antimilitarismus

Prozess gegen Kriegsgegner wegen „Billigung von Mord“

Gerichtsposse: PISA-Katastrophe erreicht Juristerei

| Bernd Drücke

(GWR-Red.) Am 8. Januar 2003 stand ein Kriegsgegner vor Gericht. Die Anklage: "Billigung von Mord".

Telepolis, das „Magazin für Netzkultur“, hatte im Juni 2002 einen Artikel über ein Kriegsmassaker im afghanischen Mazar i Sharif veröffentlicht, das mutmaßlich von der Nordallianz an mehr als dreitausend Kriegsgefangenen begangen wurde – gebilligt durch Soldaten der USA und Großbritanniens.

Im Diskussionsforum zu diesem Artikel lobte ein Unbekannter mit dem Pseudonym „Engine_of_Aggression“ das Kriegsverbrechen wie folgt:

„Da trifft es mal die Richtigen!

Warum sollen Massaker immer nur an den Guten angerichtet werden und der Bodycount des Abschaums kommt unterm Strich besser weg!

Gratulation, dass es in der heutigen überkritischen Zeit noch Menschen gibt, die sich trauen das Böse mit der Wurzel auszureißen und vom Antlitz des Planeten restlos zu vertilgen“

Diese Verherrlichung von Massenmord an Kriegsgefangenen griff Holger Voss sarkastisch auf, um sie mit vertauschten Rollen (Taliban ersetzt durch USA, Mazar i Sharif ersetzt durch New York, 11.9.) ironisch überspitzt zu parodieren.

„So habe ich die Grausamkeit von ‚Engine_of_Aggression’s Text, sowie die Grausamkeit kriegerischen Denkens überhaupt vorgeführt. Mir wird nun vorgeworfen, ich habe ‚zumindest billigend in Kauf genommen, dass der ‚unbefangene‘ Leser‘ meine ‚Äußerungen als Billigung der Terroranschläge verstehen konnte'“, so der Antimilitarist in einer Presseerklärung.

Monatelang beschäftigte sein Internet-Beitrag Polizei, Staatsanwalt und Amtsgericht. In fünf Bundesländern wurde ermittelt. Schließlich erhielt er einen Strafbefehl des Amtsgerichts Münster über 1500 Euro, ersatzweise 50 Tage Haft. Das Verfahren gegen ihn erregte bundesweit Aufsehen und löste Verwunderung aus.

Sind Satire, Sarkasmus, Parodie, Ironie usw. von der Meinungsfreiheit ausgeschlossen?

Diese Frage stellten sich auch rund 80 ProzessbeobachterInnen, die aufgrund des kleinen Prozesssaales nur zum Teil das Geschehen verfolgen konnten. Denen, die stattdessen vor der Tür warten mussten, entging ein haarsträubendes Spektakel.

Staatsanwalt mit Leseschwäche

Der Prozess hatte realsatirischen Charakter. Den Anwesenden wurde vorgeführt, wie leicht es hierzulande ist einen Menschen vor Gericht zu zerren.

Die Staatsanwaltschaft war miserabel vorbereitet. Trotz der umfassenden Ermittlungen war sie nicht in der Lage, vor dem Prozess die von ihr inkriminierte Parodie im Kontext zu lesen. Die Bildungskatastrophe hat die Talarträger offenbar voll erwischt. Da hilft auch kein jahrelanges Aktenschnüffeln.

Während des Prozesses erbat sich der Staatsanwalt Lesezeit, was im Publikum Gelächter auslöste. Nachdem er die Texte von Harald Neuber (1), „Engine_of_Aggression“ (2) und Holger Voss (3) dann im Zusammenhang studiert hatte, bemerkte er, „dass dem Angeklagten wohl zuzustimmen“ sei. Er zog die Anklage zurück und plädierte auf Freispruch. Die Richterin schloss sich dem zähneknirschend an.

„Dass es überhaupt zum Prozess kam, ist ein Skandal!“, „Für so was werden Steuergelder verschwendet!“, „Schmerzensgeld fordern!“,… so die Kommentare aus dem Publikum. Angesichts der schon vor dem Prozess unübersehbaren Haltlosigkeit der gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe erntete das Gericht Hohn und Spott für das juristische Possenspiel.

Die Prozesserklärung des Angeklagten

„(…) Zweifellos ist es scharf zu verurteilen, wenn massenhaft unbeteiligte Menschen getötet werden, um bestimmte politische Ziele durchzusetzen. Da sehe ich als überzeugter Kriegsgegner keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem Angriffskrieg gegen Afghanistan, den die USA mit der afghanischen Nordallianz, mit Großbritannien, mit der BRD und anderen führt.

Aber über den anti-afghanischen Angriff darf kontrovers diskutiert werden, über den Anti-US-amerikanischen Angriff ist offenbar nur eine Meinung erlaubt.

Das Töten in Afghanistan darf nicht nur gebilligt werden, es darf sogar von hier mitgeplant und unterstützt werden. Das Töten in den USA hingegen darf hier noch nicht einmal Bestandteil einer möglicherweise missverständlichen (weil ironischen) Äußerung sein, die eine dritte Position bezieht: gegen Krieg und Terrorismus, weil beides im Grunde das Gleiche ist.

Es ist erschreckend, wie die Justiz hier mit zweierlei Maß misst.

Deutsche Soldaten und Soldatinnen kämpfen wieder weltweit in Kriegen, und ‚zu Hause‘ bröckelt die Meinungsfreiheit?

In den Ermittlungen gegen mich wurde auf illegale Datenbestände zugegriffen. Der Internet-Provider T-Online hat über Monate hinweg meine Internetverbindungsdaten aufbewahrt, ohne dass gegen mich ein richterlicher Überwachungsbeschluss vorgelegen hätte und ohne dass die Aufbewahrung der Daten für Abrechnungszwecke nötig gewesen wäre. Das präventive Speichern von Kommunikationsdaten ohne besonderen Anlass ist illegal, es ist unter Datenschutz-Gesichtspunkten ein Skandal. Wenn staatliche Organe solche illegal einbehaltenen Daten verwenden, ist das eher das Verhalten eines Überwachungsstaates, als das Verhalten eines freiheitlichen Systems.

Dass Verbindungsdaten, die ohne Tatverdacht vorsorglich aufbewahrt wurden, gerichtlich verwendet werden, um unerwünschte politische Äußerungen zu bestrafen, wäre gemeinhin wohl eher der StaSi (MfS, Ministerium für Staatssicherheit der DDR) zugetraut worden, als einem Gericht der Bundesrepublik. (…)“ (4)

1984? Das ist 19 Jahre her.

Staatliche Angriffe auf das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung haben in der Bundesrepublik eine lange Tradition. Erinnert sei z.B. an die Verfolgung von KommunistInnen in den 50er Jahren, die Terroristenhysterie in den 70ern, die „Mescalero-Affäre“ 1977 (vgl. Dokumente dazu im Internet unter: www.graswurzel.net (5)), die für Linke bis heute alltägliche Gesinnungsschnüffelei mit Hilfe von Staatsschutzparagraphen (111, 129a StGB usw.),…

Der aktuelle Fall zeigt: Für einen Angriff auf die Meinungsfreiheit reicht es offenbar aus, Sätze aus dem Zusammenhang zu reißen und sie dann als vermeintliche „Billigung von Mord“ hinzustellen. Eine Farce, die viel über den Zustand der deutschen Gerichte und die geringe Achtung vor dem Recht auf freie Meinungsäußerung hierzulande aussagt.

Heute ermöglichen die von Innenminister Schily nach dem 11. September 2001 verschärften Sicherheitsgesetze (vgl.: „Der Otto-Katalog„, GWR 264) eine nahezu perfekte Kontrolle. Auch das Internet dient als Überwachungsinstrument. „Internetprovider halten sich offenbar nicht an die Gesetze, die vorschreiben, dass alle nicht mehr benötigten Daten über den Teilnehmer zu löschen sind“, so die Berliner Tageszeitung junge welt in ihrem Prozessbericht vom 9. Januar. Obwohl es keinen Grund gab, irgendwelche Daten über Surfverhalten, IP-Nummern etc. aufzubewahren, konnte die Polizei noch nach Monaten bei T-Online alle entsprechenden Angaben über den Angeklagten erhalten.

Und deshalb bleibt bei aller Freude über den gewonnenen Prozess ein bitterer Beigeschmack.

Der Verlauf der Diskussion erschließt sich aus folgenden Texten:

(1) Neuber, Harald: "Das Massaker, das nicht sein darf" redaktionell veröffentlicht bei Telepolis 20.06.2002 (zwischen 00.00 und 01.12 Uhr)

www.heise.de/ tp/ deutsch/ inhalt/ co/ 12758/ 1.html

Der Autor schreibt über ein Massaker, das mutmaßlich die afghanische Nordallianz an Kriegsgefangenen verübt hat. Die Nordallianz soll bei diesem Massaker von Soldaten der US-amerikanischen und der britischen Armee unterstützt worden sein. Mehrere tausend Menschen fielen, soweit bekannt, dem Massaker zum Opfer.

(2) In Reaktion auf (1): Engine_of_Aggression: "Da trifft es mal die Richtigen !" offenes Diskussionsforum bei Telepolis 21.06.2002 04.52 Uhr

www.heise.de/ tp/ foren/ go.shtml ?read=1 &msg_id=1911553 &forum_id=30631

Der pseudonyme Autor gratuliert den Tätern zu dem von ihnen verübten Massaker.

(3) In Reaktion auf (2): Voss, Holger: "EoA zum 11.9.2001.: Gratulation! Das Böse wurde mit der Wurzel ausgerissen!" offenes Diskussionsforum bei Telepolis 21.06.2002 23.21 Uhr

www.heise.de/ tp/ foren/ go.shtml ?read=1 &msg_id=1916234 &forum_id=30631

Voss übernimmt verschiedene Formulierungen aus (2), vertauscht aber die Rollen von USA = Opfer und Taliban = Täter, um die menschenverachtende Brutalität von (2) vorzuführen. Obwohl der Text offensichtlich ironisch-überspitzt ist, weist er noch ausdrücklich darauf hin, dass er möglicherweise Sarkasmus enthält.

(4) Die ungekürzte Prozesserklärung, Links und anderes zum Thema im Internet: www.kein1984.de/prozess/

(5) Siehe dazu: "Buback - ein Nachruf", der Text, der die "Mescalero-Affäre" auslöste; und: "Feldzüge für ein sauberes Deutschland", ein Text gewaltfreier Aktionsgruppen