Brigitte Kiechle: Irak. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Mit dem Maßstab der Freiheit. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2003, 192 S., 12,80 €.
Ein Buch zur rechten Zeit. Die Rechtsanwältin Brigitte Kiechle aus Karlsruhe unterstützt seit Jahren feministische, laizistische und kommunistische Oppositionelle im Irak. Sie engagierte sich sowohl gegen das Hussein-Regime wie gegen den Golfkrieg 1991 und die jetzige US-Militärintervention. Anfang des Jahres erschien ihr überblickartiges Irak-Buch, das aktuell ist, weil sie die Perspektiven der irakischen Opposition in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellt.
Der arabische Nationalismus
In den ersten, historisch ausgelegten Kapiteln beschreibt die Autorin die willkürlichen Grenzziehungen des Kolonialismus bis zur Staatsgründung des Irak als konstitutionelle Monarchie 1932, die Aufteilung Kurdistans auf vier Länder sowie die ideologische Entwicklung der arabischen Nationalbewegung. Den Aufstieg des Nasserismus in Ägypten und der beiden Baath-Parteien in Syrien und dem Irak beschreibt sie als Machteroberung neuer bürgerlich-nationalistischer Eliten im Verbund mit zum Teil traditionellen Clan-Strukturen, die nicht angetastet wurden. „Die konkrete Praxis des ‚arabischen Sozialismus‘ ging letztlich über halbherzig durchgeführte Landreformen, die Verstaatlichung wichtiger Schlüsselindustrien und die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln nicht hinaus.“ (S. 27) Eine Art Doppel-Nationalismus etablierte sich: die populäre antikoloniale Parole vom Panarabismus verdeckte dabei die jeweilige Herrschaftssicherung in den eigenständigen Nationalstaaten.
Die Baath-Partei wurde durch den Syrer Michel Aflaq 1944 gegründet. Er kritisierte am Marxismus dessen Atheismus sowie den Klassenkampf. 1961 spaltete sich die Partei in einen syrischen und irakischen Teil, im Irak putschte sich die Baath-Partei zuerst 1963 für wenige Monate an die Macht, durch den Putsch 1968 dann dauerhaft.
Weil durch ihre Politik weder strukturelle Veränderungen noch die politische Beteiligung breiter Schichten der Bevölkerung intendiert waren, und weil sich das Regime im Zuge der Machtübernahme durch Saddam Hussein 1979 zum Einparteienstaat wandelte, verblasste in den siebziger Jahren die Anziehungskraft ihrer Ideologie. Die Enttäuschung kam im arabischen Raum ganz allgemein dem islamischen Fundamentalismus zugute: der arabische Nationalismus wurde durch die Islamisten als Rückbesinnung auf die islamische Identität neu besetzt.
Der Masochismus der IKP
Die 1934 gegründete „Irakische Kommunistische Partei“ (IKP) hatte in den 50er, 60er und 70er Jahren unter den Arbeitenden der Ölindustrie und bei der Eisenbahn sowie aufgrund ihres Zugeständnisses eines Selbstbestimmungsrechtes für die irakischen KurdInnen eine Massenbasis. Auf ihre Positionen und Traditionen bezieht sich die Autorin immer wieder positiv, auch für die Gegenwart, obwohl die Massenbasis der IKP längst verloren ging. Dabei ist sie nicht unkritisch: durch die Kominternpolitik Moskaus in den Zeiten des Kalten Krieges wurden arabisch-nationalistische Regierungen als antiimperialistisch eingeschätzt (Theorie des „nicht-kapitalistischen Weges“) und die kommunistischen Parteien in den Einzelländern zum Bündnis verpflichtet. So kam es in Syrien und im Irak zu dem Paradox, dass die KommunistInnen immer wieder versuchten, sich an der Regierung der Baath-Partei zu beteiligen, obwohl sie bereits in mehreren Wellen von eben dieser Partei unterdrückt worden waren, und zwar zum Teil in Massenverfolgungen – eine seltsame Form des politischen Masochismus. Im Irak z.B. unterstellte sich die IKP 1958 nach dem gegen die Monarchie gerichteten Putsch der nationalistischen „Freien Offiziere“ dem General Kassem und löste ihre eigenen Gewerkschaften auf (S. 116); allein in den ersten drei Tagen nach dem Baath-Putsch von 1963 wurden 5000 IKP-Mitglieder ermordet (S. 115); 1968 kam es zu einer erneuten Repressionswelle gegen die KP. Trotz dieser Erfahrungen trat die KP 1973 in das Regierungsbündnis „Patriotische Front“ ein, bis 1978/79 wiederum mehrere Tausend Mitglieder hingerichtet wurden oder für immer verschwanden (S. 118).
Die Autorin kritisiert an der IKP zudem, dass sie das Regierungsbündnis auch nicht während des Krieges gegen die KurdInnen 1974/75 verließ, und dass ihre bündnisorientierte, kompromisslerische Politik gegenüber islamistischen Parteien diese nur aufwertete. Trotz aller Kritik und aller Desillusionierung, die sie zuweilen sogar als „Desaster“ (S. 118) beschreibt, hält Brigitte Kiechle allerdings am Ende des Buches daran fest, dass „die Basis für einen grundlegenden Wechsel im Irak, der die Errungenschaften der antikolonialen und sozialen Bewegung bewahren und fortführen kann, nach wie vor ein Bündnis zwischen IKP und den kurdischen Organisationen PUK und KDP“ (S. 182) ist. Die Autorin greift die autoritären Strukturen solcher Parteipolitik letztlich nicht grundsätzlich an, sie kritisiert im Zweifel auf der Ebene von „Fehlern“. Dadurch bleibt der schrille Masochismus der irakischen KP – für Libertäre etwa keine Überraschung – im Buch seltsam unerklärlich.
Die Desillusionierung über die kurdischen Parteien
Wie sehen die Perspektiven bei den kurdischen Parteien im Nordirak aus? Dort dominieren seit 1991 die „Kurdische Demokratische Partei“ (KDP) und die „Patriotische Union Kurdistans“ (PUK). Sie hatten mit der Autonomieregelung der Golfkriegsmächte und den Flugverbotszonen über zwölf Jahre hinweg die einmalige Gelegenheit, die Autonomie als Gegenmodell zur irakischen Diktatur auszugestalten. Brigitte Kiechle zeigt anschaulich, wie diese Chance verspielt wurde.
Die 1946 erfolgte KDP-Gründung geht auf gescheiterte antikoloniale Aufstände unter Führung des kurdischen Barzani-Clans zurück. Die KDP arbeitete bis zum Kassem-Putsch 1958 mit der IKP zusammen, erhoffte sich dann aber von Kassem die versprochene Autonomie.
Dafür wurde der explizite Bezug auf den Marxismus-Leninismus im Programm gestrichen. Doch bei den irakischen Militärs setzte sich der antiföderale Nationalismus durch, 1961 wurden die Kurdengebiete bombardiert.
Ähnlich verliefen die Bündnisversuche mit der Baath-Partei: 1969 führte die irakische Armee Krieg gegen die KurdInnen, konnte aber nicht gewinnen. Die KDP unter General Barzani erzwang 1970 ein Abkommen zur Autonomie. Als die Baath-Partei schließlich Jahre später die Macht konsolidiert hatte, kündigte sie das Abkommen und unterdrückte den kurdischen Aufstand von 1974 brutal. Barzani hatte zudem vorher bereits Kontakt mit den USA aufgenommen und der CIA hatte den Aufstand unterstützt. Durch die Niederlage und den Rechtsrutsch Barzanis entstand schließlich 1975 die ursprünglich linke Abspaltung PUK unter Talabani. Links und Rechts haben jedoch im weiteren Verlauf nicht viel zu besagen: KDP und PUK standen bis heute in Konkurrenz zueinander, zuweilen noch herausgefordert durch die PKK. In der ersten Hälfte der 80er Jahre verbündete sich die PUK mit Saddam Hussein gegen die KDP.
Die absurden Frontenwechsel und der interne Krieg setzten sich besonders in den Autonomiegebieten seit 1991 fort: zwar wird anderen Parteien, wie etwa islamischen Parteien oder der IKP, der PKK usw. die politische Betätigung erlaubt, aber nur unter der Bedingung, den eigenen Herrschaftsanspruch zu respektieren. Seit Herbst 1993 bekämpften sich KDP und PUK wieder gegenseitig mit Waffen. Im August 1996 riefen diesmal Masud Barzani und die KDP die Truppen Saddam Husseins gegen die PUK zu Hilfe. Die PUK-Hochburgen Arbil und Sulaimanya wurden erobert, es kam zu einer Massenflucht und Hinrichtungen durch die irakische Armee. Bei deren kurzzeitigem Vorstoß in den Nordirak wurde auch ein von der CIA und dem von ihm gebildeten INC (Irakischer Nationalkongress) geplanter Putschversuch gegen Hussein zerschlagen (S. 102). Über 100 INC-Leute wurden hingerichtet, die CIA-Agenten konnten gerade noch ausgeflogen werden. Nur mühsam konnten die USA und die Türkei 1998 die verfeindeten KurdInnen-Parteien zu einem Waffenstillstand zwingen.
Frauenunterdrückung und Islamismus
In einem äußerst informativen Kapitel über die Lage der Frauen und die Frauenbewegungen im Irak beschreibt die Autorin ein Rollback, das spätestens in den 80er Jahren einsetzte. Bis dahin hatte die Baath-Partei die Frauenfrage für ihre Machtstrategie instrumentalisiert und der Irak im Vergleich mit anderen arabischen Ländern relativ viele Arbeitsplätze (27 %) oder Studienplätze (33 %) für Frauen. Frauen konnten sich auch westlich kleiden. Mit den Kriegen und der instrumentellen Aufwertung des Islam durch das Regime verschlechterte sich die Lage der Frauen drastisch. Nach dem 1. und 2. Golfkrieg gab es Anfang der 90er Jahre 900.000 Witwen im Irak, die von den islamischen Moralwächtern kritisch beäugt und bald denunziert wurden. Um sie in die Ehe zu drängen, wurde Männern, die eine Witwe eines Gefallenen heiraten, vom Staat eine Prämie versprochen. Die gesamte Pflegearbeit der Hunderttausende irakischer Kriegsversehrter ist Frauenarbeit (S. 131ff). Seit 1990 können Ehemänner ihre Frauen wegen Untreue straflos umbringen. 2001 verbannte Hussein die Frauen aus der Arbeitswelt und log das als Geschenk an die Familien um. Aufgrund dieser sexistischen Arbeitspolitik, sowie aufgrund der unglaublichen Armut als Folge des Embargos gab es unter den Frauen eine zunehmende Zahl an Selbsttötungen oder die Flucht in die Prostitution. Dagegen begann Hussein im Oktober 2000 eine Kampagne gegen Prostitution, während der Hunderte von Frauen, denen Prostitution vorgeworfen wurde, geköpft und ihren Familien die abgetrennten Köpfe vor die Tür gelegt wurden (S. 137).
Im KurdInnengebiet sieht es für die Frauen kaum besser aus.
Zwar wurden die beiden unabhängigen Organisationen „Irakische Frauenliga“ und „Unabhängiger Frauenverband“ im Gegensatz zum sonstigen Irak geduldet, aber die Gewalterfahrung ist auch dort hoch. KDP und PUK sind sehr patriarchal und clan-orientiert strukturiert und schritten nicht ein, als islamistische Gruppen die kurdischen Frauen mit Gewalt zur Verschleierung zwangen oder unverschleierte Frauen umbrachten, vor allem im von Islamisten stark beeinflussten Halabja, wo von Mullahs in Moscheen offen zur Fatwa (zum Mord) an Frauenrechtlerinnen aufgerufen wurde – eine Stadt, die somit nicht nur zum Symbol der KurdInnenunterdrückung, sondern auch der Frauenunterdrückung geworden ist. 1997 schuf die von der ebenfalls mit dem Tode bedrohten Nasiq Ahmad geleitete „Unabhängige Frauenorganisation“ in Suleymania ein Frauenhaus. Es überstand mehrere Anschläge durch Islamisten, aber es war die PUK, die das Haus am 13.7.2000 stürmte und zerstörte. Die Frauenrechtlerinnen verteidigten sich bewaffnet, fünfzig Schutz suchende Frauen waren bei der Erstürmung im Haus. Sie wurden von der PUK entführt und an die Familien zurück gegeben – einen Tag später wurden einige von ihnen ermordet auf der Straße gefunden (S. 147). Die extreme Frauenfeindlichkeit der islamistischen Organisationen im Irak ist der Grund, weshalb Brigitte Kiechle perspektivisch jegliches Bündnis mit Islamisten ablehnt. Aber eigentlich bleiben auch von PUK und KDP kaum noch emanzipatorische Spuren zurück.
Antimilitarismus, Frauenbefreiung, Gewaltlosigkeit
Das Buch liefert eine schonungslose und offene Darstellung der aktuellen Situation im Irak bis kurz vor dem jüngsten Krieg, wobei auch die Verurteilung sowohl der US-Kriegsstrategien, die ausführliche Darstellung und Verurteilung des Embargos wie auch des Hussein-Regimes nicht zu kurz kommt, oft mit unmissverständlichen Einschätzungen: „Solidarität mit der irakischen Bevölkerung und der demokratischen und linken Opposition im Irak schließt eine Zusammenarbeit mit den Vertretern der irakischen Diktatur aus.“ (S. 87)
Dennoch ist mir die trotz aller Kritik immer wieder durchscheinende Nähe der Autorin zur IKP etwas suspekt. Ich vermisse eine konsequente antimilitaristische Kritik, ebenso eine Kritik an den autoritären Grundmustern der Parteienpolitik. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass etwa die Repression gegen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure im Irak (vgl. GWR 274) im Buch nicht vorkommt, obwohl die Desertion in allen Kriegen eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat. Außerdem macht es sich die Autorin etwas zu einfach, wenn sie lediglich zur Nichtzusammenarbeit mit den islamistischen Parteien aufruft. Es stellt sich die Frage, ob es nicht auch minoritäre, randständige und nicht-fundamentalistische Strömungen innerhalb des Islam gibt, die den Zwang zur Verschleierung ablehnen und für die Gleichheit von Mann und Frau eintreten, wie etwa die Strömung um Mahmud Taha in den 80er Jahren im Sudan oder viele sufistische Strömungen im Islam. Hier wäre wohl noch vieles zu recherchieren. Brigitte Kiechle analysiert hier die MuslimInnen durchgängig als reaktionären Block, stellt unterschiedliche Strömungen gar nicht erst dar. Aber schon die SchiitInnen stellen mehr als die Hälfte der Bevölkerung – das kann nicht einfach ignoriert werden, oder nur um den Preis, dass tatsächlich den Fundamentalisten kampflos das Terrain überlassen wird.
Der Irak Husseins ist nicht, wie von der Autorin gewünscht, von einer authentischen Opposition befreit worden, sondern militärisch. Das wird Folgen haben. Die westlichen Besatzungsmächte werden sich um die Tradition der IKP nicht weiter kümmern, sondern ihrem Konstrukt des INC, sowie in domestizierter Form wohl auch der PUK und der KDP, Stück für Stück politische (Schein-)Macht übertragen, während sie die Bodenschätze ausbeuten. Ob das angesichts der autoritären Geschichte und Struktur dieser Parteien neue diktatorische Formen ausschließt, ist zu bezweifeln. Insbesondere aber brauchen die Menschen im Irak eine längere Phase nicht-bewaffneter Auseinandersetzungen, um vom Mythos bewaffneter Austragung von Konflikten Abschied zu nehmen. Die Inderin Arundhati Roy dazu:
„Das Wichtigste ist, eine Plattform für gewaltlosen zivilen Ungehorsam zu schaffen. (…) Ich komme aus einem Land, das einen gewaltlosen Kampf um seine Unabhängigkeit gewonnen hat. Das ist eine phänomenale Sache. Ich bin keine Idealistin, aber ich weiß, dass du dich auch selbst triffst, wann immer du auf jemanden schießt.“ (Spiegel 15/2003, S. 170)