuten“ (Hughes, S.125).