Dieses Jahr wäre sie 95 Jahre alt geworden: Simone-Ernestine-Lucie-Marie Bertrand de Beauvoir. Für die einen ist sie heute nicht mehr als die „Grande Sartreuse“, die „altjüngferliche Amüsierdame“ von Jean-Paul Sartre. Für die anderen ist sie DIE Oberemanze schlechthin, die Wegbereiterin des Feminismus der 60er Jahre und geistige Mutter von Alice Schwarzer. Für ihren Vater war sie „weder Körper noch Seele, sondern einzig Geist“, und für Sartre selbst war sie zeitlebens schlicht „der Biber“.
So sehr diese Titulierungen einander auch widersprechen: sie sind alle wahr, denn sie beschreiben alle einen jeweils anderen Aspekt von Simone. Denn sie war zweifellos eine schillernde Persönlichkeit, vielseitig und interessant und widersprüchlich, „eine der klügsten Frauen des Jahrhunderts“.
Aufgewachsen ist sie im Paris der Belle Epoque als „fille rangée“, als „höhere Tochter“. Ihr Vater Georges war Beamter und obendrein ein ziemlicher Lebefroh, und ihre Mutter Francoise war – was wohl? – Hausfrau. Die Beauvoirs waren nicht so reich, wie sie gern gewesen wären, aber da ihr Name einen gewissen Rang suggerierte, galt es, den Schein zu wahren. Simone und ihre kleine Schwester Poupette wurden so erzogen, wie es sich für Frauen in ihrer Schicht ziemt: sie besuchten die katholische Mädchenprivatschule Cours Désir, in der man nicht viel mehr lernte als Schönschreiben, Handarbeiten und Hübschsein. Was natürlich einer intelligenten Leseratte wie Simone nie genügte. Lesen war, seit sie es sich mit 4 Jahren beigebracht hatte, ihr Ein und Alles. Ihre Mutter versuchte anfangs noch, Simones Lektüre unter Kontrolle zu halten, indem sie die schmutzigen Stellen mit Haarnadeln zusammenpinnte. Ihr Vater begrüßte ihren Lesehunger zunächst; doch die Aussicht, eine „Intellektuelle“ zur Tochter zu haben, lehnte er zunehmend ab. So sehr er auch Literatur liebte, so konservativ war er doch in seinen Ansichten über die Rolle der Frau. Einer seiner Lieblingssprüche war: „Eine Frau ist, was ihr Mann aus ihr macht.“ Und über Simone meinte er: „Simone hat das Gehirn eines Mannes, Simone ist ein Mann.“ Aber behandelt wurde sie eben doch als Mädchen. Als ihr Vater sie als „laide“, als häßlich bezeichnete und mit der viel hübscheren Poupette ausging, vergrub sich Simone gekränkt hinter ihren Büchern. Wenn man es so sieht, war ihre Emanzipation eigentlich nur eine Trotzreaktion: wenn sie schon äußerlich nichts zu bieten hatte, dann wollte sie wenigstens geistig glänzen! Wenn sich die Männer schon nicht in sie verlieben würden, dann wollte sie wenigstens von ihnen akzeptiert und geschätzt werden, und zwar nicht als Eheweibchen, sondern als ebenbürtige Diskussionspartnerin! Mit dieser Attitüde, mit einem entschlossenen „Jetzt erst recht!“ schrieb sie sich 1927 an der Sorbonne ein und studierte mit Feuereifer.
1929 war ein entscheidendes Jahr für Simone: ihre beste Freundin Zaza starb, 21jährig, erwürgt von dem Höhere-Töchter-Korsett, in das sie gepreßt worden war; Simone lernte Jean-Paul Sartre kennen und schloß als jüngste und brillanteste Studentin in der Geschichte der Sorbonne ihre Ausbildung ab.
Simones „Traummann“ in ihren Backfischjahren war stets vor allem eins: intelligent. Das Aussehen war unwichtig. Sie würde, beschrieb sie Poupette, mit ihrem Mann in einem sonnendurchfluteten großen Zimmer sitzen, jeder an einem Schreibtisch, und stillvergnügt und in vollkommener Eintracht und Harmonie gemeinsam lesen und schreiben. Es scheint fast, als wäre diese Glücksvision eine Vorahnung ihres Lebens mit Sartre gewesen. Mit Sartre konnte sie jetzt alle ihre Vorstellungen verwirklichen, und das Leben, das sie mit ihm führte, mag zwar den jetzigen Feministinnen nicht sehr emanzipatorisch erscheinen, war aber für die damalige Zeit unglaublich revolutionär.
Ihr gemeinsamer „Pakt fürs Leben“ definierte sich nicht, wie die Ehe, durch sexuelle, sondern durch geistige Treue. Sartre hatte einen starken Frauenverbrauch, aber die sexuelle Befriedigung hatte für ihn nichts zu tun mit den Frauen, von denen er sie bekam; die einzige Frau, die er wirklich brauchte, war Simone, und zwar weniger als Beischläferin, sondern als Diskussionspartnerin, als Kritikerin, als geistige Stimulanz. Die Basis ihres Paktes war: Wahrheit und Ehrlichkeit. Jeder sagte dem anderen alles, nichts wurde verheimlicht. Simone war der Fels in der Brandung von Sartres Leben, gemeinsam gingen sie durch dick und dünn.
Was nun einige Feministinnen ansäuert, ist die Tatsache, daß sich Simone zeitlebens (oder besser: zeit Sartres Leben) als Sartres rechte Hand ansah, daß sie sich stets durch ihn definierte und nie sich selbst in den Vordergrund stellte. Ähnelt das nicht fatal dem Gebaren der spießigen Eheweibchen? Wo war da das Revolutionäre? Wie kann man sich so binden an jemanden, an den man durch keinerlei Vertrag gebunden ist?
Antwort: dadurch, daß man ihn wirklich liebt, d.h. ein wirkliches Zusammengehörigkeitsgefühl füreinander entwickelt! Es war auch nicht so, daß Simone (wie es ihre Biographin Deirdre Bair gern darstellt) nicht mehr war als Sartres Krankenschwester, Trösterin und Mutterersatz. Diese Aufgaben übernahm Simone natürlich auch, aber es würde wohl kaum ausreichen, sie als Grund für ein 57jähriges gemeinsames Leben anzusehen.
Sartre war zuallererst der große Philosoph und Schriftsteller.
Und Simone, die selbst erst in den 40er Jahren als Schriftstellerin Ruhm erlangte, war zuallererst die Kritikerin und Lektorin von Sartres Werken. Sie bekam sie als erste zu lesen, korrigierte sie und sprach sie mit ihm durch. Um dies tun zu können, brauchte sie wirklich eine gehörige Portion Intellekt. Auch dies wird gern unterschlagen; wer Simone nur als beschäftigte Person darstellt, d.h. alle ihre Aktivitäten aufzählt, verfehlt ihre Persönlichkeit.
In ihrem Roman Die Mandarins von Paris gibt es eine Stelle, in der Henri, ein erfolgreicher Journalist, seine frühere Liebe Paule, von der er sich entfremdet hat, fragt:
„Was wirst du heute unternehmen?“
„Oh! Ich habe immer irgend etwas zu tun!“ sagte sie munter.
„Mit anderen Worten: du tust nichts“, sagte Henri.
Genau das war es, was Simone an den Klischeefrauen um sie herum nicht ausstehen konnte: sie waren ständig beschäftigt, ohne etwas zu tun. Sie wirbelten mit Staubwedeln durch die Wohnung, sie häkelten, sie stickten, sie kochten, sie führten charmante Konversation, sie repräsentierten – aber sie TATEN nichts! Es bewegte sich nichts! Alles, was sie taten, war, Äußerlichkeiten zu verändern, bzw. neu zu gruppieren. Simone wollte auf keinen Fall beschäftigt sein, sie wollte etwas TUN, sie wollte Schriftstellerin sein und am geistigen Leben teilhaben. Denn nur hierin, im geistigen Leben, liegt die Keimzelle zur Veränderung! Alles andere ist Affirmation des Bestehenden.
Frauen redeten über Frisuren, Gatten und Desserts – Simone redete über Kant, Nietzsche und Descartes. Und das war das „Emanzipatorische“ an Simone de Beauvoir: sie sprengte ihr Korsett, indem sie für sich immer systematisch genau das Gegenteil davon tat, was „man“ als Frau tat. Sie heiratete nicht, sie bekam keine Kinder, sie war Sartre genausowenig sexuell treu wie er ihr, sie kümmerte sich nicht um Äußerlichkeiten wie Kleidung und Frisur (fast zeitlebens hatte sie zwei Zöpfe, die sie um den Kopf legte, mit einer Art Turban verhüllte und nur am Wochenende auftrennte und durchkämmte), und um keinen Haushalt führen zu müssen, besaß sie gar nicht erst einen – bis 1955 wohnte sie hauptsächlich in Hotelzimmern (übrigens wohnte sie auch nie mit Sartre zusammen, der erst in eigenen Hotelzimmern und dann in einer eigenen Wohnung logierte). Sie kochte selten bis nie selbst, sie ging allein auf lange Bergwandertouren, wenn ihre Freunde keine Lust oder keine Zeit zum Mitkommen hatten, sie trank und rauchte in enormen Mengen und schlug sich oft – besonders in den Kriegsjahren – die Nächte um die Ohren.
1947-51 hatte sie eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit dem amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren, der es aber auch nicht verstehen konnte, daß sie beim kleinsten Mucks, den Sartre in Paris von sich gab, sofort wieder zu ihm zurückrannte – entweder ganz oder gar nicht, polterte Algren, entweder er oder ich! Simone konterte dann, daß sie Algren zwar liebe – aber eben zu Sartre gehöre.
Auch als sie selbst als Schriftstellerin und Vertreterin des Existentialismus berühmt war, blieb Sartre nach wie vor die Nr. 1. Wenn er ein Manuskript beendet hatte, legte sie ihres beiseite und las erst seines. Als Sartre 1980 starb, war sie ein paar Jahre lang vor Schmerz und Valium und Alkohol wie betäubt, bis sie auf den Tag genau 6 Jahre nach ihm und an nahezu denselben Ursachen starb wie er.
Von ihren Büchern ist wohl Das andere Geschlecht (La deuxième sexe) das bekannteste, in dem sie sich „mit Sitte und Sexus der Frau“ auseinandersetzt.
Ihr Roman Die Mandarins von Paris wurde 1955 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, ein fabelhafter Roman, der sich wie alle ihre Werke um ihre unmittelbare Umgebung dreht: es geht um Frauen, es geht um Beziehungen und Partnerschaften, und es spielt sich ab in Paris après la guerre in der Intellektuellen-Existentialisten-Clique.
Ihre restlichen Romane sind alle sehr autobiographisch. „Mein Leben – dieses seltsame Phänomen“, das war es, was sie am besten kannte und das ihr immer wieder Inspirationen lieferte.
Deshalb ist ihre vierteilige Autobiographie, besonders der erste Band Memoiren einer Tochter aus gutem Hause (Mémoires d’une jeune fille rangée) sehr zu empfehlen. Simone beschreibt darin die Jahre bis 1929 mit einer unglaublichen Ehrlichkeit und minutiösen Genauigkeit; die Hochs und Tiefs, die Gedanken und Gefühle und Wünsche – ich hatte während der gesamten Lektüre das Gefühl, sie schriebe über mich, so zeitlos und eindringlich ist das Buch.
Die kürzlich erschienene Biographie von Deirdre Bair (Goldmann Verlag) empfehle ich hingegen weniger, da Bair Simone nur oberflächlich beschreibt, ihre Aktivitäten und Engagements und Reisen und Romane und Beziehungen und Krimskrams herunterbetet und ihren brillanten Intellekt dabei völlig ignoriert und außer acht läßt. Simone erscheint bei Bair eher als „Karrierefrau“, als „Emanze in action“ – und damit wird sie, was die medien- und konsumkapitalismusorientierten Assoziationen einer solchen Darstellung betreffen (die ja ihrer revolutionären und philosophischen Rebellion und Emanzipation komplett zuwiderlaufen), ganz klar völlig falsch interpretiert.