"Gestern haben wir Geschichte gemacht, egal was als nächstes passiert. Gestern war der Tag Eins einer 'Globalisierung von den Graswurzeln empor' - eine weltweite Friedensdemonstration, die erste der Weltgeschichte. Was die Chemiekatastrophe von Bhopal, die Wasserstoffbombe, die Exxon-Ölpest und die weltweite Schuldenkrise ermöglicht hat, ermöglicht auch eine weltweite Gemeinschaft. Was wir vorziehen, liegt an uns." (Rabbi Arthur Waskow, Direktor des Shalom Center, New York, 16. Februar 2003)
Auf dem Europäischen Sozialforum (ESF) im November 2002 in Florenz (1) wurde der 15. Februar 2003 zum internationalen Aktionstag gegen den drohenden Golfkrieg erklärt. Aber wer hätte im November gedacht, dass der 15. Februar der Tag der größten weltweiten Anti-Kriegsaktionen werden sollte? Nach vorsichtigen Schätzungen demonstrierten zehn bis fünfzehn Millionen Menschen in mehr als 600 Städten. In Berlin protestierten über 500.000 Menschen. „Die größte Demo aller Zeiten“, so eine Boulevardzeitung am 16. Februar. Gleichzeitig gab es in fast allen Großstädten und in vielen kleinen Orten Kundgebungen und Aktionen. In Stuttgart beteiligten sich ca. 50.000 DemonstrantInnen.
Unter dem Slogan „No a la guerra!“ (Nein zum Krieg!) demonstrierten in Spanien in mehr als 50 Städten vier Millionen Menschen – rund 10% der Bevölkerung – auch gegen die Pro-Kriegspolitik des rechten Regierungschefs Aznar. Auch in Italien (Rom: 2,5 Millionen) und Großbritannien (London: 2 Millionen) waren es die größten Friedensdemos in der Geschichte dieser Länder. Die Menschen protestierten gegen die Kriegspolitik und gegen die Regierungen des rechten Medienmoguls Silvio Berlusconi und des Sozialdemokraten Tony Blair. In über 150 Städten der USA gingen am 15. Februar trotz teilweise ausgesprochener Demonstrationsverbote mehr als eine Million Menschen gegen die Kriegspolitik der Bush-Regierung auf die Straße. In Tel Aviv versammelten sich 2.000 KriegsgegnerInnen, um gegen die Politik der rechtsgerichteten Sharon-Regierung und für eine friedliche Lösung der Konflikte im Nahen Osten zu demonstrieren. In Moskau demonstrierten einige Hundert AktivistInnen vor allem aus der libertären Szene sowohl gegen den russischen Kolonialkrieg in Tschetschenien als auch gegen die geplante Invasion in den Irak. In Paris gingen 800.000, in Amsterdam 80.000, in Brüssel 100.000 und in Athen 200.000 Menschen auf die Straße. In australischen Städten wie Brisbane (150.000) und Sydney (250.000) protestierten die Menschen gegen die eigene Regierung, die bereits 3.000 Soldaten zur Unterstützung der US-Truppen in die Golfregion entsendet hat. „Vom südafrikanischen Kapstadt bis zum norwegischen Bergen, von Honolulu über Kairo und Kiew bis Tokio gehen Menschen auf die Strassen, Schneepfade und Feldwege, um den drohenden Krieg gegen den Irak zu verhindern – sogar eine Station auf der Antarktis machte mit. Eine der Stärken der Friedensbewegung ist ihre Breite: Von antikapitalistischen Gruppen/Netzwerken bis hin zu staatstragenden Organisationen reicht das Spektrum“ (2), so das basisdemokratische Internetprojekt indymedia. Die globale Massenbewegung gegen den Krieg weckt Hoffnungen auf eine friedliche Lösung: „Stoppt den Krieg bevor er beginnt!“ Am 17. Februar erinnerte die einflussreiche New York Times die US-Regierung daran, dass es auf der Erde offenbar „zwei Supermächte gibt: die USA und die Weltöffentlichkeit.“ Bisher deutet aber nichts darauf hin, dass die US-Regierung sich von ihren „Präventivkriegs“-Plänen abbringen lässt. Am 20. Februar übten bereits 182.000 US-SoldatInnen in der Golfregion den Krieg, und täglich kommen neue Truppen hinzu. „Die USA würden die von Bush und den anderen Falken angedrohte gewaltsame ‚Abrüstung‘ des Irak auch allein schaffen, sie wissen aber, dass sie mit ihrer Aggression das Völkerrecht, die UN-Charta und die Menschenrechte verletzen. Also wird das ’neue Europa‘ mit ins Boot geholt, so sind es viele Regierungen, die sich des Rechtsbruchs schuldig machen und – wie geflissentliche Advokaten kund tun – auf diese infame Weise ’neues Völkerrecht‘ schöpfen. Der Rechtsbruch im Kollektiv verschafft Erleichterung, Legitimation – und Belohnung. (…) Der Griff nach dem schwarzen Gold des Irak führt in eine schwarze Zukunft“ (3), so der Sozialwissenschaftler Elmar Altvater.
„The game is over“, so verkündete am 6. Februar George W. Bush, der um jeden Preis den „unvollendeten“ Krieg seines Vaters „gewinnen“ will. Diese menschenverachtende Haltung, für die Krieg – das massenhafte Abschlachten von Menschen – ein Spiel ist, diese Arroganz der Macht, das Streben nach Welthegemonie und Unilateralismus, ist es, was Millionen Menschen zu Recht Angst macht. Menschen, die die Welt sonst eher aus der Perspektive des Fernsehsessels betrachten, erheben sich und demonstrieren massenhaft gegen den angekündigten Krieg.
Bietet diese „Negativkoalition zur Abwehr des Krieges“ (4) auch Chancen für emanzipatorische soziale Bewegungen von unten? Antimilitaristische Positionen, die unter rot-grün marginalisiert wurden, erhalten nun möglicherweise eine breitere Basis. Eine Chance auch für basisdemokratisch organisierte, antimilitaristische Medien der Gegenöffentlichkeit. So musste z.B. die im Februar u.a. als Beilage der mittlerweile vergriffenen GWR 276 herausgegebene NO WAR-Aktionszeitung der graswurzelrevolution innerhalb von zwei Wochen zweimal nachgedruckt werden. In wenigen Tagen wurden bundesweit 55.000 Exemplare verteilt. Für das kleine Graswurzelprojekt eine beachtliche Zahl. Neben bösen E-Mails von Soldaten, die sich über antimilitaristische und libertäre Texte auf der GWR-Homepage www.graswurzel.net empören, wird die GWR-Redaktion nun überhäuft mit KDV-Anfragen von jungen Wehrpflichtigen. Einige von ihnen haben wohl zuvor die auch vor Kasernen und in „Soldatenkneipen“ verteilte NO WAR-Zeitung bzw. den darin enthaltenen „Jetzt desertieren!“-Aufruf an alle SoldatInnen in die Hände bekommen. Die im Jahr 2002 auf 189.644 gestiegenen und nun weiter steigenden Verweigererzahlen (5) sind erfreulich und zeigen: Soldaten sind potentielle Deserteure!
Die wachsende Friedensbewegung eröffnet Möglichkeiten, libertäre Inhalte und gewaltfreie Konzepte vielen Menschen zu vermitteln. Die Hintergründe der Politik von militärisch mächtigen Staaten und ihrer Militärbündnisse müssen thematisiert und von unten analysiert werden. Menschen können sich politisieren, sich aufklären über Macht- und Herrschaftsverhältnisse. So kann eine Basis für gemeinsamen Widerstand gegen die herrschenden Zustände entstehen. Direkte gewaltfreie Aktionen können zur Radikalisierung der Bewegung beitragen.
Bei aller Freude über das Anwachsen einer Bewegung sind aber auch die Schattenseiten nicht zu übersehen. Inhalte werden zugunsten einer möglichst breiten Mobilisierung zurückgedrängt.
Gruselig
Die „Breite“ der Bewegung erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl. Dabei besteht die Gefahr, dass Unterschiede verkleistert und Ärgernisse übersehen werden. Beispiele: Die mitdemonstrierenden MLPD-Kader sind nicht antimilitaristisch, sondern autoritär-stalinistisch.
Übel sind Gleichsetzungen á la „Bush = Hitler“, durch die nationalsozialistische Verbrechen relativiert werden. Auf einigen Transparenten und Plakaten wurde die Politik der US-Regierung mit dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg analogisiert und die Bombardierung Deutschlands durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg mit einem möglichen Angriff auf den Irak in eine Reihe gestellt. Antisemitische Tendenzen zeigten sich in jüngster Vergangenheit bei einigen DemoteilnehmerInnen. Erinnert sei hier an einen Mann, der im November während der ESF-Demo in Florenz auf einem Schild Davidstern und Hakenkreuz gleichsetzte. „Nur ätzende Randerscheinungen“? Aber es gibt sie und wir müssen diese antisemitischen Tendenzen bekämpfen. So ärgerlich die US-Flaggenfetischisten aus dem Bush-Kriegs-Lager von Bahamas, Jungle World, Konkret und Bildzeitung sind, so furchtbar sind Hamas-, deutsche, irakische, palästinensische und andere Nationalfahnenschwinger auf Friedensdemos. Nationalismus und Militarismus: zwei Seiten einer Medaille!
Petra Kohse beschreibt die Berliner Demo in der Frankfurter Rundschau vom 17. Februar:
„Vom Alexanderplatz sind mehr ältere und mehr jüngere Leute gestartet, einige Punks und Autonome, vor allem aber solche, die nicht zuzuordnen sind. Sie tragen Parkas oder Wolljacken, haben Strickmützen oder Ohrenschützer mit Ampelmännchen auf dem Kopf und halten Anarchoschilder, aufblasbare Stars- und Stripes-Knüppel oder Fotoapparate in die Höhe. Gut Gelaunte zumeist, die über die stumm angebotenen marxistisch-leninistischen Flugblätter witzeln (…) Wohl kommt Euphorie auf, als Konstantin Wecker das Wort und die Tasten ergreift, was nicht nur an seiner souveränen Kundgebungsrhetorik liegt, sondern auch an seiner privaten Reise in den Irak, die ihn als couragierten Einzelnen glaubwürdig macht. Trotzdem bleibt das Ich-Gefühl plural und urteilsfähig auf dieser größten Berliner Friedensdemonstration seit Jahrzehnten. Jeder tritt höflich zur Seite, wenn andere durchwollen, bei Wurst-Maxe am Großen Stern siezen sich unter den aufgereiht Wartenden selbst die Jüngeren, und als Reinhard Mey zu singen begann und ein Siebenjähriger seinen Vater fragt: ‚Findest du den gut?‘, antwortet an dessen statt die etwa 60-jährige Oma: ‚Also wegen mir musst du nicht klatschen. Ich konnte den noch nie ausstehen.'“
„Es war eine Demo für die Regierung“, so die regierungsnahe taz am 18. Februar. Ein dreister Vereinnahmungsversuch, eine Beleidigung der vielen regierungskritischen DemonstrantInnen, auch wenn zahlreiche AnhängerInnen von Rot-Grün an der Demo teilgenommen haben. Leute, die zuvor zu den NATO-Angriffskriegen gegen Jugoslawien 1999 und Afghanistan 2001 ff. geschwiegen oder diese unterstützt haben, zeigten Parolen wie „Joschka, halte durch“, „Old Europe. Bündnis 90/Die Grünen“, „Schrödi, sei standhaft!“ und „Danke, Gerd“.
Jürgen Trittin, Angelika Beer, Renate Künast, Claudia Roth, Wolfgang Thierse, Heidemarie Wieczorek-Zeul und andere Regierungsmitglieder reihten sich in die Anti-Kriegs-Demo ein, als hätten deutsche Tornados nicht Belgrad bombardiert, als hätte es die von Rot-Grün mit zu verantwortenden Kriege in Jugoslawien und Afghanistan nie gegeben. Heuchler! In dieses Gruselkabinett passt dann auch Friedrich Schorlemmer, ein Redner auf der Berliner Demo. Seine „Berg- und Talpredigt“ war eine Anbiederung an die rot-grüne Regierung. Staatsfixierte „Kriegsgegner“ wie Schorlemmer sind gegen diesen Krieg, weil ihre Regierung diesmal dagegen ist. Dass die rot-grüne Regierung nun zwar verbal gegen den Irak-Krieg, aber gleichzeitig an den Invasionsvorbereitungen beteiligt ist und laut EU-Erklärung vom 18. Februar 2003 einen Krieg gegen den Irak als „letztes Mittel“ nicht mehr ausschließt, das ist bei solchen Mitläufern kein Thema. „Danke, Gerd“, für jede Arbeitsstelle in der deutschen Rüstungsindustrie, für die Militarisierung der Außen- und Innenpolitik, für die zahllosen Toten im Jugoslawien- und Afghanistankrieg, für die Erhöhung der Rüstungsexporte, für AWACS-Flugzeuge, ABC-Spürpanzer, eine führende Rolle der Bundeswehr im Terror-„Krieg gegen den Terror“…
Was nun?
In den vergangenen Wochen gab es Demos und Sitzblockaden z.B. in Geilenkirchen, wo die AWACS-Einheiten stationiert sind, an US-Militärstützpunkten in Frankfurt (Rhein/Main-Airbase) und Stuttgart (EUCOM). Protest- und direkte, gewaltfreie Widerstandsaktionen bieten sich an – z.B. unter dem Motto „Ami stay here/Ami bleib hier“ – in Ramstein, Heidelberg, Kaiserslautern, Würzburg, Grafenwöhr, Böblingen, Mannheim und an anderen Stützpunkten, wo US-SoldatInnen stationiert sind.
Bei den Aktionen sollten wir die deutsche Rolle als kriegsführende Militärmacht aufzeigen.
Wichtig sind Aktionen z.B. gegen die AWACS-Basis in Geilenkirchen (6) sowie die bundesweite Demo gegen das Deutsch/Niederländische Korps am 15. März in Münster, das im Februar die Führung im Afghanistankrieg übernommen hat (7). Beteiligt Euch an der resist-Kampagne (8)! Ziel dieser Kampagne ist es, Aktionen Zivilen Ungehorsams im Vorfeld sowie während eines möglichen Irak-Krieges zu organisieren, z.B. auch am 8. März am EUCOM. Die Proteste sollen am zweiten Samstag nach Kriegsbeginn in großen gewaltfreien Sitzblockaden an der Rhein/Main-Airbase bei Frankfurt/M. gipfeln. Mit Selbstverpflichtungserklärungen (9) von vielen, die schon jetzt ankündigen, sich an den Aktionen zu beteiligen, will resist den Druck auf die Bundesregierung und die Bush-Administration erhöhen. Mehr als 5.000 Menschen haben bereits unterzeichnet.
Blockaden sind auch zielgerecht an den deutschen Häfen, wo SoldatInnen und Kriegsmaterial verschifft werden. In Mannheim werden jede Woche Militärfahrzeuge auf Schiffe verladen. Die Bahn bringt Militärgerät quer durch Deutschland nach Belgien und in die Niederlande. Am 16. Februar hielten angekettete Aktivisten gewaltfrei drei Stunden einen Militärzug auf und protestierten damit gegen die Kriegsbeteiligung von Belgien.
Aktionserfahrung gibt es nicht erst seit Pershing II und Castor. Auf www.no-war-logo.org werden Berichte von guten Aktionen veröffentlicht, auch um Ideen weiterzugeben. Angedacht wird ein Netzwerk zur Militärtransportbeobachtung, um Aktionen zu ermöglichen. Ein Süd-Graswurzelrevolutionär schlägt vor, die Ölkonzerne direkt anzugehen und damit auch den Konsum in der Industriegesellschaft zu hinterfragen: „Z.B. Tankwagen an den Ölverteilstationen blockieren, wie das Shell-Lager in Ludwigshafen, wo alle fünf Minuten ein Tankwagen rein und raus fährt.“
Demonstriert! Desertiert! Blockiert! Streut Sand in den Motor der Kriegsmaschine!
(2) Berichte über Antikriegsaktionen weltweit: www.de.indymedia.org
(3) Die Währung des Schwarzen Goldes, Freitag Nr. 8, 14.2.2003, S. 3
(4) Dieter Rucht, taz, 18.2.2003, S. 3
(5) Siehe dazu den Artikel in dieser GWR, S. 5
(6) Zweckmäßig ist es z.B. in Geilenkirchen die NO WAR-Aktionszeitung bzw. den darin enthaltenen Desertionsaufruf an Soldaten zu verteilen.
(7) Siehe Aufruf Seite 20
(9) Siehe Beilage in GWR 274