In der Graswurzelrevolution Nr. 274 berichteten wir über den türkischen Kriegsdienstverweigerer Mehmet Bal. Nachdem Mehmet vorläufig aus der Haft entlassen worden war (s. GWR 275, S. 2), erreichte uns nun, am 23. Januar ein Brief von Otkökü-Redakteur Ossi aus Izmir. (Red.)
Hallo,
Heute "besuchten" uns um 15.45 Uhr drei Beamte des JITEM (Nachrichtendienst der Gendarmerie). Nach einigen Fragen zu Eigentümer und Mietern der Wohnung wollten sie dass ich mich ausweise, woraufhin ich fragte ob sie von der Polizei sind. Sie antworteten nicht. Nach der Ausweiskontrolle wollten sie wissen (…) ob sonst jemand zu Hause ist. Da klar wurde, dass sie es nicht auf mich abgesehen hatten, ich mir auch nicht sicher war, ob die Männer nun von der Polizei oder der Krankenversicherung (…) oder sonst wo sind, und Mehmet von der Eingangstür aus gut sichtbar im Wohnzimmer saß, habe ich auf die Frage ob sonst jemand zu Hause ist leider wahrheitsgetreu geantwortet. Sie hätten ihn möglicherweise übersehen können.
Nachdem sie seinen Ausweis kontrolliert hatten, forderten sie ihn äußerst freundlich auf, sie zur (…) Menschenrechtsstiftung (drei Blöcke von der Wohnung entfernt) zu begleiten. Mehmet folgte. Auf meine erneute Frage, ob sie von der Polizei sind, meinte einer, er würde mich später aufklären!
Später sah ich an der Straßenecke einen offiziellen Kleinbus der Polizei und eine Diskussion zwischen den drei Männern und den Polizisten. Mehmet stand dabei. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Beamten von der JITEM sind, einem früher illegalen staatlichen Geheimdienst, dessen Existenz bis vor ein paar Jahren geleugnet wurde. JITEM ist (besonders im Südosten der Türkei) berühmt für Folter, Mord und Verwicklungen im Susurluk-Skandal.
Die Polizisten wollten Mehmet den JITEM-Beamten nicht abnehmen, weswegen er offiziell nicht arrestiert wurde und für mehrere Stunden trotz intensiver Suche durch die Anwaltskammer nicht auffindbar war.
Zuletzt stellte sich heraus, dass Mehmet im Yenisehir Rekrutierungsbüro ist. Vier Anwälte begaben sich nach Yenisehir, mussten aber zwei Stunden diskutieren, bis ihnen ihr legales Recht auf ein Gespräch mit Mehmet eingestanden wurde. Dies wurde erst durch Telefongespräche zwischen dem höchstrangigen Militärstaatsanwalt und dem Vorsitzenden der Anwaltskammer möglich. Sie durften ihn nur 10 Minuten sehen.
Mehmet geht es gut und er wird nicht schlecht behandelt. Er hat einen Bodycheck und eine Konsultation beim Militärarzt – ohne negative Konsequenzen – abgelehnt. Außerdem isst er "vorläufig" nicht. Dies sei kein Hungerstreik, sondern eine vorübergehende Haltung – bis die genauen Umstände geklärt seien.
Die Tatsache, dass Mehmet nicht auf "normalem" Weg arrestiert, sondern von der JITEM "ausgetrickst" wurde, deutet darauf hin, dass es sich nicht um eine reguläre Suche nach einem Deserteur handelt. Die eventuellen Auslöser sind sehr verschieden: Mehmet wurde seit seiner Entlassung kontinuierlich von der Presse interviewt, die Aktionen gegen den kommenden Krieg häufen sich rapide und in Istanbul wollen sich am Freitag 5 bis 7 neue KDVer erklären, …
Es erwartet uns erneut eine sehr intensive Zeit und weitere Inhaftierungen erscheinen momentan eher wahrscheinlich. Daher hoffen wir, wie schon oft in den letzten 10 Jahren, wieder auf Eure Unterstützung, Solidarität und Freundschaft.
Ich schreibe wieder, sobald ich mehr weiß.
Liebe Grüße,
Update (Stand 24.1.)
Mehmet wurde gestern abend um ca. 17 Uhr nach Mersin geschickt. Wir nehmen an, dass er gleich nach Adana weitergeleitet wird. Noch einmal Adressen und Fax-Nummern von Gefängnis und Militärgericht:
Adana 6. Kolordu Askeri Cezaevi (Gefaengnis)
Adana 6. Kolordu Askeri Mahkemesi (Gericht)
Tel.: + 90 - 322 - 322 83 67
Fax: + 90 - 322 - 322 81 36
Gestern war es den AnwältInnen nicht möglich, Mehmet zu sehen. Die Gendarmerie begründete dies damit, dass gegen Mehmet noch kein Verfahren läuft und er deshalb keinen Anwalt bräuchte! Es wird eine Anklage gegen die Verantwortlichen wegen unrechtmäßiger Festnahme und Verweigerung von Rechtsbeistand geben.